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Der Erste Weltkrieg

Die Geschichte einer Katastrophe - Ein SPIEGEL-Buch -

VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641129422
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Wie der »Große Krieg« die Welt veränderte
Angeblich mit Tränen in den Augen unterschrieb Kaiser Wilhelm II. am Nachmittag des 1. August 1914 die deutsche Mobilmachung. Was damals begann, war der erste totale Krieg der Moderne: Gekämpft wurde im Atlantik und Pazifik, in Europa, Asien und in Afrika, 38 Staaten zogen gegeneinander in die Schlacht und nutzten dabei eine industrialisierte Kriegsführung, die mit neuen Waffen die Todesrate und das Leid dramatisch erhöhte. Maschinengewehr, Panzer, Giftgas, U-Boote und Luftwaffe forderten letztlich mehr als 15 Millionen Tote, unzählige Verstümmelte, zerbombte Städte, verwüstete Regionen; Hunger und Elend grassierten.
Als der Erste Weltkrieg im November 1918 endete, waren alte Ordnungen zerstört, stabile neue vielerorts kaum in Sicht. Weitere Krisen und Umwälzungen folgten, die nicht zuletzt den Weg in das »Dritte Reich« und den Zweiten Weltkrieg bereiten sollten.
Im vorliegenden Buch bieten SPIEGEL-Autoren und renommierte Historiker eine kompakte Einführung in das Thema und zeigen eindrucksvoll, warum uns diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts noch immer umtreiben muss.

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Leseprobe

»Es gab keinen Alleinschuldigen«

Der Militärhistoriker Sönke Neitzel über die Totalität des Weltkriegs und das Versagen der politischen Eliten.

Das Gespräch führten Annette Großbongardt
und Uwe Klußmann.

SPIEGEL: Mit Tränen in den Augen unterschrieb Kaiser Wilhelm II. am Nachmittag des 1. August 1914 die deutsche Mobilmachung – wollte er den Krieg eigentlich gar nicht?

Neitzel: Wilhelm II. war in der Reichsleitung derjenige, der den Krieg am wenigsten anstrebte. Er wurde zu Recht oft für seine martialischen Auftritte gescholten. Aber im Sommer 1914 war er nicht Herr des Verfahrens. Das Krisenmanagement lag in den Händen des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg. Im Spiel der Kräfte war der Kaiser eher Zuschauer.

SPIEGEL: Warum aber drängte das Deutsche Reich seinen Verbündeten Österreich im Konflikt mit Serbien zum Angriff? Und erklärte dann auch noch dem mit Serbien verbündeten Russland den Krieg?

Neitzel: Das basierte auf einem Kalkül Bethmann Hollwegs. Der Reichskanzler sah eine wachsende Macht der potentiellen Gegner Deutschlands, vor allem Russlands. Für ihn war Deutschland von Feinden umringt und lief Gefahr, bald keinen Krieg mehr gewinnen zu können. Den Ausweg sah er in einer Risikopolitik: Wenn wir jetzt Druck ausüben und die Österreicher einen lokalen Krieg gegen Serbien führen, werden die Russen sich möglicherweise heraushalten. Und wenn es doch Krieg geben sollte, dann lieber jetzt als später, in einer für Deutschland ungünstigeren Situation. Damit kalkulierte er einen Krieg voll ein; ein Waffengang galt damals ja gemeinhin noch als Mittel der Politik.

SPIEGEL: Trug Deutschland aber damit die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg, wie es die Sieger auf der Friedenskonferenz von Versailles 1919 postulierten?

Neitzel: Die Forschung hat gezeigt, dass es einen Alleinschuldigen an diesem Krieg nicht gab. Mein australischer Kollege Christopher Clark hat mit seinem neuen Buch »Die Schlafwandler«, das ich sehr überzeugend finde, detailliert nachgewiesen, dass es im Sommer 1914 eine gesamteuropäische Krise gab. Jeder hatte die Chance, die Eskalation zu verhindern – und niemand nahm sie wahr.

SPIEGEL: Die Deutschen waren schließlich nicht die einzigen Imperialisten, sagt Clark.

Neitzel: Sie waren voll mitverantwortlich, aber auch die Österreicher hätten sich entscheiden können, den Krieg gegen die Serben nicht zu führen. Die Russen und die Franzosen hätten wegen Serbien nicht in den Krieg ziehen müssen. Aber es existierte kein Konsens zur Krisenlösung mehr wie noch in den Jahrzehnten zuvor.

SPIEGEL: Wäre die Krise im Juli 1914 denn diplomatisch lösbar gewesen?

Neitzel: Da alle Großmächte den Krieg als ein Mittel der Politik ansahen, war keine der fünf Mächte in Europa bemüht, den Frieden zu sichern. Erschwerend kam hinzu, dass große Teile der jüngeren Generation in ihren imperialistischen Ambitionen immer radikaler wurden. Ich habe Dokumente jüngerer Diplomaten des Auswärtigen Amtes gefunden, die 1913 der Auffassung waren: Wir sind am Ende mit der Diplomatie, wir müssen wie Friedrich der Große Krieg führen. Viele sahen den Krieg als ein reinigendes Gewitter an – nicht nur in Deutschland.

SPIEGEL: In seinem damals bahnbrechenden Werk »Griff nach der Weltmacht« hatte der deutsche Historiker Fritz Fischer vor rund 50 Jahren argumentiert, die Führung in Berlin habe einen Krieg gezielt angesteuert.

Neitzel: Diese These ist längst widerlegt. Aber Fischer hat mit bis dahin unbekannten Dokumenten eine wichtige Debatte angestoßen, wofür man ihm dankbar sein sollte. Die Deutschen hatten den Weltkrieg nicht geplant, sie gingen sogar ziemlich unvorbereitet in den Krieg. Sie hatten natürlich nationale Interessen, wie die anderen ja auch.

SPIEGEL: Was waren eigentlich die deutschen Kriegsziele?

Neitzel: Anfang August 1914 gab es noch gar keine. Erst als es richtig losgegangen war, begannen vor allem rechte Kreise von Annexionen zu faseln. Auch die Franzosen hatten zunächst keine klar umrissenen Absichten. Bald wurde Elsass-Lothringen zurückgefordert, das Deutschland 1871 annektiert hatte. Schließlich kamen auch Überlegungen auf, das Deutsche Reich aufzulösen.

SÖNKE NEITZEL

Der 1968 geborene Historiker ist Professor für internationale Geschichte an der London School of Economics mit dem Schwerpunkt Militärgeschichte und Autor des Standardwerks »Blut und Eisen. Deutschland und der Erste Weltkrieg« (2003). Ein großes Echo erlangte sein 2005 erschienenes Buch »Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942–1945«.

SPIEGEL: Spielten nicht auch wirtschaftliche und geostrategische Interessen eine Rolle? Das kapitalschwache Russland war abhängig von französischen Krediten; die Impulse für die russische Politik gingen so eher von Paris und London als vom Zarenhof aus.

Neitzel: Der Bau strategischer russischer Eisenbahnlinien wurde mit französischem Geld finanziert. Schon 1905 hat Frankreich durch seine Anleihen das Zarentum vor dem Kollaps bewahrt. In der Julikrise drängte Paris auch durch seinen Botschafter in Richtung Krieg.

SPIEGEL: Der deutsche Kaiser und der russische Zar waren Cousins, warum verständigten sich die beiden nicht persönlich?

Neitzel: Die Monarchen spielten schon keine maßgebliche Rolle mehr, wichtiger waren die Regierungschefs und Außenminister. Natürlich hätte Wilhelm II. sagen können, das mach ich nicht mit. Die damalige Sicherheitsarchitektur kalkulierte seltsamerweise nicht mit ein, was das eigene Handeln bei anderen Staaten auslöste und ob es nicht besser wäre, ein Signal der Entspannung zu senden. Man dachte bloß: Wir machen uns so stark wie möglich, und dadurch bewahren wir schon den Frieden.

Kaiser Wilhelm II. besichtigt einen erbeuteten britischen Minenwerfer bei Cambrai, 1917

© Scherl, Süddeutscher Verlag

SPIEGEL: Aus französischer Sicht war es ja nicht unlogisch, über den Hebel der Russen zu verhindern, dass die deutsche Armee wieder wie 1870 auf Paris vorrückte. Aber ging das tatsächlich nur, indem man Deutschland in einem Zweifrontenkrieg schwächte?

Neitzel: Die französische Wahrnehmung war natürlich, wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass die Deutschen wiederkommen, und allein können wir das nicht. Die Deutschen wiederum dachten, die Franzosen sind so aggressiv, dass sie uns auf jeden Fall angreifen werden.

SPIEGEL: Und wie tickte London?

Neitzel: Ähnlich verhängnisvoll: Mit den Liberalen waren dort Imperialisten und Sozialdarwinisten an die Macht gekommen, die einerseits Deutschland bewunderten, aber auch davon ausgingen, dass die Kraft Deutschlands sich gegen Großbritannien wenden müsse. Sie dachten, in einer Allianz mit Frankreich und Russland – vor dem sie allerdings auch Angst hatten – könnten ihnen die so eingekreisten Deutschen nicht gefährlich werden. Sie bedachten aber nicht, was das in Deutschland auslöste. Mit Hilfe von Romanen wurden angebliche deutsche Invasionspläne aufgebauscht. Die britische Propaganda schürte Angst vor der deutschen Flotte, obwohl die Führung wusste, dass ihre viel stärker war.

SPIEGEL: Rechneten die beteiligten Staatsführungen tatsächlich damit, den Feind in einem kurzen Feldzug in wenigen Wochen niederzuwerfen?

Neitzel: Es herrschte lange eine trügerische Hochstimmung. Da war ein überbordendes Kraftgefühl vor dem Hintergrund eines gewaltigen technischen Fortschritts und wirtschaftlichen Aufschwungs, Deutschland explodierte ja geradezu vor Selbstbewusstsein. Das Wissen, dass es mit den neuen Waffen, etwa dem Maschinengewehr und der modernen Artillerie, keinen schnellen Krieg geben konnte, war bei einigen schon da, aber es drang noch nicht ins politische Bewusstsein.

SPIEGEL: Wie groß war die Euphorie zu Kriegsbeginn wirklich?

Neitzel: Die Kriegsbegeisterung war in Berlin vor allem eine Sache des Bürgertums und der Studenten. In den Grenzregionen dagegen herrschte keine Jubelstimmung. Es gab bei manchen Militärs zwar eine böse Ahnung, etwa bei Generalstabschef Moltke: Überlegen sind wir nicht, hoffentlich geht das gut. Aber bei niemandem waren die Zweifel so stark, dass dies zu einer Veränderung der Strategie geführt hätte.

SPIEGEL: Verwickelte sich die deutsche Führung ab Ende 1914 nicht immer mehr in einen Widerspruch zwischen maßlosen Kriegszielen mit Annexionen in Belgien, Frankreich und dem Baltikum und einem militärischen Potential, das dafür gar nicht ausreichte?

Neitzel: Darin unterschieden sich die Deutschen nicht sehr von den Franzosen oder den Briten: Keiner war bereit, einen ernsthaften Verhandlungsfrieden zu suchen. Dabei wusste keine Seite, wie sie die andere eigentlich schlagen sollte. Schon Ende 1914 waren alle im Grunde mit ihrem Latein am Ende. Die Munition wurde knapp, Hunderttausende waren getötet worden. Die Soldaten waren desillusioniert. Es gab nirgendwo einen strategisch überzeugenden Plan, erst recht keinen, wie man durch diesen Krieg eine stabile Neuordnung Europas erreichen könnte....

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