Der Finanz-Code – Regel Nr. 1:
Auf dem zweiten Niveau denken
Die Kunst des Investierens hat eine Eigenschaft, die allgemein nicht genug geschätzt wird. Ein Laie auf diesem Gebiet kann mit einem Minimum an Aufwand eine verlässliche, wenn auch unspektakuläre Rendite erzielen. Aber wenn man diesen leicht erreichbaren Standard übertreffen will, braucht man viel Übung und mehr als nur ein wenig Weisheit.
Ben Graham, The Intelligent Investor
Man sollte alles so einfach wie möglich tun, aber nicht noch einfacher.
Albert Einstein
Es soll nicht einfach sein. Jeder, der es einfach findet, ist dumm.
Charlie Munger
Nur wenige Menschen bringen mit, was man braucht, um ein großartiger Investor zu sein. Manchen kann man es beibringen, aber nicht jedem … und denjenigen, denen man es beibringen kann, kann man nicht alles beibringen. Bewährte Methoden funktionieren manchmal, aber nicht immer. Und man kann das Investieren nicht auf einen Algorithmus reduzieren und es einem Computer übertragen. Auch die besten Investoren liegen nicht immer richtig.
Die Gründe sind simpel. Keine Regel funktioniert immer. Das Umfeld ist nicht kontrollierbar, die Umstände wiederholen sich nur selten auf exakt gleiche Weise. Die Psychologie spielt an den Märkten eine bedeutende Rolle, und weil sie höchst variabel ist, sind Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht verlässlich. Eine Investmentmethode mag für eine Weile funktionieren, aber letztlich verändern die für sie erforderlichen Handlungen das Umfeld, was bedeutet, dass eine neue Methode erforderlich ist. Und wenn andere eine Methode nachahmen, leidet ihre Effektivität.
Ebenso wie Ökonomie ist Investieren mehr Kunst als Wissenschaft. Und das bedeutet, dass es ein wenig unordentlich sein kann.
Eines der wichtigsten Dinge, die man heute im Gedächtnis behalten muss, ist, dass die Ökonomie keine exakte Wissenschaft ist. Vielleicht ist sie überhaupt keine Wissenschaft in dem Sinne, dass man in den Wissenschaften kontrollierte Experimente durchführen kann. Man kann mit Zuversicht frühere Ergebnisse replizieren und sich auf feste Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verlassen.
»Will it work?«, 5. März 2009
Da Investieren zumindest ebenso sehr eine Kunst wie eine Wissenschaft ist, verfolge ich niemals das Ziel – weder in diesem Buch noch anderswo – zu sagen, man könne es routinemäßig durchführen. Im Gegenteil möchte ich ganz besonders betonen, wie wichtig es ist, dass eine Methode intuitiv und anpassungsfähig statt festgelegt und mechanisch ist.
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Letztlich entscheidend ist, was Sie erreichen wollen. Eine mittelmäßige Performance kann jeder erzielen – man braucht nur in einen Indexfonds zu investieren, der ein wenig von allem kauft. Damit bekommen Sie das, was man die »Marktrendite« nennt – einfach das, was der Markt erreicht. Aber erfolgreiche Investoren wollen mehr. Sie wollen den Markt schlagen.
Meiner Meinung nach ist dies die Definition erfolgreichen Investierens: besser abschneiden als der Markt und andere Investoren. Um das zu schaffen, brauchen Sie entweder Glück oder überlegenes Wissen. Sich auf sein Glück zu verlassen, kann man kaum als Plan bezeichnen, daher sollten Sie besser auf Ihr Wissen setzen. Beim Basketball sagt man: »Größe kann man sich nicht antrainieren«. Das bedeutet, dass alles Training der Welt einen kleinen Spieler nicht größer machen kann. Wissen ist schwer zu trainieren. Einsicht ist fast ebenso schwierig zu lehren. Es ist so wie bei jeder anderen Kunstform auch: Manche verstehen das Investieren einfach besser als andere. Sie haben dieses notwendige »Stück Weisheit«, das Ben Graham so eloquent fordert.
Jeder will Geld verdienen. Jede Ökonomie basiert auf der Universalität des Gewinnmotivs. So ist der Kapitalismus: Das Gewinnmotiv bringt die Menschen dazu, härter zu arbeiten und ihr Kapital zu riskieren. Das Gewinnstreben hat einen großen Teil des materiellen Fortschritts hervorgebracht, den die Welt genießt.
Aber diese Universalität macht es auch zu einer schweren Aufgabe, den Markt zu schlagen. Millionen von Menschen konkurrieren um jeden verfügbaren Dollar, den man beim Investieren verdienen kann. Wer wird ihn bekommen? Derjenige, der den anderen einen Schritt voraus ist. Auf manchen Gebieten braucht man, um an die Spitze zu gelangen, eine bessere Ausbildung, mehr Zeit im Fitnesscenter oder in der Bibliothek, eine bessere Ernährung, mehr Schweiß, bessere Nerven oder eine bessere Ausrüstung. Doch beim Investieren zählen solche Dinge weniger; es erfordert ein von der Wahrnehmung geprägtes Denken … auf dem von mir sogenannten zweiten Niveau.
Aufstrebende Investoren können Kurse in Finanzwissenschaften und Buchhaltung besuchen, viel lesen und – wenn sie Glück haben – von jemandem betreut werden, der ein tiefes Verständnis des Investmentprozesses hat. Doch nur wenige von ihnen werden die überlegene Einsicht, die Intuition, den Sinn für Werte und das Bewusstsein für Psychologie erreichen, die nötig sind, wenn man beständig überdurchschnittliche Resultate erzielen will. Das erfordert Denken auf dem zweiten Niveau.
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Denken Sie daran: Durchschnittliche Renditen sind nicht Ihr Investmentziel. Sie wollen überdurchschnittlich abschneiden. Daher muss Ihr Denken besser sein als das anderer Marktteilnehmer – kraftvoller und auf einem höheren Niveau. Da vielleicht auch andere Investoren intelligent, gut informiert und mit leistungsfähigen Computern ausgestattet sind, müssen Sie einen Vorteil finden, den andere nicht haben. Sie müssen an etwas denken, was die anderen nicht beachtet haben, Dinge sehen, die andere übersehen, oder Einsichten erwerben, die den anderen fehlen. Sie müssen anders reagieren und sich anders verhalten. Kurz gesagt: Recht zu behalten ist vielleicht eine notwendige Bedingung für den Investmenterfolg, aber es ist nicht genug. Sie müssen richtiger liegen als andere … was definitionsgemäß bedeutet, dass Sie anders denken müssen.
Was bedeutet Denken auf dem zweiten Niveau?
- Das Denken auf dem ersten Niveau sagt: »Das ist ein gutes Unternehmen. Ich kaufe die Aktie.« Das Denken auf dem zweiten Niveau sagt: »Das ist ein gutes Unternehmen, aber jeder denkt, dass es ein gutes Unternehmen ist, und das ist es eben nicht. Daher ist die Aktie überbewertet und überteuert. Ich verkaufe sie.«
- Das Denken auf dem ersten Niveau sagt: »Es sieht nach niedrigem Wachstum und steigender Inflation aus. Ich verkaufe meine Aktien.« Das Denken auf dem zweiten Niveau sagt: »Die Aussichten sind mies, aber alle andere verkaufen panisch ihre Aktien. Ich kaufe.«
- Das Denken auf dem ersten Niveau sagt: »Ich denke, die Gewinne des Unternehmens werden sinken. Ich verkaufe.« Das Denken auf dem zweiten Niveau sagt: »Ich glaube, die Gewinne des Unternehmens werden nicht so stark sinken, wie die Leute erwarten. Diese positive Überraschung wird die Aktie steigen lassen. Ich kaufe.«
Das Denken auf dem ersten Niveau ist einfach und oberflächlich. Fast jeder ist dazu in der Lage (ein schlechtes Zeichen für alles, was mit dem Streben nach Überlegenheit zu tun hat). Wer auf dem ersten Niveau denkt, braucht lediglich eine Meinung über die Zukunft, wie etwa: »Die Aussichten für das Unternehmen sind günstig, und das bedeutet, dass die Aktie steigen wird.«
Auf dem zweiten Niveau denkt man tiefschürfend, komplex und verwickelt. Hier werden viele Dinge in die Beobachtung einbezogen:
- Wie sieht die Spanne der möglichen zukünftigen Ergebnisse aus?
- Zu welchem Ergebnis wird es meiner Meinung nach kommen?
- Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich Recht behalte?
- Was sagt der Konsens der Marktteilnehmer?
- Inwieweit weicht meine Einschätzung vom Konsens ab?
- Inwieweit stimmt der aktuelle Kurswert mit der Konsenseinschätzung der Zukunft und mit meiner Einschätzung überein?
- Ist der im Kurs eingepreiste psychologische Konsens bullish oder bearish?
Was wird mit dem Kurs passieren, wenn sich die Konsenseinschätzung als richtig erweist – und was, wenn ich Recht behalte?
Die Unterschiede im Arbeitsaufwand zwischen dem ersten und dem zweiten Niveau sind natürlich erheblich, und die Zahl der Menschen, die zu Letzterem in der Lage sind, ist vergleichsweise winzig.
Wer auf dem ersten Niveau denkt, sucht einfache Formeln und einfache Antworten. Wer auf dem zweiten Niveau denkt, weiß, dass der Erfolg beim Investieren die Antithese zur Einfachheit ist. Das bedeutet nicht, dass man keine Leute trifft, die sich alle erdenkliche Mühe geben, damit es sich einfach anhört. Manche von ihnen würde ich als »Söldner« charakterisieren. Brokerfirmen wollen, dass Sie denken, jeder sei zum Investieren in der Lage – für 10 Dollar Gebühren pro Trade. Fondsunternehmen wollen nicht, dass Sie denken, Sie könnten selbst investieren. Sie wollen Sie glauben lassen, die Fondsmanager seien dazu in der Lage. In diesem Fall stecken Sie Ihr Geld in aktiv gemanagte Fonds und zahlen die damit verbundenen hohen Gebühren.
Andere Vereinfacher halte ich für »Proselytenmacher«. Manche sind Akademiker, die das Investieren lehren. Andere sind Praktiker mit ehrlichen Absichten, die das Ausmaß ihrer Kontrolle über die Börse überschätzen. Ich glaube, dass es die meisten nicht schaffen, ihre Erfolgsbilanzen zu halten. Oder sie übersehen...