Im Säuseln der Schilfhalme, im leisen Rauschen der Bäume, im Murmeln der Bäche konnte man nur folgende Worte erkennen, die bald noch so entfernte Echos wiederholen sollten: Gold! Gold! Gold!
In der Nacht zum 3. Dezember 1989, Berlin, Grenzübergang Invalidenstraße
Der Oberst der Staatssicherheit, Alexander Schalck-Golodkowski, sitzt mit seiner Frau Sigrid im Fond einer russischen Limousine. Es ist eine eiskalte Nacht. Vor dem Grenzübergang Invalidenstraße hat sich ein Stau gebildet.1 Die Mauer ist zwar seit gut drei Wochen faktisch offen, aber noch wird jede Ausreise von den DDR-Grenzbeamten kontrolliert.
Schalck ist eine Schlüsselfigur des Systems, ein Oberst der Staatssicherheit. Er kann im Gegensatz zu gewöhnlichen DDR-Bürgern auch vor dem Mauerfall in den Westen reisen, wann immer er will. Erst am Vormittag ist er zu Verhandlungen mit dem westdeutschen Innenminister Wolfgang Schäuble nach Bonn geflogen. Doch in dieser Nacht wartet er wie alle anderen DDR-Bürger im Stau an der Invalidenstraße auf seine Abfertigung. Seine Freunde im Zentralkomitee der SED, so fürchtet er, haben sich von ihm abgewandt.2 Er will kein Aufsehen erregen, wenn er seine Heimat, die DDR, in dieser Nacht für immer verlässt. Er kennt viele Geheimnisse. Die Nachricht von seiner Flucht würde das kommunistische Regime weiter destabilisieren.
Schalck hat seiner Partei über dreißig Jahre lang Geld beschafft, das sie dringend braucht, um sich an der Macht zu halten. Denn während die DDR der Welt auf den Massenveranstaltungen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und der SED Ordnung, Organisation und Berechenbarkeit vorgaukelt, regiert hinter den Kulissen das Chaos. Immer fehlt irgendetwas: Eisenerz, Autoreifen, Schrauben. Die Staatsführung muss ständig Löcher stopfen und improvisieren. Dabei wollte die sowjetische Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg erreichen, dass die Staaten im kommunistischen Block sich untereinander selbst versorgen: Die Sowjetunion liefert die Energie, im Gegenzug produziert die DDR etwa Bahnwaggons und Schiffe; ein Tauschhandel, der ohne Geld funktioniert, so die Idee. Nur benötigt man für den Bau von Schiffen viel Stahl, und davon gibt es in der DDR nicht genug. Also muss das kleine Land Stahl auf dem Weltmarkt kaufen. Dort wird in US-Dollar abgerechnet. Westgeld hat die DDR aber noch weniger als Rohstoffe.
Dieses Geld besorgt eine Sonderabteilung, die Schalck 1967 gründet: die Kommerzielle Koordinierung (KoKo). Die KoKo verkauft im Westen alles, was Schalck an DDR-Waren bekommen kann: Antiquitäten, Mastschweine, Billigmöbel. Oft veräußert die Abteilung die Güter unter dem Herstellungspreis, also mit Verlust, nur um an Westdevisen zu kommen. Es ist fast so, als hätte der Schwarzmarkt nach dem Zweiten Weltkrieg nie geschlossen – nur sind jetzt nicht Zigaretten, Schnaps und Konserven um jeden Preis in Ost-Berlin gefragt, sondern D-Mark und US-Dollar.
Schalck ist zwölf Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende geht. Als Teenager lernt er den Mangel kennen, und er begreift, dass man improvisieren muss, um an lebenswichtige Waren heranzukommen.
Schalcks Vater, einen staatenlosen Immigranten aus Russland, verschlägt es nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin. Er kämpft für die Wehrmacht, kehrt aus dem Krieg zurück nach Berlin. Dort muss er sich auf der sowjetischen Kommandantur melden – und taucht nie wieder auf.
Alexander Schalck wächst als Halbwaise im Ost-Berliner Treptow auf. Er passt sich den neuen Zeiten an, macht eine Lehre in den Elektro-Apparate-Werken Teltow, die von den Sowjets enteignet und übernommen worden sind. Als Mitglied der Freien Deutschen Jugend verteilt er Flugblätter der SED in West-Berlin. Seine Karriere in der Partei beginnt. Im Juni 1953 verteidigt er mit den Panzern der Sowjetarmee das Haus der Ministerien gegen protestierende Arbeiter.
Er studiert Außenwirtschaftshandel, promoviert und tritt eine Stelle im Ministerium für Außenhandel und innerdeutschen Handel an. Hier findet Alexander Schalck seine große Aufgabe: die Devisenbeschaffung.
Er steigt zum Staatssekretär auf, ist aber tatsächlich mächtiger als die meisten Minister der DDR.
Schalck organisiert nicht nur Westgeld für die DDR, sondern auch Westtechnologie, die er wiederum aus den Devisenerlösen bezahlt. Denn das kleine Land braucht nicht nur Rohstoffe, sondern auch moderne Maschinen, später Computer und Speicherchips. Dabei sollen die strengen NATO-Embargogesetze gerade verhindern, dass Hightech-Güter in die DDR gelangen. Die westlichen Staaten wollen – zumindest ist das ihre offizielle Position – den Export von technologisch fortschrittlichen Entwicklungen jeder Art in die DDR unterbinden, da sie fürchten, dass die moderne Technologie im Waffenbau Verwendung finden könnte. Schalck umgeht das Embargo mit Hilfe westdeutscher Firmen.
Der Handel zwischen den deutschen Staaten ist seit dem Mauerbau so zwar komplizierter, aber für viele westdeutsche Unternehmen auch lukrativer geworden. Darauf setzt Schalck.
Weder die ostdeutsche noch die westdeutsche Öffentlichkeit soll erfahren, welche Rolle der Staatssekretär wirklich spielt: Zum einen hilft er Firmen in der Bundesrepublik, westdeutsche Gesetze zu brechen, zum anderen belegt die Existenz seiner Abteilung KoKo, dass das System der DDR sich nicht selbst tragen kann. Also muss Schalck ein Phantom und seine Arbeit ein Geheimnis bleiben. Bis zum Herbst 1989.
Ende Oktober, nach dem Sturz Erich Honeckers, tritt Schalck erstmals öffentlich auf. Er ist Gast in einer Talkshow des DDR-Fernsehens zum Thema »Leistungsgesellschaft DDR«. Er erweckt den Anschein, als wolle er sich für ein höheres Amt im Staat positionieren und die Tatsache nutzen, dass sein Gesicht nicht mit den Machenschaften der SED verbunden wird. Was er wirklich für die DDR getan hat, verrät er nicht. Kurz darauf, am 4. November 1989, ist er wie knapp eine Million DDR-Bürger auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz. Die Menschen demonstrieren gegen die SED und für freie Wahlen, Presse- und Reisefreiheit. Schalck wird von einem ostdeutschen Fernsehteam entdeckt und befragt. Der »geheimnisvolle Staatssekretär«, wie er vorgestellt wird, hält sich weiterhin bedeckt.
Auch Detlef Scheunert, persönlicher Referent des Ministers für Schwermaschinenbau, ist auf dem Alexanderplatz. Obwohl er für den Staatsapparat der DDR arbeitet, kennt er nur Gerüchte über die KoKo. Scheunert steht vor einer glänzenden Karriere und ist trotzdem mit einem Kollegen aus dem Ministerium zu der Demonstration gekommen. Ein Umbruch steht bevor, das spürt er. Scheunert, 29 Jahre alt, ist ein groß gewachsener Mann mit dunklen Haaren, Brille und Schnauzbart. Er hat ein gewinnendes Lächeln, und das braucht er auch, um seine Freunde zu versöhnen, wenn er mal wieder laut und deutlich seine Meinung vertreten hat. In vielen Gesprächen, die er mit Bekannten in seinem Stadtteil Friedrichshain führt, spürt Scheunert, dass die Menschen von dem Regime der SED endgültig genug haben und sich eine neue, andere DDR wünschen. Durch seine Arbeit im Ministerium kennt er die Lage der DDR-Wirtschaft und weiß, dass sich etwas ändern muss.
Für Scheunert war es ein weiter Weg bis ins Ministerium. Er stammt aus einem kleinen Ort in Sachsen, im Dreieck Leipzig – Dresden – Karl-Marx-Stadt gelegen,3 »hinter den sieben Bergen«, wie er sagt. Seine Kindheit verlebt er auf einem Bauernhof. Nachdem die Sowjetarmee 1945 Hunderte sächsische Junker hingerichtet hatte, standen viele Höfe leer, Land lag brach. Sein Vater pachtet nach dem Krieg zu seinem eigenen Hof mehrere Äcker und Höfe hinzu. So wächst Detlef Scheunert auf dem Hof einer Junkerfamilie auf. Der Besitzer ist von den Russen ermordet worden, die Witwe kann den Hof allein nicht führen. Unter der Bedingung, dass sie in dem Gutshaus bleiben darf, kann Scheunerts Vater den Hof pachten.
Scheunert senior, ein massiger Mann, Weltkriegsveteran, streng, unerbittlich, ehrgeizig, überlässt die Erziehung der drei Söhne seiner Frau. Doch tatsächlich prägt vor allem die Witwe den jungen Scheunert. Sie darf als Pensionärin ungehindert reisen, auch nach dem Bau der Mauer. Oft fährt sie nach Hamburg und bringt dem Jungen Bücher und Zeitschriften aus dem Westen mit. Obwohl er »hinter den sieben Bergen« lebt, ist er besser informiert als manche DDR-Bürger in den Großstädten. Die Witwe vermittelt ihm die Lebens- und Gedankenwelt einer Unternehmer- und Großgrundbesitzerfamilie. Sie erzählt ihm von Freiheit, Privateigentum, Verantwortung. Sie sitzen in seinem Kinderzimmer, 75 Quadratmeter groß, hohe Decken, stuckverziert, Holzdielen, während um sie herum das Haus verfällt und der bröckelnde Putz unter Efeu versteckt werden muss. An das Gutshaus grenzt ein Schweinestall, ein Misthaufen mitten im Hof verpestet die Luft.
Weltläufigkeit vermitteln ihm auch die politischen Dissidenten aus der Stadt. Die schickt die Partei zur Strafe regelmäßig aufs Land, damit sie auf den Äckern Sachsens ihre politische Einstellung überdenken. Der junge Detlef lernt so renitente vietnamesische Studenten, Literaten und Professoren aus Ost-Berlin kennen, die mit vielen Büchern im Gepäck auf dem Hof aufkreuzen.
Die Mauer kennt er nur vom Hörensagen, er fühlt, erlebt und sieht sie nicht. Ihm setzt der Hof Grenzen; der ist weit entfernt vom nächsten Ort Döbeln. Wenn die Besucher weg sind, macht Detlef die Einsamkeit zu schaffen. Sein Bruder ist zehn Jahre älter und selten zu Hause, der mittlere Bruder ist als kleines Kind in einem Teich auf dem Hof ertrunken. Auf Detlef wird nun...