I. EINFÜHRUNG: OHNE KRIEG KEIN FORTSCHRITT – KONTINUITÄT IM DENKEN UND HANDELN
1. Immanuel Kant: Zur Notwendigkeit des Krieges in der Philosophie des Friedens
Wer den Krieg aus der Politik verbannen will, tut gut daran, sich bei dem Philosophen Immanuel Kant Rat zu holen. Wie müssen Staaten im Innern und in den Beziehungen zueinander geordnet sein, um friedensfähig zu werden? Darüber hat Kant in der kriegsmächtigen Zeit der Französischen Revolution und Napoleons nachgedacht; bis heute unüberholt. Den Krieg sah er als den «Zerstörer alles Guten», die stärkste Barriere, die es zu überwinden gilt, um sich an «die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung», die republikanische, anzunähern. Nur sie sei nicht «kriegssüchtig»; sie anzustreben bestimmte Kant als die moralische Pflicht der Menschheit.[1]
Um dieses «Fortschreiten zum Besseren» in Gang zu setzen, könne allerdings Änderungsgewalt notwendig sein. In «wilden Kämpfen» werde die ideale Verfassung zwar nicht erreicht, doch den «Krieg von innen und außen», also Bürgerkrieg und Staatenkrieg, erkannte auch Kant als ein Mittel an, Fortschrittsblockaden auf dem Weg in eine bessere Zukunft zu durchbrechen. Dieses Notrecht zur Gewalt in der Gestalt von Krieg und Revolution wollte er jedoch möglichst eng begrenzen. Den Angriffskrieg, für Kant der Inbegriff amoralischer Gewalt, schloß er strikt aus. Andere Kriegsgründe hingegen konnte er sich um des Fortschritts willen durchaus vorstellen. Sein realistisches Bild vom Menschen setzte zwar auf dessen Fähigkeit, das moralische Ziel der Menschheitsgeschichte – Kant bestimmte es als eine republikanische Weltgesellschaft ohne Krieg – zu erkennen, doch es werde immer nur die «Annäherung zu dieser Idee» möglich sein. Mehr lasse die Natur des Menschen nicht zu: «aus so krummem Holze, […] woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts gerades gezimmert werden».[2]
Die «ungesellige Geselligkeit der Menschen» macht sie, so Kant, bereit zum Krieg, doch ohne ihre «Begierde zum Haben» und «zum Herrschen» würden auch «alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern». In Kants Anthropologie wird also der «Zwietracht», einschließlich des Krieges, ein Ort zugewiesen, an dem Gutes und Schlechtes aufeinander angewiesen sind. So hatte es schon, mehr als zweitausend Jahre zuvor, der Philosoph Heraklit gesehen: «Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König.» Und «alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit.»[3]
Ohne Krieg kein Fortschritt. So ungeschminkt hätte es Kant nicht formuliert. Doch seine Geschichtsphilosophie, die einen «Völkerbund» des ewigen Friedens entwirft, kommt ohne den Krieg als Fortschrittskraft auf dem Weg zu diesem hehren Ziel nicht aus. Auf der gegenwärtigen Kulturstufe galt auch ihm, dem großen Philosophen des Friedens, «der Krieg als ein unentbehrliches Mittel», das menschliche Geschlecht voranzubringen; «und nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Kultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich sein.»[4]
Wie die Menschen aus Katastrophen lernen, so auch die Staaten. Kant hoffte auf den Völkerbund der Zukunft, der zwischen den Staaten ermöglicht, was innerhalb eines Staates Pflicht ist: An die Stelle individueller Gewalt tritt das gesetzmäßige Handeln. Doch den Weg dahin, sein Ende ist für den Menschen unabsehbar, begleitet der Krieg als blutiger Lehrmeister: durch «Verwüstungen» zu der Einsicht, nur das Gesetz könne aus dem «Zustande der Wilden», der im Krieg immer wieder aufs neue auflebt, in einen «weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit» führen. Den letzten Schritt zum ewigen Frieden zwischen den Staaten sah Kant in der weltweiten föderativen «Staatenverbindung». Nicht ungefährlich, dieser ersehnte Weltfrieden, meinte er, denn die «Kräfte der Menschheit» könnten «einschlafen». Und zudem ein fernes Ziel – «Gott weiß wann» zu erreichen, also außerhalb jeder realistischen Planung, nur geschichtsphilosophisch als moralische Pflicht zu erkennen. Die «Gebrechlichkeit der menschlichen Natur» läßt in Kants Anthropologie den Weg zum Ziel werden. Als moralische Aufgabe der Menschheitsgeschichte jedem einzelnen vorgegeben, führt er über die Staaten der jeweiligen Gegenwart in die Staatenvielheit einer künftigen Weltföderation. Irgendwann, vielleicht.
Kant dachte nicht zentralistisch: nicht Weltstaat als Zwingherr zum Frieden auf dem «Kirchhofe der Freiheit»[5], sondern globaler Völkerbund autonomer Staaten; nicht auf Expansion angelegter Machtstaat, der Frieden mit Gewalt erzwingt, sondern friedenswilliger republikanischer Volksstaat. So nannte er einen Staat, der ungeachtet der Regierungsform die gesetzgebende von der vollziehenden Gewalt trennt. Den Nationalstaat als machtvolle Zentralisierungs- und imperiale Expansionsmaschine, wie er sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, hatte Kant nicht vor Augen. Sein Ideal war auch nicht die ethnisch homogene Nation im eigenen Staat. Eine Nation – Ein Nationalstaat, dieses Leitbild, das die weitere Entwicklung prägen sollte, machte er sich nicht zu eigen. Er verstand zwar Nation als ethnisch-kulturelle Abstammungsgemeinschaft. Doch auf ihr wollte er den Staat der Zukunft nicht aufgebaut sehen, sondern auf dem Volk, das er als die Rechtsgemeinschaft der Staatsbürger bestimmte, die nur jenen Gesetzen gehorchen, die sie sich in ihren repräsentativen Organen selber gegeben haben.[6] Dieser Rechtsgehorsam sei am wirksamsten, wenn der Staat nicht zu groß ist. In seinen geschichtsphilosophischen Erörterungen warb Kant für den räumlich begrenzten Volksstaat. Einen «Völkerstaat», der mehrere Völker zusammenzwingt, konnte er sich nur als einen Staat des Krieges vorstellen.[7]
Sein republikanischer Idealstaat ließ sich durchaus als Nationalstaat entwerfen. Doch was seit dem 19. Jahrhundert zur Normalität werden sollte, hatte Kant nicht vorausgedacht: ohne Krieg kein Nationalstaat – Sezessionskrieg oder Vereinigungskrieg, nicht selten beides. Kant ordnete den Krieg trotz der Erfahrung mit der Französischen Revolution weiterhin ausschließlich dem monarchischen «Staatseigentümer» und seiner Regierung zu. Die «Staatsgenossen» hingegen, das Volk oder die Nation als Fürsprecher von Krieg waren in seiner Geschichtsphilosophie nicht eingeplant. Ist der Untertan zum Staatsbürger und damit auch zum «Staatsbürger in Waffen» geworden, so werde er den Krieg nur im äußersten Notfall beschließen. Auch den Nationalstaat als imperialistischen Machtstaat hatte Kant nicht vorausgesehen. Doch den Krieg als Fortschrittsmotor zum Wohle der Gesellschaft anzuerkennen, darin stimmte er überein mit den Liberalen des 19. Jahrhunderts, die sich gerne auf ihn beriefen. So auch Karl von Rotteck 1840 im «Staats-Lexikon», dem Grundbuch des deutschen Frühliberalismus:
«Die Erfüllung des Wunsches nach einem allgemeinen und ewigen Frieden ist jedoch kaum zu erwarten, und wenn sie je Statt fände, so würde es wahrscheinlich auf Unkosten noch höherer Güter geschehen, als diejenigen sind, deren Verlust der Krieg uns aussetzt. Der Preis dafür oder das Mittel seiner Herstellung möchte nämlich die Errichtung eines Weltreiches […] sein, folglich der Untergang aller Freiheit der Völker, wie der Einzelnen […]. Schon dadurch, daß er solches äußerste Unheil verhütet, erscheint der Krieg als unermeßlich wohlthätig. Er setzt nämlich voraus und erhält die Selbständigkeit der einzelnen Nationen, und nährt in ihnen die Kraft und den Muth, die sie solcher Selbständigkeit werth macht. Und trotz aller Leiden und Schrecknisse, trotz aller Grausamkeiten, Rechtsverachtungen, Verwüstungen und Verwilderungen, die er nach sich zieht, ist gleichwohl der Krieg die Quelle manches Guten und Heilsamen. […]
Der Krieg ruft alle menschlichen Kräfte zur Thätigkeit auf, setzt alle Leidenschaften in Bewegung und eröffnet allen Tugenden wie allen Talenten die weiteste Sphäre der Ausübung. Ohne Krieg, d.h. eingewiegt in allzu langen Frieden, würden die Völker erlahmen, in Feigheit, Knechtssinn und schnöden Sinnengenuß versinken, so wie das stehende Wasser faul wird […]. Jedenfalls ist der Kriegsmuth die unentbehrlichste Schutzwehr für Freiheit und Recht, und die Kriegskunst das Product wie das Bollwerk der Civilisation.»[8]
Karl von Rotteck, einer der prominentesten deutschen Liberalen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sprach aus, wovon die...