1 Was wir verordnen, wirkt auch
Medizin ohne Evidenz und kritische Selbstkontrolle
Die Mehrzahl der Patienten ist davon überzeugt, dass die heutige Medizin auf einer soliden naturwissenschaftlichen Basis steht. Und die Ärzte blicken mit Verachtung auf die bis in das 19. Jahrhundert gängige Praxis, mit Aderlässen, Schröpfen, Abführen und Brechmitteln gegen jedes Leiden zu Werke zu gehen, um ein Ungleichgewicht der »Säfte« zu beseitigen. Die Hochnäsigkeit sollte allerdings schnell verfliegen, wenn man sich einige der gängigen Behandlungsmethoden ansieht. Reflexhafte Herabsetzungen von Blutgerinnung und Blutfetten, die Verabreichung entwässernder Medikamente und ärztliche Empfehlungen großer Trinkmengen erwecken den Anschein, die Säftelehre wäre noch nicht überwunden.
Die Prinzipien der Verdünnung, Ausschwemmung und »Entschlackung« erklären sich durch früher häufig zu Recht vermutete Vergiftungen als Krankheitsursache. Doch die generalisierte Anwendung derselben wenigen Maßnahmen bei allen möglichen Krankheitszuständen ist das Gegenteil einer naturwissenschaftlichen, auf Fakten und Belegen basierenden Medizin (evidenzbasierten Medizin). Blinde Autoritätsgläubigkeit zieht sich durch die Geschichte der Medizin, sodass unhinterfragte Vorgaben vermeintlicher Experten immer wieder vermeidbare Krankheiten und Todesfälle verursacht haben. So wurden zum Beispiel Infektionskrankheiten lange Zeit als natürliche, nicht beeinflussbare Erscheinungen verkannt, obwohl der Bevölkerung wirksame Therapien und Präventionsmaßnahmen bekannt waren. Über Jahrhunderte führte dies zu Millionen von Todesfällen und schweren Behinderungen.1 In Abwandlung einer Sentenz des Anatomen und Physiologen Friedrich Tiedemann (1781–1861) könnte man sagen, dass Ärzte ohne evidenzbasierte Medizin »Maulwürfen« gleich sind: »sie arbeiten im Dunkeln und ihrer Hände Tagewerk sind Erdhügel«.2
Ärztlicher Alltag ohne Evidenz
Ärztliche Behandlung ohne Nachweis (Evidenz) der Wirksamkeit ist allerdings auch heute noch eher die Regel als die Ausnahme. Hausärzte therapieren überwiegend nach Wahrscheinlichkeitsvermutung mit Blick auf die Symptome, ohne Beschwerdeursachen objektiv zu bestimmen. Schnell ist der Rezeptblock zur Hand, doch oft fehlt der Nutzen der verschriebenen Medikamente. Eine Studie enthüllte, dass über 90 % ihrer Patienten mindestens ein Arzneimittel unbegründet bekamen, für drei von neun eingenommenen Medikamenten keine Indikation vorlag und 37 % der über 65-Jährigen Tabletten schluckten, die für ältere Menschen ungeeignet sind.3 Kombinationspräparate mit stimulierenden Substanzen (Koffein, Ephedrin), sedierenden Antihistaminika, Hustenstillern und Schmerzmitteln (Kodein, Paracetamol) bei Atemwegsinfekten und Grippe, Antibiotika bei Bakteriennachweis im Urin, Kortisonpräparate gegen allergische Reaktionen, Antidiabetika bei erhöhtem Blutzucker, Opiate gegen chronische nicht tumorbedingte Schmerzen … – die Liste medizinisch unsinniger Verordnungen ist lang. Als amerikanische Ärzte in einer Studie durch ein Pop-up Fenster auf dem Monitor gezwungen wurden, eine Antibiotikagabe zu begründen, reduzierten sich die Verordnungen um 75–80 %.4 Unüberprüftes Festhalten an überkommenen Vorgehensweisen und Annahmen statt Ursachenergründung gehören also zum ärztlichen Alltag. Eminenzbasierte Konzepte, die sich daran orientieren, was Autoritäten sagen, aber nie in korrekten Studien bestätigt wurden, schädigen tagtäglich Patienten und verhindern evidenzbasierte Therapien.
Aber auch in fachärztlichen Praxen und Kliniken, in denen diagnostische Verfahren häufiger einer Therapie vorangehen, sieht es mit der Evidenz der Maßnahmen nicht viel besser aus: Magen- und Darmspiegelungen bei Durchfall und Erbrechen, Kortikosteroide bei akuten Krankheitszuständen, Chemotherapie zur Prophylaxe von Metastasen, Aufdehnung verengter Herzkranzarterien bei stabiler Angina pectoris, Knorpelglättungen bei Gelenkverschleiß, Ziehen aller Zähne bei unklaren Entzündungsprozessen … Nichts davon ist im Sinne des Patientenwohls evidenzbasiert, vieles sogar durch Studien widerlegt. Durchgeführt werden solche Maßnahmen jedoch immer wieder und überall. Man kann davon ausgehen, dass nicht weniger als 900 000 der jährlich über eine Milliarde Behandlungen in Deutschland5 ohne Evidenz der Wirksamkeit sind, mehr schaden als nützen oder es schlichtweg bessere Alternativen gibt.6 Spontanheilungen während abwegigen Therapien liefern die lebenslange Illusion erfolgreicher Behandlungen.7
Ein Fallbeispiel, welches das Magazin Stern im Februar 2016 als außergewöhnliche Diagnose- und Therapiegeschichte veröffentlichte, offenbart das Spektrum der hilf- und sinnlosen Behandlungsversuche einer vermeintlich wissenschaftlich fundierten Medizin.8 Als Ursache für eine Schluckstörung wurde eine Entzündung der Speiseröhre präsentiert, die nicht durch einen Rückfluss von saurem Mageninhalt bedingt war. Tatsächlich geklärt wurde die Ursache allerdings nicht, die sogenannte Diagnose ist nicht mehr als eine pure Beschreibung der Symptome. Dennoch wurden dem Patienten gleich drei Medikamente verordnet: ein Säurehemmer, obwohl die Magensäure nach Überzeugung des Behandlers die Entzündung nicht verursachte, ein prophylaktisches Antibiotikum sowie ein Kortisonpräparat zur unbewiesenen Verhinderung von Narbenbildungen. Und weil einige Wochen später die Entzündung abgeklungen und der Einriss in der Speiseröhre verheilt war, musste die ärztliche Bankrotterklärung geholfen haben.
Vor der Therapie ohne Evidenz stehen oft Diagnoseverfahren ohne Evidenz
Sensitive, aber völlig unspezifische Diagnoseverfahren sind zum Handwerkszeug der heutigen Medizin geworden. Ihr Ziel ist es, möglichst wenige Befunde zu liefern, bei denen Patienten fälschlicherweise als gesund eingestuft werden (falsch negative Befunde). Der Preis, den wir dafür bezahlen, sind allerdings zahlreiche Befunde, bei denen Patienten für krank erklärt werden, ohne dies wirklich zu sein (falsch positive Befunde). So liefert etwa der PSA-Test, die Bestimmung des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) zur Früherkennung von Prostatakrebs, pro richtig positivem Befund drei falsch positive Befunde.9 Bei der Ganzkörperplethysmografie zur Diagnostik des Asthma bronchiale werden mindestens 30 % Gesunde als krank identifiziert.10 Schrotschussdiagnostik mit zahlreichen falsch positiven Befunden hat Vorrang vor treffsicheren Diagnosen.
In der Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten der Grundsatz etabliert, dass es einfacher sei, die richtige Diagnose zu stellen, wenn man eine Möglichkeit nach der anderen ausschließt, als gezielt nach einer Krankheitsursache zu forschen. Konkret heißt dies allerdings allzu häufig, dass Mediziner das gesamte Heu abfackeln, um dann nicht einmal die sprichwörtliche Stecknadel zu finden. Nach einer tage- oder gar wochenlangen Odyssee ist anstelle einer zutreffenden Diagnose oft nur eines klar: was ein Kranker ohnehin nicht hat.
Das Prinzip dieser »Rasterfahndung« begegnet uns auch bei den in ihrer Bedeutung heute überschätzten Bildern aus dem Körperinneren, wenn statt intelligenter Suchstrategien historisch gewachsene Vorgehensweisen angesagt sind. Die tägliche Praxis zeigt, dass keine 10 von 100 Bildern behandlungsrelevante Befunde zutage fördern. Dabei hätten mit der Einführung immer neuer bildgebender Verfahren in den letzten 40 Jahren stetig evidenzbasierte Abläufe für eine effektive Diagnose etabliert und verbessert werden müssen. Eine Umsetzung scheiterte nicht nur am Fehlen gezielter Fragestellungen in einer Denkwelt der Ausschlussdiagnostik, sondern auch an mangelndem Willen, auf dem schnellstmöglichen Weg ans Ziel zu gelangen. Denn nicht das Verfahren mit dem größten Aussagepotenzial für den zur Abklärung stehenden Krankheitskomplex steht am Anfang, sondern die Technik, die die behandelnde Facharztgruppe unabhängig vom Aussagewert selbst anwenden kann oder die am leichtesten verfügbar ist. In dieser »bildgebenden Stufendiagnostik« erfolgt bei Rückenschmerzen mit Ausstrahlung ins Bein zuerst eine für die Frage nach einer Nervenkompression aussagelose Röntgenuntersuchung, aber keine zielführende Magnetresonanztomografie (MRT). Bei akuten Bauchschmerzen stehen Ultraschall und Röntgen am Anfang, obwohl damit weder eine Darmperforation noch Blut in der Bauchflüssigkeit oder entzündliche Veränderungen am Darm ausreichend zuverlässig erkannt werden können.
Die Kostenargumente gegen den primären Einsatz von MRT oder Computertomografie (CT) sind dabei genauso wenig evidenzbasiert wie das ganze Vorgehen: CT und MRT wären in allen...