I. [Die ökonomische Lage und der soziale Schichtenbau Deutschlands]
Gehen wir zunächst kurz zurück auf die Verhältnisse Deutschlands zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts.
Die deutsche Industrie hatte im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert einen bedeutenden Aufschwung genommen. An die Stelle der feudalen, ländlichen Lokalindustrie war der zünftige Gewerbebetrieb der Städte getreten, der für weitere Kreise und selbst für entlegnere Märkte produzierte. Die Weberei von groben Wollentüchern und Leinwand war jetzt ein stehender, weitverbreiteter Industriezweig; selbst feinere Wollen-und Leinengewebe sowie Seidenstoffe wurden schon in Augsburg verfertigt. Neben der Weberei hatte sich besonders jene an die Kunst anstreifende Industrie gehoben, die in dem geistlichen und weltlichen Luxus des späteren Mittelalters ihre Nahrung fand: die der Gold-und Silberarbeiter, der Bildhauer und Bildschnitzer, Kupferstecher und Holzschneider, Waffenschmiede, Medaillierer, Drechsler etc. etc. Eine Reihe von mehr oder minder bedeutenden Erfindungen, deren historische Glanzpunkte die des Schießpulvers1 und der Buchdruckerei bildeten, hatte zur Hebung der Gewerbe wesentlich beigetragen. Der Handel ging mit der Industrie gleichen Schritt. Die Hanse hatte durch ihr hundertjähriges Seemonopol die Erhebung von ganz Norddeutschland aus der mittelalterlichen Barbarei sichergestellt; und wenn sie auch schon seit Ende des fünfzehnten Jahrhunderts der Konkurrenz der Engländer und Holländer rasch zu erliegen anfing, so ging doch trotz Vasco da Gamas Entdeckungen der große Handelsweg von Indien nach dem Norden immer noch durch Deutschland, so war Augsburg noch immer der große Stapelplatz für italienische Seidenzeuge, indische Gewürze und alle Produkte der Levante. Die oberdeutschen Städte, namentlich Augsburg und Nürnberg, waren die Mittelpunkte eines für jene Zeit ansehnlichen Reichtums und Luxus. Die Gewinnung der Rohprodukte hatte sich ebenfalls bedeutend gehoben. Die deutschen Bergleute waren im fünfzehnten Jahrhundert die geschicktesten der Welt, und auch den Ackerbau hatte das Aufblühen der Städte aus der ersten mittelalterlicher Roheit herausgerissen. Nicht nur waren ausgedehnte Strecken urbar gemacht worden, man baute auch Farbekräuter und andere eingeführte Pflanzen, deren sorgfältigere Kultur auf den Ackerbau im allgemeinen günstig einwirkte.
Der Aufschwung der nationalen Produktion Deutschlands hatte indes noch immer nicht Schritt gehalten mit dem Aufschwung anderer Länder. Der Ackerbau stand weit hinter dem englischen und niederländischen die Industrie hinter der italienischen, flämischen und englischen zurück, und im Seehandel fingen die Engländer und besonders die Holländer schon an, die Deutschen aus dem Felde zu schlagen. Die Bevölkerung war immer noch sehr dünn gesäet. Die Zivilisation in Deutschland existierte nur sporadisch, um einzelne Zentren der Industrie und des Handels gruppiert; die Interessen dieser einzelnen Zentren selbst gingen weit auseinander, hatten kaum hie und da einen Berührungspunkt. Der Süden hatte ganz andere Handelsverbindungen und Absatzmärkte als der Norden; der Osten und der Westen standen fast außer allem Verkehr. Keine einzige Stadt kam in den Fall, der industrielle und kommerzielle Schwerpunkt des ganzen Landes zu werden, wie London dies z.B. für England schon war. Der ganze innere Verkehr beschränkte sich fast ausschließlich auf die Küsten-und Flußschiffahrt und auf die paar großen Handelsstraßen, von Augsburg und Nürnberg über Köln nach den Niederlanden und über Erfurt nach dem Norden. Weiter ab von den Flüssen und Handelsstraßen lag eine Anzahl kleinerer Städte, die, vom großen Verkehr ausgeschlossen, ungestört in den Lebensbedingungen des späteren Mittelalters fortvegetierten, wenig auswärtige Waren brauchten, wenig Ausfuhrprodukte lieferten. Von der Landbevölkerung kam nur der Adel in Berührung mit ausgedehnteren Kreisen und neuen Bedürfnissen; die Masse der Bauern kam nie über die nächsten Lokalbeziehungen und den damit verbundenen lokalen Horizont hinaus.
Während in England und Frankreich das Emporkommen des Handels und der Industrie die Verkettung der Interessen über das ganze Land und damit die politische Zentralisation zur Folge hatte, brachte Deutschland es nur zur Gruppierung der Interessen nach Provinzen, um bloß lokale Zentren, und damit zur politischen Zersplitterung; einer Zersplitterung, die bald darauf durch den Ausschluß Deutschlands vom Welthandel sich erst recht festsetzte. In demselben Maß, wie das reinfeudale Reich zerfiel, löste sich der Reichsverband überhaupt auf, verwandelten sich die großen Reichslehenträger in beinahe unabhängige Fürsten, schlossen einerseits die Reichsstädte, andererseits die Reichsritter Bündnisse, bald gegeneinander, bald gegen die Fürsten oder den Kaiser. Die Reichsgewalt, selbst an ihrer Stellung irre geworden, schwankte unsicher zwischen den verschiedenen Elementen, die das Reich ausmachten, und verlor dabei immer mehr an Autorität; ihr Versuch, in der Art Ludwigs XI. zu zentralisieren, kam trotz aller Intrigen und Gewalttätigkeiten nicht über die Zusammenhaltung der östreichischen Erblande hinaus. Wer in dieser Verwirrung, in diesen zahllosen sich durchkreuzenden Konflikten schließlich gewann und gewinnen mußte, das waren die Vertreter der Zentralisation innerhalb der Zersplitterung, der lokalen und provinziellen Zentralisation, die Fürsten, neben denen der Kaiser selbst immer mehr ein Fürst wie die andern wurde.
Unter diesen Verhältnissen hatte sich die Stellung der aus dem Mittelalter überlieferten Klassen wesentlich verändert, und neue Klassen hatten sich neben den alten gebildet.
Aus dem hohen Adel waren die Fürsten hervorgegangen. Sie waren schon fast ganz unabhängig vom Kaiser und im Besitz der meisten Hoheitsrechte. Sie machten Krieg und Frieden auf eigne Faust, hielten stehende Heere, riefen Landtage zusammen und schrieben Steuern aus. Einen großen Teil des niederen Adels und der Städte hatten sie bereits unter ihre Botmäßigkeit gebracht; sie wandten fortwährend jedes Mittel an, um die noch übrigen reichsunmittelbaren Städte und Baronien ihrem Gebiet einzuverleiben. Diesen gegenüber zentralisierten sie, wie sie gegenüber der Reichsgewalt dezentralisierend auftraten. Nach innen war ihre Regierung schon sehr willkürlich. Sie riefen die Stände meist nur zusammen, wenn sie sich nicht anders helfen konnten. Sie schrieben Steuern aus und nahmen Geld auf, wenn es ihnen gutdünkte; das Steuerbewilligungsrecht der Stände wurde selten anerkannt und kam noch seltener zur Ausübung. Und selbst dann hatte der Fürst gewöhnlich die Majorität durch die beiden steuerfreien und am Genuß der Steuern teilnehmenden Stände, die Ritterschaft und die Prälaten. Das Geldbedürfnis der Fürsten wuchs mit dem Luxus und der Ausdehnung des Hofhaltes, mit den stehenden Heeren, mit den wachsenden Kosten der Regierung. Die Steuern wurden immer drückender. Die Städte waren meist dagegen geschützt durch ihre Privilegien; die ganze Wucht der Steuerlast fiel auf die Bauern, sowohl auf die Dominialbauern der Fürsten selbst wie auch auf die Leibeigenen, Hörigen und Zinsbauern der lehnspflichtigen Ritter. Wo die direkte Besteurung nicht ausreichte, trat die indirekte ein; die raffiniertesten Manöver der Finanzkunst wurden angewandt, um den löchrigen Fiskus zu füllen. Wenn alles nicht half, wenn nichts mehr zu versetzen war und keine freie Reichsstadt mehr Kredit geben wollte, so schritt man zu Münzoperationen der schmutzigsten Art, schlug schlechtes Geld, machte hohe oder niedrige Zwangskurse, je nachdem es dem Fiskus konvenierte. Der Handel mit städtischen und sonstigen Privilegien, die man nachher gewaltsam wieder zurücknahm, um sie abermals für teures Geld zu verkaufen, die Ausbeutung jedes Oppositionsversuchs zu Brandschatzungen und Plünderungen aller Art etc. etc. waren ebenfalls einträgliche und alltägliche Geldquellen für die Fürsten jener Zeit. Auch die Justiz war ein stehender und nicht unbedeutender Handelsartikel für die Fürsten. Kurz, die damaligen Untertanen, die außerdem noch der Privathabgier der fürstlichen Vögte und Amtleute zu genügen hatten, bekamen alle Segnungen des »väterlichen« Regierungssystems im vollsten Maße zu kosten.
Aus der feudalen Hierarchie des Mittelalters war der mittlere Adel fast ganz verschwunden; er hatte sich entweder zur Unabhängigkeit kleiner Fürsten emporgeschwungen oder war in die Reihen des niederen Adels herabgesunken. Der niedere Adel, die Ritterschaft, ging ihrem Verfall rasch entgegen. Ein großer Teil war schon gänzlich verarmt und lebte bloß von Fürstendienst in militärischen oder bürgerlichen Ämtern; ein andrer stand in der Lehnspflicht und Botmäßigkeit der Fürsten; der kleinere war reichsunmittelbar. Die Entwicklung des Kriegswesens, die steigende Bedeutung der Infanterie, die Ausbildung der Feuerwaffe beseitigte die Wichtigkeit ihrer militärischen Leistungen als schwere Kavallerie und vernichtete zugleich die Uneinnehmbarkeit ihrer Burgen. Gerade wie die Nürnberger Handwerker wurden die Ritter durch den Fortschritt der Industrie überflüssig gemacht. Das Geldbedürfnis der Ritterschaft trug zu ihrem Ruin bedeutend bei. Der Luxus auf den Schlössern, der Wetteifer in der Pracht bei den Turnieren und Festen, der Preis der Waffen und Pferde stieg mit den Fortschritten der gesellschaftlichen Entwicklung, während die Einkommenquellen der Ritter und Barone wenig oder gar nicht zunahmen. Fehden mit obligater Plünderung und Brandschatzung, Wegelagern und ähnliche noble Beschäftigungen wurden mit der Zeit zu gefährlich. Die Abgaben und...