VORWORT
Im Bann der Zahlen
Durch die Schiebetür betrat sie das staubige Büro und gab mir die Hand. »Juanita.«1
Das große ausgeblichene Sweatshirt ließ sie kleiner wirken, als sie ohnehin war. Nachdem sie auf dem Klappstuhl gegenüber von mir Platz genommen hatte, erklärte ich ihr auf Spanisch, dass ich für eine niederländische Universität arbeitete und in Bolivien über Glück und Einkommensunterschiede forschte. Deshalb würde ich ihr gerne einige Fragen stellen, wie sie über ihr Leben und ihr Land denkt.
Wie oft ich diesen Spruch schon aufgesagt hatte. Seit zehn Tagen interviewte ich Einwohner der bolivianischen Kleinstadt Tarija nahe der argentinischen Grenze. Ich hatte mit Marktfrauen gesprochen, mit Erdbeerbauern Bier getrunken, mit Familien gegrillt – all das, um möglichst viele Daten zusammenzutragen. Heute hatte es mich mit meinen Fragebögen in das Büro einer Frauenorganisation verschlagen. Die Direktorin hatte mir angeboten, mich mit empleadas domésticas, mit Hausangestellten, in Kontakt zu bringen. Mit Frauen wie Juanita.
»Also, fangen wir an«, sagte ich. »Wie alt sind Sie?«
»58.«
»Welcher ethnischen Gruppe gehören Sie an?«
»Aymara.« Sieh mal an, dachte ich, sie gehört zu einer der indigenen Bevölkerungsgruppen. Bislang war ich von ihnen nur wenigen begegnet.
»Familienstand?«
»Ich lebe allein.«
»Können Sie lesen?«
»Nein.«
»Schreiben?«
»Nein.«
So ging ich meinen Fragebogen durch – Beruf? Bildungsstand? Besitzt sie ein Handy, einen Kühlschrank, einen Fernseher?
»Ich verdiene zweihundert Bolivianos im Monat«, sagte sie, als ich mich nach ihrem Gehalt erkundigte. Das war weit unter dem Mindestlohn von 815 Bolivianos, den Präsident Evo Morales vor kurzem eingeführt hatte. »Ich habe Angst, dass mich meine Chefin entlässt, wenn ich sie um mehr Geld bitte. Ich wohne in einem carpita.« Ich notierte das Wort, wusste aber nicht, was es bedeutete. Erst später begriff ich: Sie wohnte in einem Zelt.
Schließlich kamen wir zu dem Teil meiner Studie, um den es mir hauptsächlich ging: Glück und Einkommensungleichheit. An meinem Schreibtisch im elften Stock der Erasmus Universität Rotterdam hatte ich fünf PowerPoint-Diagramme erstellt. Jedes markierte eine andere Einkommensverteilung. Alle enthielten die gleiche Anzahl an Quadraten, mein Professor hatte mich das doppelt und dreifach überprüfen lassen.
Doch schon an meinem ersten Forschungstag in Bolivien wurde mir bewusst, dass die Frage nach Einkommensunterschieden nicht bei jedem funktionieren würde. Die Marktfrauen verstanden beispielsweise nicht, was meine Diagramme darstellen sollten. Wie konnte ich nun also erwarten, dass Juanita – die weder lesen noch schreiben konnte – die Frage nach der Einkommensungleichheit begreifen würde? Also beschloss ich, diesen Teil zu überspringen.
Doch bevor ich die nächste Frage stellen konnte, begann sie selbst darüber zu sprechen: »Wissen Sie, wie das in Bolivien ist?« Sie richtete sich auf. »Es gibt hier eine riesige Gruppe armer Leute und eine winzige Gruppe reicher. Und der Unterschied wird immer größer. Und dann wundert man sich, dass keiner mehr dem anderen vertraut!«
Ohne es zu wissen, hatte sie gerade Diagramm A beschrieben. Und sie hatte damit auch gleich zwei weitere meiner Fragen beantwortet, über ihre Ansichten zur Zukunft und über das gegenseitige Vertrauen im Land. Ich hatte sie völlig unterschätzt. Ich bekam einen roten Kopf, doch ich fuhr mit dem Interview fort, als wäre nichts geschehen. Zeit für die abschließenden Fragen.
»Wie glücklich sind Sie auf einer Skala von eins bis zehn?«
»Eins.«
»Was meinen Sie, wie glücklich Sie in fünf Jahren sein werden?«
»Eins.«
Ich glaube, damals, während dieses Interviews im Jahr 2012, habe ich angefangen, Zahlen zu misstrauen. Bis dahin hatte ich die Zahlen, die mir in Zeitungen oder in den Nachrichtensendungen präsentiert wurden, einfach konsumiert. Während meines Studiums der Ökonometrie hatte ich das Zahlenmaterial für meine Hausarbeiten von meinen Dozenten bekommen oder hatte sie von den Webseiten der Weltbank und anderen Organisationen heruntergeladen.
Nun aber bekam ich keine fertigen Kalkulationstabellen mehr. Nun war ich selbst die Datensammlerin. Seit einem Jahr war ich nämlich Doktorandin. Zahlen waren mein Fachgebiet, doch das Gespräch mit Juanita brachte meinen Glauben an Zahlen ins Wanken. Ich wollte Juanitas Glück erforschen, aber konnte ihr Leben in einem Carpita nicht in Zahlen ausdrücken. Ich hörte mir ihre Meinung über die Einkommensunterschiede an, konnte aber ihre Aussagen nur mit den Diagrammen A, B, C, D oder E vergleichen. Vieles von dem, was sie sagte, war nicht zählbar – aber es zählte.
Juanita brachte mir noch etwas Anderes bei, nämlich, dass ich einen großen Einfluss darauf hatte, was Zahlen ausdrücken sollen. Ich fand Glück wichtig und dachte, es wäre auf diese Weise messbar. Ich hatte mir am Schreibtisch ausgedacht, diese abstrakte Frage in Diagrammen auszudrücken. Ich glaubte, Juanita wäre nicht schlau genug, um etwas zur Einkommensungleichheit zu sagen. Ich, ich, ich. Jemand anderes mit denselben Forschungsfragen, aber anderen Überzeugungen und Sichtweisen, wäre wahrscheinlich zu ganz anderen Resultaten gekommen. Zahlen sollten objektiv sein, doch mit einem Mal erkannte ich, wie sehr sie von der Persönlichkeit des Forschenden abhängen.
Nach dem Gespräch tippte ich in Reihe 80 meiner Excel-Tabelle Juanitas Angaben: 58 (Alter), 200 (Gehalt), 1 (Glück). Es sah genauso ordentlich aus wie alle Spreadsheets, die ich in den vergangenen Jahren heruntergeladen hatte. Doch nun bemerkte ich plötzlich, wie trügerisch diese Ordnung war.
Schon als Kindergartenkind war ich den Zahlen verfallen. Als ich gerade gelernt hatte zu zählen, war ich von Zahlenbildern begeistert. In einer meiner ersten Erinnerungen zeichne ich im Schwarzwald-Urlaub aus diesem Zahlenwirrwarr Schneemänner oder Wolken. Wenig später schenkten mir meine Großeltern einen Radiowecker. Nachts starrte ich vom Bett aus auf die Leuchtziffern und bildete aus den vier Zahlen alle möglichen Summen. In der Schule war Mathe mein Lieblingsfach, und schließlich entschied ich mich für das Studium der Ökonometrie, ein Fachbereich, in dem ich auch promovieren sollte. Ich lernte alles über die Statistik, die hinter den Wirtschaftsmodellen steckt. Ich rechnete, analysierte, programmierte. Und so studierte ich, was ich schon als Kind bei den Zahlenbildern getan hatte: die Suche nach Mustern hinter den Zahlen.
Doch Zahlen spielten in meinem Leben noch eine andere Rolle. Sie gaben mir Halt. Zwischen meinem fünften und meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr wurde ich in der Schule und der Universität mithilfe von Zahlen beurteilt. Zahlen waren für mich der Gradmesser meiner Leistungen. Bekam ich eine schlechte Note, stürzte ich in eine Krise. Eine gute Note aber ließ mich durch das Leben fliegen. Dass ich den Lehrstoff nach ein paar Tagen wieder vergessen hatte, kümmerte mich wenig, wenn nur der Notendurchschnitt stimmte. Auch außerhalb der Bildungseinrichtungen hielt ich mich an Zahlen fest. Als ich aus Bolivien zurück war, zeigte die Waage 56 Kilo an. Ein Body-Mass-Index von 18,3 – was war ich stolz.
Aber nicht nur ich wurde von Zahlen angetrieben. An der Universität wurden diejenigen Kollegen bevorzugt, die genügend Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht hatten. In dem Krankenhaus, in dem meine Mutter arbeitete, sehnte man jedes Jahr die Veröffentlichung der Krankenhaus-Top-100 des Algemeen Dagblad herbei. Und mein Vater wurde mit fünfundsechzig in Rente geschickt.
Erst später wurde mir bewusst, dass Juanita mir auch über diese Art der Zahlen etwas Wichtiges offenbart hatte. So wie ich Einfluss auf die Daten habe, die ich sammele, so haben andere Menschen Einfluss auf die Zahlen, die das Leben von mir und anderen bestimmen. Lehrer bestimmen, was eine gute Note verdient, Ärzte entscheiden, welcher BMI akzeptabel ist, Entscheidungsträger bestimmen, in welchem Alter man in Rente gehen soll.
Nach meiner Promotion 2014 beschloss ich, Journalistin zu werden. Denn noch etwas hatte ich bei meinem Gespräch mit Juanita gelernt: Ich fand die hinter den Zahlen verborgenen Geschichten interessanter als die Zahlen selbst. Bei De Correspondent, einer journalistischen Online-Plattform, fing ich unter dem Namen correspondent Ontcijferen (»Korrespondent Entziffern«) an zu schreiben. Dieses Entziffern hatte für mich eine doppelte Bedeutung. Ich wollte den Lesern damit bewusstmachen, wie Zahlen zustande kommen, aber auch die Frage aufwerfen, ob Zahlen innerhalb der Gesellschaft vielleicht weniger wichtig genommen werden sollten. Sollten wir uns von ihnen befreien, sollten wir uns ent-ziffern?
Schnell merkte ich: Das Thema fiel auf fruchtbaren Boden. Leser schickten mir zahlreiche Beispiele für verzerrte Umfragen, irreführende Grafiken, unzureichend belegte wissenschaftliche Studien. Häufig wimmelte es in ihnen von Fehlern, die mir während meiner Promotionszeit selbst unterlaufen waren. Bei Diskussionen auf Kongressen und durch Feedback auf die Publikation meiner Forschung wurde ich darauf gestoßen, dass meine Stichproben nicht repräsentativ gewesen waren oder dass ich Korrelation mit Kausalität verwechselt hatte. Jetzt entdeckte ich dieselben Fehler bei Zahlen,...