I. Theorie & Methode
Christian Gudehus
Rahmungen individuellen Handelns – Ein Analysemodell
Rahmen
Menschen versuchen grundsätzlich richtig zu handeln. Also so, dass sie ihren Wahrnehmungen und Deutungen entsprechend möglichst ohne Schaden, am besten mit Gewinn, aus Situationen ebenso wie aus Situationsketten und größeren Handlungszusammenhängen, wie etwa einem Krieg, hervorgehen. Was aber ist in diesem Sinne richtig? Und was formt Wahrnehmung und Deutung der Umwelt, also von anderen Personen und Handlungskonstellationen? Die Antwort fällt rein begrifflich je nach Disziplin und theoretischer Orientierung unterschiedlich aus. Zusammenfassend oder als Oberbegriff soll hier von Rahmen individuellen Handelns die Rede sein. Genauer von sozialen Rahmungen, da beispielsweise genetische oder neurologische, also vereinfacht gesprochen, vorsoziale Faktoren[1] allenfalls am Rande Erwähnung finden werden. Diese Rahmen entfalten ihre Wirkung in jedem denkbaren Kontext menschlicher Sozialität, im Kindergarten, in einer Liebesbeziehung, auf der Arbeit, beim Fußball und natürlich in der Armee und somit auch im Krieg. Entsprechend ist es, um zu verstehen, was deutsche und italienische Soldaten im Zweiten Weltkrieg hat handeln lassen, unumgänglich, die für sie situativ und historisch relevanten Rahmen möglichst umfassend zu rekonstruieren. Das diesem Buch zugrunde gelegte Material eignet sich, trotz einiger Einschränkungen, außerordentlich gut für ein solches Unterfangen.[2] Zur Verdeutlichung dessen, was mit der Kombination von Konzept und Material erklärt werden kann und was nicht, bedarf es zunächst einiger Bemerkungen dazu, was denn diese Rahmen sind und wie sie wirksam werden.
Das Rahmenkonzept ist wesentlich durch den Soziologen Erving Goffman geprägt worden.[3] Jeder Rahmen, so Goffman, »ermöglicht dem, der ihn anwendet, die Lokalisierung, Wahrnehmung, Identifikation und Benennung einer anscheinend unbeschränkten Anzahl konkreter Vorkommnisse, die im Sinne des Rahmens definiert sind. Dabei sind ihm die Organisationseigenschaften des Rahmens im Allgemeinen nicht bewusst, und wenn man ihn fragt, kann er ihn auch nicht annähernd vollständig beschreiben, doch das hindert nicht, dass er ihn mühelos und vollständig anwendet.«[4] Rahmen sind die Bezugspunkte jeden Wahrnehmens, Deutens und schließlich Handelns. Sie beinhalten Vorstellungen darüber, ›wie die Welt so funktioniert‹ und ›wie Menschen so sind‹, ›was man tut und was nicht‹. Genaugenommen handelt es sich bei solchen Vorstellungen durchaus um Wissen, das in manchen Fällen explizierbar ist, in anderen implizit vorliegt. Dieses Rahmenwissen, also die Kompetenz, sich auf Rahmen zu beziehen, zu wissen, »›was‹ man ›wann‹, ›wo‹ mit ›wem‹ tut, reden und verabreden kann oder nicht kann«[5] erfüllt eine Reihe psychologischer Funktionen: »Es orientiert und versorgt mit ›unproblematischen, gemeinsam und als garantiert unterstellten Hintergrundüberzeugungen‹; es verschafft ›ontologische Sicherheit‹, und es ermöglicht die angstabsorbierende Verarbeitung von Irritationen und Zurückführung auf bekannte und vertraute Muster.«[6]
Die Herausbildung solcher Rahmen sowie ihre individuelle Aneignung sind komplexe Vorgänge, die sich für den konkreten Zweck unserer Studie über ein weiteres soziologisches Konzept anschaulich aufschließen lassen. Rahmen(wissen) lässt sich verstehen als Produkt und Ausdruck dessen, was in der Soziologie, im Wesentlichen Pierre Bourdieu folgend, als Habitus bezeichnet wird.[7] In der Art und Weise, sich zu kleiden, zu bewegen, zu sprechen, ja zu denken, zu argumentieren und schließlich wahrzunehmen, manifestiert sich der Habitus. Er wird sozialisiert, erlernt, abgeschaut, angeeignet und ist somit veränderbar. Das Militär ist eine von vielen Sozialisationsinstanzen und prägt von der Körperhaltung bis zur Meinung ihre Angehörigen, zumal im Krieg. Dies geschieht zunächst äußerlich. Mit der neuen Frisur, der Uniform, den Stiefeln beginnt der junge Mann, eben noch ein Handwerker, Beamter oder Student, sich zu verändern. Wie andere »totale Institutionen« bringt auch das Militär, Erving Goffman folgend, »gewisse Aufnahmeprozeduren zur Anwendung, wie die Aufnahme des Lebenslaufes, Fotografieren, Wiegen und Messen (…), Abnehmen der persönlichen Habseligkeiten (…), Entkleiden, Haareschneiden, Ausgabe von Anstaltskleidung [hier Uniform, Anm. d. A.] Einweisung in die Hausordnung, Zuweisung von Schlafplätzen«.[8] Es kommt zu einem durch die Institution bewerkstelligten »Bruch mit den früheren Rollen«, »eine Anerkennung des Rollenverlusts«, was beispielsweise durch das Verbot, die Ausbildungseinrichtung zu verlassen, »sichergestellt« werden soll. Goffman deutet diese Aufnahmeprozeduren als »Trimmen« und »Programmieren«.[9]
Der junge Soldat verändert durch den Drill seine Körperhaltung, seinen Gang (auch bedingt durch die Kleidung), ja seine Art zu sprechen. Er nimmt seine Umwelt anders wahr als zuvor. Er wird, und merkt das auch, von anderen – seien es Kameraden, Vorgesetzte, die Familie, die Freundin/Frau oder andere Zivilisten – anders gesehen. Am wichtigsten jedoch: Er geht neue soziale Bindungen ein, und es gelten neue Regeln, Normen und Verbindlichkeiten für ihn. Mehr noch, es kommt, wie Roger Chartier sich auf Norbert Elias beziehend erläutert, zu einem »Prozess der Affektmodellierung, der den (…) Menschen einem engmaschigen Netz von automatischen Selbstkontrollen unterwirft, die alle spontanen Impulse, alle elementaren Regungen im Zaum halten. Dieser neue Habitus erzeugt eine ganz eigentümliche Form von Rationalität (…), die jedes Verhalten genau auf die Beziehung, in der es statthat, abstimmen und jedes Treiben genau auf das Ziel, das es erreichen soll, ausrichten muss.«[10] Kurzum, der Eintritt in das Militär verändert den jungen Mann grundlegend. Zugleich, und diese Dialektik ist fundamental für das Verständnis sozialer Prozesse und das Verhältnis von Individuum und Institution, bestätigt, verändert oder schwächt der zum Soldat gewordene junge Mann mit seinen Handlungen die Institution Armee. Eines Tages ist er dann nicht mehr ein junger Mann, sondern vielleicht ein General. Er gehört der Institution nun schon lange an, ist also stark von ihr und den sie auszeichnenden Selbstverständnissen geprägt. Zugleich ist er nun in einer Position, die Institution, zumindest im Rahmen der ihr eigenen Logik, zu ändern, ja zu reformieren. So sind Handlungen einerseits ein Resultat von, um im Beispiel zu bleiben, institutionellen Rahmungen. Andererseits ist individuelles Handeln fundamental für die jeweilige Konstitution solcher Rahmen.[11]
Im Krieg als – sozialpsychologisch gedacht – räumlich und zeitlich begrenztem Handlungs- und Deutungsraum entfalten sich darüber hinaus spezifische Handlungsdynamiken. Diese formen zunächst und werden sukzessive Teil von Wahrnehmungs- und Deutungsweisen, die ihrerseits das Handeln der Akteure moderieren, aber zugleich von diesen hervorgebracht und beständig aktualisiert werden. Als klassisches Beispiel einer psychologischen Phänomenologie des Krieges gilt Kurt Lewins Arbeit über die sich fundamental verändernde Wahrnehmung von Landschaften durch deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg.[12] Aber nicht nur der Blick auf die Landschaft ändert sich. Die permanente Bedrohung des Lebens, die Unmöglichkeit, sich vor Waffen wie Minen und Artilleriebeschuss zu schützen, führte etwa zu einer Verbreitung abergläubischer Rituale, so die Verwendung von Talismanen, unter US-amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, die als einzige Möglichkeit erschienen, Einfluss auf das Chaos zu nehmen.[13] Ideologische Indoktrination, Erfahrung (z.B. welche Form der Gewalt bisher erfahren und ausgeübt wurde), soziale Dynamiken innerhalb der Einheiten sowie situative Konstellationen – beispielsweise Zeitdruck, so kann es sein, dass die Gefangenen die Mobilität der Gruppe einschränken und diese somit gefährden – sind unterschiedlich bedeutsame Faktoren für die Entscheidung für oder gegen Kriegsverbrechen unter deutschen Soldaten in Frankreich während desselben Kriegs.[14] All dies sind Hinweise darauf, welche Art von Rahmungen es gibt und wie sich diese fundamental verschieben können. Welche Bedeutung einzelnen Faktoren zukommt, kann diesbezüglich nicht grundsätzlich, sondern muss fallweise bestimmt werden.
Das Verhältnis der Akteure zueinander ist von Norbert Elias noch vor Pierre Bourdieu mit einem weiteren hilfreichen Konzept, jenem der Figuration, erfasst worden.[15] Danach sind Menschen in soziale Geflechte eingebunden. Ihr Handeln resultiert unter anderem aus dem Verhältnis, das sie in ihrer Funktion als Angehörige sozialer Gruppen unterschiedlicher Art zueinander haben. Michaela Christ hat unter enger Bezugnahme auf Elias gezeigt, wie die Figurationen der Akteure sich in einer ukrainischen Stadt mit dem Herannahen der deutschen Truppen, dem Kampf um die Stadt, der deutschen Besetzung, der sukzessiven Umsetzung der deutschen rassistischen Politik, der Ghettoisierung der Juden, ihrer Ermordung und schließlich der Eroberung dieser Stadt durch russische Truppen immer wieder...