Ein Zoll oder zehntausend Meilen
November 2001
JAKE IM ALTER VON DREI JAHREN
»Mrs Barnett, ich würde mit Ihnen gerne über die Buchstabenkarten sprechen, die Sie Jake in den Kindergarten mitgeben.«
Jake und ich saßen mit seiner Sonderpädagogin, die zu ihrem staatlich vorgeschriebenen monatlichen Besuch vorbeigekommen war, im Wohnzimmer. Er liebte die kunterbunten Buchstabenkarten über alles, so wie andere Kinder ihr abgewetztes Kuscheltier oder ihre alte Schmusedecke lieben. Die Karten werden in dem Supermarkt angeboten, wo ich gewöhnlich einkaufe. Während andere Kinder Cornflakespackungen oder Schokoriegel in den Einkaufswagen ihrer Mutter schmuggelten, kamen in meinem immer nur weitere Packungen von Jakes geliebten Alphabetkarten zum Vorschein.
»Ich gebe ihm diese Karten nicht mit. Jake steckt sie ein, bevor er zur Tür hinausgeht. Ich muss sie ihm aus den Händen reißen, um ihm sein T-Shirt anzuziehen. Er nimmt sie sogar mit ins Bett!«
Jakes Erzieherin rutschte verlegen auf dem Sofa hin und her. »Ich befürchte, ich muss Ihre Erwartungen, was Jacob betrifft, korrigieren, Mrs Barnett. Das hier ist ein Lebenshilfeprogramm, durch das er lernen soll, sich irgendwann einmal selbst anzuziehen.« Ihre Stimme war freundlich, aber bestimmt.
»Oh, natürlich. Das weiß ich. An diesen Dingen arbeiten wir zu Hause auch. Aber er liebt diese Karten einfach über alles …«
»Verzeihen Sie, Mrs Barnett. Was ich sagen will, ist: Wir glauben nicht, dass Sie sich bei Jacob wegen des Alphabets Sorgen machen müssen.«
Endlich verstand ich, was mir die Erzieherin meines Sohnes sagen wollte. Sie wollte sichergehen, dass mir die Ziele des Lebenshilfeprogramms klar waren, und mich vor Enttäuschungen bewahren. Sie wollte nicht sagen, dass Buchstabenkarten verfrüht seien. Sie wollte sagen, dass Jake sie überhaupt nie brauchen würde, weil sie glaubten, dass er niemals lesen lernen würde.
Das war einer jener erschütternden Augenblicke, von denen dieses Jahr voll gewesen war. Einige Zeit zuvor war bei Jake Autismus diagnostiziert worden, und seitdem ging es nur noch darum, wann (und ob überhaupt) Jake die üblichen Meilensteine der kindlichen Entwicklung erreichen würde. Fast ein Jahr war es nun her, dass sich vor uns der drohende, graue Schlund des Autismus aufgetan hatte, der Jake mehr und mehr zu verschlingen drohte. Ich hatte hilflos mit ansehen müssen, wie immer mehr von Jakes Fähigkeiten, wie etwa das Sprechen und Lesen, wieder verschwanden. Aber ich würde nicht zulassen, dass jemand das Potenzial meines gerade einmal dreijährigen Sohnes für verloren erklärte, ob er nun autistisch war oder nicht.
Paradoxerweise hatte ich selbst wenig Hoffnung, dass Jake jemals lesen würde, doch ich akzeptierte nicht, dass mir irgendjemand eine Obergrenze für das setzte, was ich von ihm erwarten konnte; schon gar nicht, wenn diese Grenze so niedrig war. An jenem Morgen kam es mir vor, als hätte Jakes Erzieherin die Tür zu seiner Zukunft zugeschlagen.
Es ist beängstigend für Eltern, den Ratschlag von Fachleuten zu ignorieren, doch ich fühlte, dass Jake uns entgleiten würde, wenn er im Sonderkindergarten bliebe. Also folgte ich meinem Instinkt und klammerte mich an die Hoffnung, anstatt aufzugeben. Ich versuchte nicht, seine Erzieher und Therapeuten davon zu überzeugen, ihre Erwartungen oder Methoden zu ändern. Dafür hatte ich weder die Zeit noch die Kraft. Ich wollte auch nicht gegen das System ankämpfen und anderen aufzwingen, was ich für Jake als richtig empfand. Anstatt mit Anwälten, Spezialisten und Rechtsberatern für Jake die Hilfe durchzusetzen, die er brauchte, wollte ich meine Energie lieber auf Jake selbst konzentrieren und alles Notwendige tun, damit er sein maximales Potenzial ausschöpfen konnte – was auch immer das sein mochte.
Also traf ich die gewagteste Entscheidung meines Lebens. Ich stellte mich gegen die Fachleute und sogar gegen meinen Mann Michael und beschloss, Jake in seiner Leidenschaft zu bestärken. Vielleicht versuchte er mit seinen geliebten Buchstabenkarten tatsächlich lesen zu lernen, vielleicht auch nicht. Ganz egal, anstatt sie ihm wegzunehmen, wollte ich dafür sorgen, dass er so viele davon bekam, wie er wollte.
?
Drei Jahre zuvor war ich überglücklich gewesen, als ich merkte, dass ich schwanger war. Ich war damals vierundzwanzig und hatte für die Rolle als Mutter geübt, solange ich denken konnte.
Schon als kleines Mädchen hatte für mich (und für alle, die mich kannten) festgestanden, dass Kinder in meinem Leben einen besonderen Platz einnehmen würden. Meine Familie nannte mich den Rattenfänger, denn wo immer ich hinging, heftete sich eine Kinderschar an meine Fersen, die gespannt auf ein Abenteuer wartete. Mein Bruder Benjamin wurde geboren, als ich elf war, und wich mir von Anfang an nicht mehr von der Seite. Mit dreizehn war ich bereits der gefragteste Babysitter der Nachbarschaft, und mit vierzehn übernahm ich die Leitung der Kinderkirche. Es überraschte deshalb niemanden, dass ich mir während des Colleges als Kindermädchen Geld dazuverdiente. Nach meiner Heirat verwirklichte ich schließlich meinen Lebenstraum und fing an, als Tagesmutter zu arbeiten. Mein ganzes Leben lang war ich umringt von Kindern gewesen, und nun erwartete ich voll Vorfreude ein eigenes.
Leider war der Weg zu Jakes Geburt nicht leicht. Trotz meines jungen Alters hatte ich während der gesamten Schwangerschaft große Probleme. Mein Blutdruck ging gefährlich in die Höhe, eine sogenannte Präeklampsie, die bei Schwangeren häufig auftritt und sowohl der Mutter als auch dem Kind schaden kann. Während meine Mutter bei der Betreuung der Tageskinder aushalf, tat ich alles, um mein Kind zu behalten. Trotzdem wurde die Schwangerschaft mehr und mehr zu einem Alptraum. Immer wieder bekam ich vorzeitige Wehen, weshalb mir die Ärzte schließlich Medikamente und strikte Bettruhe verordneten. Dennoch wurde ich neunmal ins Krankenhaus eingeliefert.
So auch drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, diesmal mit Wehen, die nicht mehr zu stoppen waren. Eine endlose Reihe von Komplikationen machte den Ausgang der Geburt immer ungewisser. Ständig piepsten irgendwelche Alarmsignale, es war ein hektisches Hin und Her von Ärzten und Schwestern, deren Gesichter immer angespannter wurden. Michael sagt heute, das sei der Tag gewesen, an dem er eindrücklich miterlebt habe, wie zäh und dickköpfig ich sein kann. Wie ich später erfuhr, hatte ihn ein Arzt beiseitegenommen und ihm mitgeteilt, wie ernst die Lage sei, und dass er darauf gefasst sein müsse, entweder mit einer Frau oder einem Baby nach Hause zu gehen, wohl aber nicht mit beiden.
Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, ist, dass inmitten dieser benebelnden Mischung aus Lärm, Schmerzen, Medikamenten und Angst plötzlich Michael an meiner Seite war. Er hielt meine Hand und sah mir fest in die Augen. Ich spürte die Kraft, die von seinem Blick ausging, und sie machte mir Mut. Es war, als hätte eine Kamera uns beide herangezoomt und den ganzen Tumult drum herum ausgeblendet. Für mich gab es in diesem Moment nur Michael – unglaublich stark und felsenfest entschlossen, zu mir durchzudringen.
»Hier geht es nicht um zwei Leben, Kris, sondern um drei. Wir stehen das hier gemeinsam durch. Wir schaffen es.«
Ich weiß nicht, ob es seine Worte waren oder der Blick in seinen Augen, aber sein eindringlicher Appell durchdrang meinen Nebel aus Schmerzen und Angst. Er zeigte mir, wie sehr er mich liebte, und ließ mich daraus Kraft schöpfen. Er wirkte so überzeugt davon, dass ich den Kampf um unser Leben gewinnen konnte, dass er Recht behielt. Als Dank dafür versprach er feierlich, für den Rest seines Lebens für mich und unser Kind eine stetige Quelle der Kraft und des Glücks zu sein. Er war wie der Kapitän eines Schiffes in Seenot, der mir befahl am Leben zu bleiben. Und das tat ich.
Ob er es wirklich gesagt hat oder ich es mir nur eingebildet habe, weiß ich nicht, aber ich hörte ihn ebenfalls versprechen, dass wir immer frische Blumen im Haus haben würden, bis ans Ende meines Lebens. Michael wusste, wie sehr ich Blumen liebte, aber den Luxus eines Blumenstraußes konnten wir uns nur zu ganz besonderen Anlässen leisten. Als ich am nächsten Tag unseren wundervollen kleinen Jungen im Arm hielt, schenkte mir Michael die schönsten Rosen, die ich je gesehen habe. Und obwohl seit diesem Tag dreizehn Jahre vergangen sind, bekomme ich noch immer jede Woche frische Blumen.
Wir hatten ein Wunder erlebt – ein glückliches Wunder. Damals konnten wir es noch nicht wissen, doch dies würde nicht das letzte Mal sein, dass unsere Familie auf eine harte Probe gestellt würde. Und es würde auch nicht das letzte Mal sein, dass wir eine schwierige Situation entgegen aller Wahrscheinlichkeit meisterten. Außer in Liebesromanen sprechen Menschen selten ernsthaft über die Art von Liebe, die alles möglich macht. Aber zwischen Michael und mir existiert diese Art von Liebe. Selbst wenn wir nicht einer Meinung sind, ist unsere Liebe ein Anker in rauer See. Tief in mir drin weiß ich, dass es Michaels Liebe war, die Jake und mich den Tag seiner Geburt hat überstehen lassen und alles, was seitdem passiert ist, möglich gemacht hat.
Beim Verlassen des Krankenhauses hatten Michael und ich alles, was wir uns je gewünscht hatten, und waren sicher, die glücklichsten Menschen der Welt zu sein.
Auf dem Nachhauseweg unterschrieben wir – mit unserem kleinen Jungen im Arm – das Darlehen für unser erstes Zuhause. Mit etwas Hilfe von meinem fantastischen Großvater John Henry hatten wir ein bescheidenes...