Prolog
Träume
Es sind die Träume, die einen Menschen am Leben halten. Träume von einer Existenz, die besser ist als die unsere. Träume von einer Liebe, die bedingungslos ist, und Träume von einer Freiheit, die es uns ermöglicht, das Leben zu führen, das wir führen möchten. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind zu träumen, dann verlernen wir zu leben. Es sind unsere Träume, die uns nach mehr streben lassen. Die uns größer machen, als wir sind. Die uns ermutigen, Risiken einzugehen. Zu kämpfen, für das, was noch nicht ist. Ein Mensch, der nicht mehr träumt, ist ein Mensch, der nicht mehr lebt.
Doch in jedem Traum liegt auch die Gefahr, dass er uns eines Tages erdrückt. Ich habe mein Leben lang geträumt, bis mein Leben zu einem Albtraum wurde. Aber das Kämpfen, das habe ich nie verlernt. Einen dieser Kämpfe führte ich am Abend des 2. Juli 2006. Und ich wusste noch nicht, wie dieser Kampf mein ganzes Leben verändern würde.
Es war der Geburtstag meiner großen Schwester. Leyla war eine der wenigen Personen, denen ich noch vertraute. Sie war meine erste und meine letzte Anlaufstelle. Ich liebte sie über alles. Den ganzen Tag über war ich auf der Arbeit, es war viel los, also wollte ich Leyla am Abend noch besuchen und ihr ein Geschenk bringen. Doch dazu sollte es nicht kommen.
Ich machte mich gerade im Badezimmer fertig, als mein Vater sich wieder in eine seiner paranoiden Vorstellungen reinsteigerte.
»Aylin, was machst du? Willst du noch weg?«
»Baba«, sagte ich, »ich gehe zu Leyla. Das weißt du doch.«
»Um diese Zeit? Es ist viel zu spät. Du gehst heute nicht mehr raus.«
»Ich gehe doch nur zu Leyla.«
Leyla wohnte nicht allzu weit von uns entfernt. Außerdem war sie meine Schwester. Was hätte mir schon passieren sollen? Ich war neunzehn Jahre alt, ich konnte auf mich allein aufpassen. Aber darum ging es meinem Vater nicht. Er sorgte sich um etwas ganz anderes.
»Du willst dich doch nur wieder mit deinem Freund treffen«, unterstellte er mir.
»Baba, das ist doch Unsinn.«
»Du bist einem anderen Mann versprochen! Vergiss das nicht. Verletz nicht unsere Ehre.«
Ich konnte es nicht mehr hören: Ehre, Ehre, Ehre. In meiner Familie ging es um nichts anderes mehr. Zieh dich ordentlich an, sonst beschmutzt du unsere Ehre. Geh nicht alleine weg, sonst beschmutzt du unsere Ehre. Tu was deine Brüder dir sagen, sonst …
Meine Familie war Ende der 1980er-Jahre aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet. Und wenn ich den Erzählungen meiner Verwandten glauben konnte, dann sind sie erst hier so fürchterlich strikt und verbohrt geworden. Sie entsprachen mittlerweile dem Klischeebild einer palästinensisch-libanesischen Großfamilie, wie die Medien es suggerierten: streng, konservativ, patriarchalisch.
Und es wurde immer schlimmer. Schon seit Wochen hatte sich mein Vater in den Gedanken hineingesteigert, dass ich mich heimlich mit Mahmoud treffen würde. Er wusste, dass er meine große Liebe war. Der Mann, den ich mehr begehrte als alles andere auf der Welt. Aber mein Vater hatte Unrecht. Ich hatte schon lange keinen Kontakt mehr zu Mahmoud. So weh mir das auch tat. Doch es ging einfach nicht. Ich war einem anderen Mann versprochen. Einem Mann, für den ich rein gar nichts empfand. Und der auch noch der Cousin meiner Mutter war. Mein Vater wusste, dass ich mich zwar fügte, aber alles andere als glücklich mit der Situation war.
»Du bist ein undankbares Kind. Du weißt nicht zu schätzen, was wir für dich tun.«
Ich spürte, wie er sich wieder in Rage redete. Ich kannte das. Bleib ruhig, Aylin. Lass dich nicht provozieren, sprach ich mir zu. Lass dich bloß nicht provozieren.
»Du willst doch gar keinen richtigen Mann. Du willst einen Mann, dem du auf der Nase rumtanzen kannst. So wie deinem Drogendealer-Freund. Deinem Mahmoud.«
»Baba, hör auf!«, schrie ich. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss.
»Du hast keinen Respekt!«, schrie er zurück.
In diesem Moment platzte es aus mir heraus: »Du verstehst doch überhaupt nichts! Wenn ich einen Mann haben wollte, dem ich auf der Nase rumtanzen kann, dann hätte ich doch den Erstbesten genommen, den ihr mir ins Haus gebracht habt. Dann hätte ich doch nicht diese Hölle durchgemacht, die ich durchmachen muss. Geht das nicht in deinen sturen Kopf?«
So ausfallend war ich gegenüber meinem Vater noch nie geworden. Ich wusste, dass ich kurz davor war zu explodieren. Ich lief in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir so heftig zu, wie ich nur konnte. Ich bereute es noch im selben Moment. Mein Vater kam mir mit hochrotem Kopf hinterhergerannt.
»Was ist los mit dir?«, schrie er und ging auf mich los. Instinktiv nahm ich die Hände vor mein Gesicht. Ich spürte, wie er zuschlug, wie er immer und immer wieder zuschlug. Doch ich war es gewohnt. Ob mein Vater zuschlug oder mein Bruder, machte keinen Unterschied. Schläge sind Schläge und mit der Zeit lernt man, dass die Schmerzen, die ein Schlag verursacht, irgendwann vorbeigehen. Sie hinterlassen nur Narben auf unserer Seele, aber mit den Jahren weiß man, seine Seele zu verbergen. Wenn man sie schon nicht schützen kann.
Doch dieses Mal war etwas anders. Es hatte sich in den letzten Wochen und Monaten so viel Wut und Ärger in mir aufgestaut. Ich war verzweifelt und jetzt brach alles aus mir heraus. Ich schubste meinen Vater weg und schrie ihn an. Er stürzte und riss mich mit zu Boden. Ich sah an seinem Gesicht, dass die Wut ihn jetzt komplett beherrschte. Er war so in Rage, dass er nicht mehr zurechnungsfähig war. Er schlug immer weiter auf mich ein. Doch dieses Mal war ich nicht bereit, die Schläge zu akzeptieren.
Ich sprang auf und schrie ihn an: »Es reicht!«
Er schaute mich einen Moment lang verwundert an. Noch nie hatte seine Tochter es gewagt, sich so gegen seinen Willen zu stellen.
»Es reicht!«, wiederholte ich mit Nachdruck. »Nie wieder, nie wieder wirst du mich anfassen! Nie wieder! Das war das letzte Mal, dass irgendjemand in dieser Familie eine Hand gegen mich erhebt oder mich berührt.«
Er schaute mich mit großen Augen an und sagte nichts mehr. Die Stille war unerträglich. Bis meine Mutter ins Zimmer gestürmt kam. Als sie meinen Vater auf dem Boden liegen sah, hielt sie sich die Hände vors Gesicht und weinte.
»Was tust du bloß, Aylin? Was tust du nur?«
Ich konnte das nicht mehr ertragen. Ich musste weg. Ich musste raus. Raus aus diesem Haus. Raus aus diesem Leben. Raus aus diesem Albtraum. Ich lief aus meinem Zimmer und ließ alles hinter mir. Ich lief in den Hausflur, die Treppen runter, hörte, wie mein Vater mir etwas hinterherbrüllte. Ich verstand kein Wort. Es war mir egal. In meinem Kopf war nur ein Gedanke: Raus! Als ich vor der Tür stand, im Freien, da merkte ich, dass ich weder mein Kopftuch noch meine Schuhe anhatte. Ich war barfuß. Aber es war mir vollkommen egal.
Es war eine fürchterliche Nacht. Es stürmte. Es regnete in Strömen. Kein Mensch war unterwegs. Aber auch das war mir egal. Ich lief weiter, immer weiter, die große Straße entlang. Meine Mutter stand auf dem Balkon und schrie herunter.
»Aylin, bitte Aylin, komm zurück. Komm doch zurück. Was machst du denn nur, mein Kind?«
Ich sah, wie die Lichter in den anderen Wohnungen angingen. Wie die Nachbarn die Fenster öffneten, um zu sehen, was denn los war. Ein letztes Mal drehte ich mich um. Dann lief ich weiter die nasse Straße entlang. Ich achtete nicht darauf, wo ich lang lief. Ich wollte einfach nur weg.
Ich hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Ich musste bestimmt eine gute Stunde gelaufen sein. Irgendwann wusste ich nicht mehr, wo ich war. Der Regen wurde immer stärker. Ich schaute auf mein Handy. Es war weit nach Mitternacht. Ich setzte mich auf eine Parkbank und atmete durch. Nach und nach fing ich an zu realisieren, was passiert war. Und ich wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser.
Dann wählte ich die Nummer der Polizei.
Eine Frau meldete sich. »Polizei Berlin, was können wir für Sie tun?«
»Ich brauche Hilfe«, stammelte ich. »Ich muss hier weg. Ich muss weg aus meinem Leben.«
»Bleiben Sie ganz ruhig«, versuchte mich die Beamtin zu beruhigen. »Atmen Sie tief durch. Sagen Sie mir, wie Sie heißen, wo Sie sind und was passiert ist.«
Aber ich war so nervös, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich stammelte irgendetwas vor mich hin. Der Regen wurde immer heftiger und meine nassen Haare fielen mir in mein Gesicht.
»Bitte kommen Sie und holen Sie mich ab«, sagte ich. »Ich heiße Aylin. Ich will einfach nur weg. Bitte bringen Sie mich weg.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich wurde geschlagen … bitte … bitte bringen Sie mich einfach weg«, flehte ich schon beinahe und spürte, wie sich mein Hals langsam zuschnürte.
»Wo sind Sie?«
Ich schaute mich um. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wo ich war.
»Gibt es irgendeinen Laden, irgendein Restaurant, das Sie sehen?«, fragte die Polizistin.
»Ja«, sagte ich. Auf der anderen Straßenseite war ein italienisches Restaurant. Es war noch offen. Ich gab der Polizistin den Namen und legte auf.
Es dauerte eine Weile, aber als die zwei Polizisten endlich kamen, war ich unendlich erleichtert. Das ist meine Rettung, dachte ich. Diese Männer werden mich retten.
Ich atmete tief durch. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ich das Gefühl, dass jetzt endlich alles gut werden könnte. Dass es zumindest die Chance gäbe, dass alles eine Wendung nimmt. Dass ich dieses Gefängnis, das mein Leben war, hinter mir lassen könnte.
Die beiden Polizisten setzten...