Toc! Toc! Toc! Nachts um halb zwei klopfte es heftig an unsere Zimmertür im »I Portici Hotel« in Bologna. Toc! Toc! Toc! »Aprite la porta! Per favore.«
So beginnen Kriminalromane. Das hier ist einer. Meiner.
Aber lassen Sie mich, bevor wir auf die Ereignisse eingehen, die in jener Nacht vom 18. auf den 19. Oktober 2013 in Bologna eskalierten, zwei, drei Worte zu meiner Person sagen.
Also, wer bin ich? Ich heiße Raoul Weil und dies seit 1959. Ich bin mit Susanne Lerch verheiratet. Dies seit 1996. Wir haben keine Kinder.
Susanne ist Übersetzerin, arbeitete bei der Fifa und war später Personalchefin der Logistikdivision jener Schweizer Bank, bei der auch ich gearbeitet habe und wo wir uns kennen gelernt haben. Susanne ist mein Fels in der Brandung.
Zu mir spontan noch das Folgende: Ich wuchs als Einzelkind in einer ganz normalen, durchschnittlichen Schweizer Familie in Basel auf. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater Architekt bei der Großmetzgerei Bell. Ich besuchte das Gymnasium und studierte schließlich an der Uni Basel Volks- und Betriebswirtschaft. Was gibt es noch zu sagen? Ich war Fourier bei den Flieger- und Flabtruppen der Schweizer Armee und habe (als ehemaliger Flabkanonier) einen leichten Hörschaden. Susanne meint, dass ich das, was ich hören will, eins a hören würde. Sie behauptet übrigens auch, dass ich ein schlechter Autofahrer sei. Und weil sie recht hat, lasse ich ihr gern den Vortritt.
Bis vor kurzem war ich Banker. 2008 trug ich bei der Old Swiss Bank (OSB) die Verantwortung für 63 000 Mitarbeitende. Bald werde ich in einem Hochsicherheitsgefängnis in Bologna sitzen. In einer Dreierzelle. Unschuldig, wie das Geschworenengericht in Fort Lauderdale, mehr als ein Jahr nach meiner Verhaftung, am 3. November 2014 urteilen wird. Einstimmig.
Ich bin gesellig und liebe angeregte Gespräche in angenehmer Gesellschaft. Ich bereiste rund neunzig Länder und interessiere mich für zeitgenössische chinesische Kunst und für moderne Architektur. Vielleicht hätte ich gescheiter Architekt werden sollen, dann wäre mir wohl einiges erspart geblieben. Ich verschlinge Bücher, in deutscher und englischer Sprache, und spiele regelmäßig Bridge. Allerdings lediglich auf Plauschniveau. Während unserer Zeit in New York besuchten wir Jazzklubs und Broadway-Shows, sahen uns Ballettinszenierungen und Opern an. Dennoch muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich relativ unmusikalisch bin. Klassische Musik höre ich lediglich am Sonntag. Zum Frühstück. Das hat dann so etwas Beruhigendes. Aufgewachsen bin ich mit der Musik von Deep Purple, Supertramp, David Bowie, The Clash und den Stranglers. Rock ’n’ Roll und Punk. Vielleicht kommt mein Hörschaden auch ein bisschen von den Rolling Stones. »You Can’t Always Get What You Want«.
Ich bin ein liberaler Mensch. Sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich. Ich schätze unsere direkte Demokratie. Aber politisch aktiv bin ich nicht. Ich esse und trinke gern, bin aber weder ein Weinconnaisseur noch ein Gourmet. Ich bin kein eigentlicher Hobbykoch, stehe jedoch am Wochenende ganz gern am Herd.
Bis zwanzig fuhr ich hobbymäßig Skirennen. Heute gehe ich es auf dem Schnee langsamer an, am liebsten in den Bündner Bergen. Daneben jogge und wandere ich. Wann immer möglich mit Susanne und unserem Hund Madhu, einem Irish Soft Coated Wheaten Terrier. Wie so ein Irish Soft Coated Wheaten Terrier aussieht? Schwierig zu beschreiben. Stellen Sie sich einfach etwas sehr Sympathisches, Mittelgroßes mit hellem, flauschigem Fell und freundlichen Knopfaugen vor. Madhu bedeutet im altindischen Sanskrit »Honig« und bezieht sich auf die Farbe seines Fells.
Als junger Erwachsener spielte ich Handball. In der ersten und zweiten Liga. Und eher bescheiden Tennis. Von außen beurteilt man mich als teamfähig, integer, zuverlässig und fokussiert, als schlagfertig, humorvoll und intelligent, aber auch als etwas gutgläubig. Susanne meint, es fehle mir zuweilen an Sensibilität. Ich bin ein Zahlenmensch.
Früher war ich eher scheu. Und noch heute bin ich keiner, der in großer Gesellschaft aufsteht und ruft: »Hört mal her, ich habe da eine absolut wahnsinnige Story erlebt.« Angesichts der Tatsache, dass ich meine Geschichte nun öffentlich mache, klingt das wie ein Widerspruch, und es drängt sich die Frage nach dem Warum auf.
Es ist ganz einfach: Das Schreiben hielt mich im Knast über Wasser. Mit jeder geschriebenen Seite konnte ich Ballast abwerfen und die Geschehnisse verarbeiten. Im Englischen heißt es: »Turn the page!« Ich habe beim Schreiben viele Seiten gewendet und wurde dabei – im wahrsten Sinn des Wortes – leichter. Zu Beginn schrieb ich einzig und allein für mich. Als Therapie. Irgendwann entstand der Wunsch, meine Aufzeichnungen jenen Menschen zum Lesen zu geben, die sich im Sturm nie von uns ab-, sondern im Gegenteil noch mehr zugewandt haben. Ja, und als das fertige Manuskript dann vor mir lag, motivierte mich mein Studienfreund Tobi, die Geschichte als Buch zu veröffentlichen. Nicht zuletzt auch, um jene Facetten zu schildern, die in der öffentlichen Berichterstattung auf der Strecke blieben. Allora.
Freitag, 18. Oktober 2013 Eigentlich begann alles ganz entspannt. Nach acht unbeschwerten Tagen in Rom kamen Susanne und ich am frühen Nachmittag im Hotel I Portici in Bologna an. Das Viersternehaus befindet sich im Herzen des historischen Zentrums von Bologna, nur fünf Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Es bietet einen spannenden Mix aus ganz alt und ganz neu. Manche Zimmer sind auf den Park gerichtet, und von anderen blickt man auf die Via Indipendenza. Indipendenza. Unabhängigkeit. Was für ein großes Versprechen.
Nach dem Einchecken schlenderten Susanne und ich noch ein bisschen durch die Altstadt, besichtigten die gewaltige Basilica San Petronio, die beiden schiefen Türme Asinelli und Garisenda und genossen die letzten Strahlen der Herbstsonne im Kaffeehaus Zanarini bei Cappuccino und Mandelkuchen. Auf Empfehlung einer Bekannten reservierten wir im Ristorante Pappagallo einen Tisch für den Abend. Leo, der Inhaber, empfing uns mit Prosecco und Parmaschinken, und wir genossen die weltweit oft kopierte, aber unerreichte, ursprüngliche Küche der Emilia Romagna. Bei Kerzenschein. Was wir noch nicht wussten: Es sollte unser letztes gemeinsames Essen für eine lange Zeit sein.
Samstag, 19. Oktober, 1 Uhr 30 Toc! Toc! Toc!
Susanne rief schlaftrunken und leicht verärgert: »Hey, hallo, Sie sind an der falschen Tür! Suchen Sie Ihr eigenes Zimmer!«
Abermals klopfte es. »Aufmachen! Polizei!«
Keine Sekunde später wurde die Tür aufgesperrt, und zwei Polizisten standen in unserem Zimmer.
Entsetzt sprangen wir aus dem Bett, umschlangen uns und versuchten uns so gegenseitig zu beschützen. Susanne trug ein kurzes, rosafarbenes Nachthemd, was den einen der Carabinieri ein bisschen zu genieren schien. Den Blick zum Parkettboden gesenkt, fragte er mich nicht unfreundlich, aber bestimmt: »Sind Sie Signor Weil Raoul?«
»Sì.« Ich stand in Boxershorts da.
»Ziehen Sie sich bitte an und kommen Sie mit. Sie müssen uns einige Fragen beantworten.«
Obwohl überrumpelt vom ungebetenen nächtlichen Besuch, wusste ich sofort, warum die Polizisten in unserem Hotelzimmer standen. Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren war ich von den USA im Zuge des Steuerstreites zwischen Amerika und der Schweiz angeklagt worden. Jetzt würde das nächste und hoffentlich letzte Kapitel geschrieben werden.
Mechanisch, mit den Gedanken überall und nirgends, schlüpfte ich in meine Hose, streifte mir ein Hemd über, steckte mein Handy und das Portemonnaie ein, küsste Susanne – »Mach dir keine Sorgen, auf bald!« – und verließ wortlos und entschlossenen Schrittes das Zimmer.
Die zwei Carabinieri machten beim Nachtportier kurz halt und bedankten sich für seine Meldung an die Polizei.
»Keine Ursache, das war doch selbstverständlich. Ich habe die Warnung im Reservationssystem gesehen und nur meine Pflicht getan.«
Dann gings los: Zum allerersten Mal in meinem Leben wurde ich in einen Streifenwagen verfrachtet und an einen mir unbekannten Ort gefahren. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Nichts gegen eine Ausfahrt in einem hellblauen Alfa Romeo 159 – aber morgens um zwei Uhr und mit zwei Polizisten im Schlepptau gehört so ein Ereignis nicht zu den zehn wichtigsten Dingen, die man als Mann in seinem Leben gemacht haben muss. Vor allem dann nicht, wenn man nicht vorn sitzen darf.
Auf dem Polizeikommissariat, einem trutzigen, düsteren Palazzo, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, durchlief ich ein Prozedere, wie ich es bisher nur aus Krimiklassikern kannte: Ein bierbäuchiger Beamter mit Dreitagebart nahm mir erst mein Handy und meine Fingerabdrücke ab und erfasste dann Größe, Augenfarbe und so weiter. Gleichgültig schoss er danach ein unvorteilhaftes Polizeifoto. Ein junger, eleganter und überraschend zuvorkommender Polizist führte mich daraufhin in sein Office. Ich nahm auf einem wackeligen Stuhl Platz und musterte das Büro. Hohe Decken und...