Kapitel 1
Sechseinhalb Jahre
In Wahrheit war mein Prozess eine ziemliche Seifenoper. Die Wahrheit, die illegalen Methoden der Polizei, die Aussage des V-Manns, der von der Polizei zu Straftaten angestiftet worden ist, der korrupte Polizist – das alles kam nie an die Öffentlichkeit.
Ali Osman
Am 23. Januar 2014, nach nur drei Prozesstagen, verkündete der Vorsitzende Richter den Schuldspruch in einem Verfahren, das in ganz Deutschland von den Medien genau verfolgt wurde: Yildiray Kaymaz wurde wegen Anstiftung und Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Drogenhandels, unerlaubten Waffenbesitzes und Beihilfe zur Sachbeschädigung, bei der diese Waffen zum Einsatz gekommen waren, sowie Verstößen gegen das Kriegswaffengesetz zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. (Kurze Zeit später wurde Kaymaz wegen eines Überfalls auf eine Tabledance-Bar zu neun weiteren Monaten Haft verurteilt.) Der Prozess sorgte bundesweit für Aufsehen, denn entgegen der in seinem Milieu herrschenden Konventionen hatte der Angeklagte mit den Behörden kooperiert. Yildiray Kaymaz war der Präsident des Satudarah MC Deutschland gewesen, eines sogenannten Outlaw Motorcycle Clubs, der ursprünglich in Holland beheimatet ist. Im Raum Duisburg hatten sich die deutschen Mitglieder des Clubs unter Kaymaz’ Führung jahrelang in einem regelrechten Krieg mit den Hells Angels befunden. Zu diesem Zweck wurden Schusswaffen aus den Niederlanden besorgt – anscheinend auf Anweisung des Präsidenten. Neben Kaymaz wurde in dem Prozess auch der Vizepräsident des Clubs zu einer unwesentlich geringeren Haftstrafe verurteilt.
Der Begriff Outlaw Motorcycle Club (OMC) wurde von den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden als Bezeichnung für im Bereich der organisierten Kriminalität tätige Motorradgangs geprägt. Laut FBI gibt es fünf solcher Clubs, die internationale Bedeutung haben, darunter die Bandidos, die Mongols und die Hells Angels, die auch in Deutschland aktiv sind. 2014 waren in Deutschland polizeilich relevante Rockergruppen mit insgesamt 9 300 festgestellten Mitgliedern in 613 Chaptern, sozusagen »Filialen« oder »Ortsgruppen«, organisiert. Zahlenstärkster dieser Clubs war der Gremium MC mit über 2 000 Mitgliedern, danach kamen die Hells Angels mit 1 572 bekannten Membern. Der Bandidos MC belegte mit nur rund 200 Personen weniger Rang drei. In diesem Jahr richteten sich im Bereich der organisierten Kriminalität insgesamt 48 Verfahren – das sind 8,4 Prozent aller Verfahren gegen die organisierte Kriminalität – gegen Mitglieder von Outlaw-MCs, davon allein 22 gegen Mitglieder der Hells Angels.
Diese Gangs haben ihre eigenen Gesetze, und eines davon lautet, niemals mit den Behörden zusammenzuarbeiten oder auch nur mit ihnen zu sprechen. Auch wenn ein Mitglied eines Outlaw-Motorradclubs selbst Opfer einer Straftat wird, erstattet es keine Anzeige. Alle Angelegenheiten werden untereinander geregelt. Deshalb waren am 17. Januar, dem ersten Prozesstag, Kaymaz’ Anhänger, die sich vor den Augen des massiven Polizeiaufgebots, das zur Absicherung des Gebäudes aufgewendet worden war, versammelt hatten, fest davon überzeugt: Der redet nicht.
Doch Yildiray Kaymaz, in der Szene besser bekannt als Ali Osman, brach diesen Ehrenkodex. Seine Bereitschaft, auszusagen, ermöglichte es seinen Anwälten, einen Deal auszuhandeln: Kaymaz würde einige der ihm vorgeworfenen Straftaten gestehen, und im Gegenzug würde die Höhe seines Strafmaßes bereits vor der Urteilsverkündung in etwa festgelegt werden. Auch die Tatsache, dass Kaymaz schon vor Prozessbeginn ausführliche Aussagen gegen seine ehemaligen Clubbrüder, auch die in den Niederlanden, gemacht hatte, wirkte sich positiv auf das Strafmaß aus. Als einer von Kaymaz’ Anwälten am zweiten Prozesstag eine Erklärung seines Mandanten verlas, in der dieser die Gründe für sein Geständnis nannte, ging einen Raunen durch den Gerichtssaal. Mehrere Männer unter den Zuschauern standen demonstrativ auf und gingen. Später sollte Kaymaz sogar Morddrohungen bekommen, denn wer auspackt, ist nach den Gesetzen der OMCs »out in bad standing«, was sich mit »vogelfrei«, also geächtet und rechtlos, übersetzen lässt. Jedes Satudarah-Mitglied hatte nun theoretisch die Pflicht, Kaymaz bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzugreifen. Entsprechend groß war die Polizeipräsenz im Gerichtssaal, der vor dem Beginn der Verhandlung mit Spürhunden auf Sprengstoff untersucht worden war. Vor dem Gebäude kontrollierten Polizisten jeden, der hinein- oder hinausgehen wollte.
Yildiray Kaymaz hatte schon Monate vor dem Prozess interne Clubstrukturen aufgedeckt und auch niederländische Mitglieder des Satudarah MC schwer belastet. Dafür wurde er statt zu rund 15, wie angesichts seiner Straftaten hätte gefordert werden müssen, nur zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Kaymaz’ Sohn, so die offizielle Erklärung für das Geständnis, sei lebensgefährlich erkrankt, deswegen wolle sein Vater so schnell wie möglich wieder aus der Haft entlassen werden.
Bevor Kaymaz nach der Verkündung des Urteils wieder zurück in die Haftanstalt musste, nutzte er die Chance, alle Satudarah-Mitglieder aufzufordern, es ihm gleichzutun und auszusteigen. Dann legte man dem eher kleinen und schmalen 38-Jährigen, der so gar nicht wie ein typischer Rocker aussieht, Hand- und Fußfesseln an und führte ihn unter massivem Polizeischutz aus dem Gerichtsgebäude. Eine Polizeieskorte brachte ihn zurück in den VGH, den »verschärft gesicherten Haftbereich« der JVA Ratingen, wo Yildiray Kaymaz unter anderem mit einem Auftragskiller, einem Amokläufer, einem Mitglied der kalabrischen Mafia und einem der selbsternannten Gotteskrieger der Al-Qaida einsaß.
Dem Staat war anscheinend ein entscheidender Schlag gegen die Rockerszene gelungen: Einer der ganz Oberen hatte bei der Aufklärung von Straftaten, die seine ehemaligen »Brüder« begangen hatten, mitgeholfen, und auch seine eigenen Vergehen gestanden. Mit der Bruderschaft schien es bei dem Duisburger Club ohnehin nicht weit her zu sein. Die Zeitungen berichteten, dass Kaymaz von seinen eigenen Leuten verraten worden war und deswegen verhaftet werden konnte. Nach und nach kamen weitere Einzelheiten ans Licht, darunter auch, dass es der Polizei gelungen sei, einen V-Mann aus der Führungsriege des Satudarah MC in Duisburg zu rekrutieren – eine Sensation, denn in die geschlossene Welt der Motorradclubs erhalten die Beamten nur sehr selten Einblick. V-Männer sind in der Szene, in der niemand die 110 wählt, wenn etwas passiert, eine echte Rarität. Wird die Identität eines V-Manns aufgedeckt, ist auch er »out in bad standing« und schwebt somit in Lebensgefahr.
Ich konnte Anfang 2013 im Rahmen einer Reportage für stern TV Kontakt zu den Duisburger Rockern vom Satudarah MC herstellen und führte mehrere Interviews mit Yildiray Kaymaz und anderen Mitgliedern, ehe sie verhaftet wurden. Mein Team und ich durften die Männer sogar bei einer Fahrt nach Holland, wo wir uns mit den höchsten Satudarah-Membern der Niederlande trafen, begleiten. Ich stelle das Gerichtsurteil nicht infrage. In meinen Augen hat sich Yildiray Kaymaz schuldig gemacht.
Ich weiß aber auch, dass diese Männer allen Außenstehenden gegenüber misstrauisch sind. In die Führungsriege eines solchen Clubs aufzusteigen, setzt voraus, sich das Vertrauen des Präsidenten und seines Stellvertreters erarbeitet zu haben. Dafür muss man wiederum einen entsprechenden »Hintergrund« mitbringen, was in diesem Fall damit gleichzusetzen ist, vorbestraft zu sein.
Ein V-Mann muss sich aus allen Straftaten heraushalten, damit seine Aussagen vor Gericht glaubhaft sind. Ist er selbst in kriminelle Machenschaften verwickelt, muss auch er strafrechtlich verfolgt werden. Dann hätte der V-Mann ein Motiv, andere zu belasten, um sich selbst in ein besseres Licht zu rücken. Er darf also nur beobachten und muss weitergeben, was er sieht und hört.
Der Status als V-Mann schützt also einerseits nur bedingt, wenn man bei einer Straftat erwischt wird. Um in dem abgeschotteten Milieu der Motorradgangs von den anderen Mitgliedern so viel Vertrauen zu gewinnen, dass man Einblick in alle Aktivitäten des Clubs, auch die illegalen, bekommt, muss man sich andererseits aber entsprechend verhalten. Dazu gehört auch, bei den »Unternehmungen« des Clubs eine aktivere Rolle als die des passiven Beobachters einzunehmen.
Ein V-Mann, der beim Satudarah MC weit oben in der Führung stand, ist also sicherlich vorbestraft. Und er wird sich an Straftaten beteiligt haben, um überhaupt eine Führungsposition zu erlangen. Die entscheidenden Fragen lauten aber: Hat der Mann auch noch Straftaten begangen, nachdem er V-Mann geworden war? Und wussten die Polizisten, die den V-Mann regelmäßig trafen und seine Aussagen aufnahmen, von einer eventuellen Verwicklung ihres Informanten in strafbare Handlungen?
Vor Gericht schien man diese Fragen jedoch nicht stellen zu wollen, und Kaymaz’ Verteidiger hüteten sich, das Thema V-Mann im Gerichtssaal zur Sprache zu bringen. Ihre Aufgabe war es, für ihren Mandanten das bestmögliche Urteil herauszuholen, und sechseinhalb Jahre Haft waren deutlich kürzer als fünfzehn. Die Behörden wollten durch einen Sieg vor Gericht zumindest den Anschein erwecken, den Rockerkrieg, der im Ruhrgebiet seit Jahren tobte, unter Kontrolle zu haben. Diesen Erfolg würde man sich bestimmt nicht von einem dubiosen V-Mann zunichtemachen lassen.
Als Journalist bin ich in einer anderen Position. Ich habe keine...