Geräuschlos und zügig: Die Agenda für TTIP
Seither laufen die Verhandlungen unter höchster Geheimhaltung. Als ginge es nicht um ein Projekt der globalisierten Wirtschaft, das 820 Millionen Menschen mehr oder weniger direkt betreffen wird, sondern um ein höchst brisantes, militärstrategisches Vorhaben, in das nur die ranghöchsten Generäle und Staatsmänner eingeweiht werden dürfen. Diesen Eindruck erwecken jedenfalls die Verhandlungsführer und Macher hinter den Kulissen. In den USA ist das der jetzige oberste Handelsbeauftragte Michael Froman, Nachfolger von Ron Kirk, in Europa waren es bis Ende 2014 der für den Handel zuständige EU-Kommissar Karel De Gucht und sein oberster Verhandlungsführer Ignacio Garcia Bercero, ein altgedienter EU-Beamter, Direktor in der Handelsabteilung der Kommission und dort unter anderem für die Vereinigten Staaten zuständig. Sein Gegenüber Dan Mullaney war schon einmal vier Jahre lang Handelsattaché in Brüssel und ist seit den Neunzigerjahren ein führender Beamter im Handelsministerium der USA mit einem Faible für Belgien und Frankreich.
Karel de Gucht, Jahrgang 1954, kommt von den flämisch-belgischen Liberalen und war von 2004 bis 2009 Belgiens Außenminister, bevor er 2010 zum EU-Handelskommissar ernannt wurde. Er ist zweifellos ein strammer Marktradikaler, der vor starken Worten nicht zurückschreckt und dem einen oder anderen Skandal auch nicht aus dem Weg geht. So geriet er im Oktober 2008 in den Verdacht des Insiderhandels: Seine Frau und sein Schwager hatten Aktien der belgischen Fortis Bank verkauft – wenige Stunden nachdem das Kabinett, dem De Gucht damals angehörte, im Zuge der Finanzkrise die Verstaatlichung der Bank beschlossen hatte. Öffentlich bekanntgegeben wurde das allerdings erst ein paar Stunden später, und da hatten Frau und Schwager ihre Aktien bereits verkauft. Ein merkwürdiger Zufall.
Man kann also sagen, Karel De Gucht ist mit allen Wassern gewaschen. Sein Mantra lautet: »Wir leben in einer globalisierten Welt, das ist nicht zu ändern, aber wir wollen sie wenigstens gestalten.«3 Wer genau die Gestalter sind, ist allerdings die Frage, und wenn Karel De Gucht gestaltet, dann tut er das bisweilen auf recht ruppige Art. So, wenn er TTIP-Kritiker einlädt, ihre Einwände zum Investorenschutz auf einer Online-Plattform der EU einzutragen und der Server dann wegen 149 399 Eingaben zwischenzeitlich zusammenbricht: »Das war eine regelrechte Attacke. Dass so viele Beiträge identisch sind, spricht für eine konzertierte Aktion.«4 Und wenn man ihm vorhält, dass bereits eine halbe Million Europäer gegen TTIP unterschrieben haben, wird er schon mal pampig: »Ich spreche für 50 Millionen Europäer, sie haben also immer noch einiges zu tun«, sagte er etwa bei einer Anhörung Anfang Mai 2014 im Berliner Wirtschaftsministerium.
»Der große Kampf im Welthandel der Zukunft«, weiß der Handelskommissar, »wird sich um Normen, Standards, Staatshilfen und Regulierungen drehen, nicht mehr um Zölle. Wir Europäer müssen global die Standards setzen, damit es nicht andere für uns tun.«5 Eigentlich war es sein Ziel gewesen, die Verhandlungen geräuschlos und flott bis Herbst 2014, spätestens aber bis Frühjahr 2015 über die Bühne zu bringen.
Daraus ist nichts geworden, wie man weiß, und obwohl Karel De Gucht angeblich am liebsten selbst weiterverhandelt hätte (»ein neuer Kommissar verliert sechs Monate«6), wechselte er dann doch das Fach und wurde nach der Europawahl 2014 Kommissar für Außenpolitik. Seine Nachfolgerin als Handelskommissarin und damit zuständig für die Verhandlungen über das umstrittene Freihandelsabkommen mit den USA ist die Schwedin Cecilia Malmström, von 2010 bis 2014 EU-Kommissarin für Innenpolitik. Auch sie ist natürlich eine klare Verfechterin des Freihandels, geht aber weniger forsch vor als De Gucht. Immerhin verspricht sie, die Argumente der TTIP-Gegner ernst zu nehmen und »mehr Transparenz in die Verhandlungen« zu bringen, und zu den umstrittenen Investitionsschutzklauseln sagt sie: »Wir müssen aufpassen, dass daraus keine Geheimgerichte werden, über die Unternehmen Staaten ihre Regeln überstülpen können.«7 Ob das rein taktische Äußerungen sind, muss sich allerdings erst noch erweisen.
Die von De Gucht gewünschte zügige Agenda bei den Verhandlungen war allerdings schon Mitte 2013 ins Stocken geraten. Nach der ersten Verhandlungsrunde vom 7. bis 12. Juli 2013 in Washington folgten 2013 noch zwei weitere Gesprächsrunden in Brüssel und Washington, aber bis dahin waren – trotz äußerster Geheimhaltung und öffentlich nicht bekanntgegebener Versammlungsorte – bereits so viele Details aus Grundsatz- und Verhandlungspapieren an die Öffentlichkeit gelangt, dass keine Chance mehr bestand für ein simples »Weiter so!«. De Gucht musste zeitweise sogar die Verhandlungen über das besonders umstrittene Investorenklagerecht aussetzen.
Zu diesem Zeitpunkt war schon nicht mehr allzu viel zu retten. »Wer so verschwiegen vorgeht, der muss allerhand zu verbergen haben«, sagte sich die öffentliche Meinung, und das, was sie auf vielerlei Umwegen über TTIP, aber auch über die höchst geheim nahezu ausverhandelten Abkommen TiSA und CETA erfuhr, ohne dass irgendjemand groß Wind davon bekommen hätte, machte die Sache nicht einfacher.
Verhandelt wird seitdem ungefähr im Monatstakt. Etwa 80 Köpfe stark soll die europäische Delegation jeweils sein, bis zu acht Arbeitsgruppen brüten parallel in den Konferenzsälen über der Einfuhr von europäischem Rindfleisch in die USA und umgekehrt, über der Einfuhr von Kleinlastern nach Amerika und den Klagerechten, die Investoren eingeräumt werden sollen. Und das, was hier ausgehandelt wird, dient zugleich als Standard für viele weitere internationale Abkommen. Wenn die Amerikaner den Europäern entgegenkommen, dann wird China als größte Wirtschaftsmacht dieses Entgegenkommen sehr wahrscheinlich auch einfordern, sollte es Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen geben.
Und so mühen sich die Verhandlungspartner durch die Agenda. Die Europäer, so heißt es, treten den Amerikanern zu selbstbewusst auf, die Amerikaner wiederum sind wenig kompromissbereit, was Investorenschutzrechte sowie Leistungsschutz- und Patentrechte angeht. Dazu kommt eine empörte Öffentlichkeit in Form von Umweltschutzverbänden, Verbraucherschützern und Gewerkschaften, die man zumindest formal und zum Schein irgendwie einbinden soll, neben all den Interessengruppen und Lobbyverbänden aus der Wirtschaft.
Und die nationalen Parlamente sind keineswegs gewillt, die Verhandlungskommission einfach machen zu lassen und danach mit Ja oder Nein abzustimmen. Im Gegenteil: Es sieht ganz danach aus, als wollten sowohl der US-Kongress als auch die 28 nationalen Parlamente Europas noch mitreden und Änderungen am fertigen Vertragswerk vornehmen, Geheimklauseln und Nebenabreden kippen und die Delegationen zum Nachverhandeln wieder in die Brüsseler und Washingtoner Kongresszentren schicken. Karel De Gucht wollte das für Europa vermeiden und hat deshalb den Europäischen Gerichtshof eingeschaltet. Der sollte entscheiden, ob die einzelnen Staaten überhaupt ein Mitspracherecht haben. Wie das Gericht entscheiden soll, ohne den Vertragstext zu kennen, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Seine Nachfolgerin Malmström rechnet jedenfalls damit, wie sie im November 2014 der Süddeutschen Zeitung sagte, dass sowohl CETA als auch TTIP ein sogenanntes »gemischtes Abkommen« sein werden, das alle Mitgliedsländer einzeln ratifizieren müssen.8
Die Wirtschaft braucht bald keine Regierungen mehr
Was nationale Parlamente in wirtschaftlichen Fragen überhaupt noch entscheiden dürfen, sollte das Freihandelsabkommen in seiner reinsten Form in Kraft treten und der freie Handel die Macht übernommen haben, ist die große Frage. Ihre Kompetenzen, was den gemeinsamen internationalen Handel angeht, haben die nationalen Volksvertretungen mit dem Vertrag von Lissabon ja bereits an die EU-Kommission abgetreten. Und Karel De Gucht war zum Beispiel der Ansicht, dass einem fertig ausverhandelten TTIP nur noch das Europaparlament zustimmen müsse, nicht aber die 28 Länder-Parlamente. Aus seiner Sicht ist das verständlich, denn die Geschichte lehrt: Bei 28 Ländern kann leicht einmal etwas nicht so laufen, wie ein Handelskommissar sich das vorstellt.
Was die Genehmigungspraxis angeht, dürfte De Gucht sich ohnehin getäuscht haben. Der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel etwa ist der Ansicht, dass es sich bei TTIP um ein sogenanntes »gemischtes Abkommen« handele, bei dem auch nationale Zuständigkeiten betroffen seien – und dann müssten eben doch wieder alle 28 Länder zustimmen. Das, finden nicht nur die Deutschen, sei ohnehin sinnvoll. Würde nur das Europaparlament gefragt, wüchse der Widerstand noch, sagt Gabriel: »Dann wird es nichts mit dem Abkommen.«9
Wenn es aber kommt? Dann ist es jedenfalls noch lange nicht fertig. Denn ebenso wie beim Dienstleistungsabkommen TiSA soll ein Mechanismus ins Vertragswerk eingebaut werden, der automatisch Aktualisierungen und Änderungen aufnimmt, ohne dass nationale Regierungen groß gefragt werden müssten. Diese Aufgabe soll einem...