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Ich brauchte weniger als vier Tage, um die unterschiedlichen Denkschulen in Seaview zu durchschauen. Nicht, daß sie so schwer auszumachen gewesen wären; die Betreuer machten kein Hehl aus ihren Ideologien. Die vorherrschende Richtung bestand aus den Zwölf Schritten, die, zusammengefaßt, besagten, daß Essen und das, was man damit machte, suchterzeugend sein können. Eine Rose war eine Rose war eine Rose, daher war die Behandlung dieselbe wie bei Alkoholikern und Drogenabhängigen, allerdings leicht kompliziert durch die Tatsache, daß man (leider, leider) niemals gänzlich auf den Stoff verzichten konnte. Wir nahmen an mindestens einem Zwölf-Schritte-Treffen pro Tag sowie Workshops dazu teil. Die berühmten Schritte hingen auf riesigen Tafeln an den Wänden jedes Behandlungszimmers. Die am häufigsten wiederholten Slogans waren wie bei Ziertüchern auf Deckchen und Kissen in unseren Schlafzimmern gestickt. Als ich nach Seaview kam, war mir sofort aufgefallen, daß die Leute komisch redeten; die ständige Wiederholung gewisser Sätze hatte etwas Ansteckendes.
Die zweite Theorie lehnte sich eher an Freud als an Bill W. und Dr. Bob an, die Begründer der Anonymen Alkoholiker. Sie besagte, daß Eßstörungen nur ein Symptom einer umfassenderen psychischen Störung sind. Man heile das wahre Problem, und die Eßstörung verschwindet. Diese Theorie war nicht so unvereinbar mit der Lehre von den Zwölf Schritten, wie es zunächst den Anschein hatte. Gert, die oberste Verfechterin der Zwölf Schritte, sagte, Sucht sei eine physische, spirituelle und emotionale Erkrankung, die an allen Fronten gleichzeitig bekämpft werden müsse. Daher wurden Psychositzungen nicht nur gefördert, sondern waren obligatorisch. All das erklärte die endlose Folge von Einzel-, Gruppen- und Familientherapien, die wir besuchten. So weit waren sie sich alle einig: Die Heilung würde durch Reden erfolgen.
Schließlich gab es noch den feministischen Standpunkt, der in Seaview höchstens am Rande vertreten war. Dana, bei der ich Einzeltherapie hatte, war die Hauptverfechterin. Die Grundthese war, daß Frauen, als sie zu Beginn der siebziger Jahre, während und nach der Frauenbewegung, mehr öffentlichen Raum einzunehmen begannen – also in der Arbeitswelt, in der Politik und in den Spätnachrichten –, immer weniger privaten Raum beanspruchen durften. Mit anderen Worten, Frauen hatten physisch kleiner zu sein, zu Hause, in der Küche und im Bett. Es war eine schöne, saubere Theorie: Damals war Twiggy in Mode gekommen. Die dicken Mädchen liebten sie, denn die Behandlungsstrategie bestand darin, keine Diäten mehr zu halten und aufzuhören, die eigene Figur verändern zu wollen. Wir alle waren so, wie wir sein sollten, auf die verschiedensten Weisen geformt, nicht nach einem einzigen und einzigartigen Ideal. Aber die meisten von uns wollten sich darauf nicht einlassen. Ich konnte beinahe sehen, wie sich der kollektive Gedanke bildete: Da fangen die Feministinnen schon wieder an, Häßlichkeit zu rationalisieren.
Nicht, daß ich mich nicht als Feministin betrachtet hätte. Das durchaus. Aber wie die meisten Frauen meines Alters konnte ich den Feminismus ein- und ausschalten. Und außerdem war ich Katholikin. Ich war als junges Mädchen konvertiert, praktizierte aber nicht mehr, als ich nach Seaview kam. Was bedeutete, daß ich als Feministin und Katholikin gleichzeitig zwei entgegengesetzte Meinungen im Kopf haben konnte.
Es ist wohl nicht überraschend, daß unsere Tage in Seaview durchstrukturiert waren. Nach dem Mittagessen hatten wir Eßgruppe, wo wir – so etwas kann man nicht erfinden – über das sprachen, was wir gerade gegessen hatten. Wenn wir unsere Tabletts zurückgegeben hatten, wurden die Tische der Cafeteria beiseite geschoben, und wir rückten unsere Stühle zu einem lockeren Kreis zusammen. Die Cafeteria-Damen schlossen das Bedienungsfenster, ließen eine Trennwand herunter wie eine Jalousie und machten sauber, unbeobachtet von uns, obwohl wir ihre Geräusche aus der Küche hören konnten, nasale South-Shore-Akzente, die das Surren des Geschirrspülers, das Klirren von Geschirr gegen Glas und das Kratzen großer Besen übertönten. Es waren tröstliche Geräusche. Der einzige Trost während der Eßgruppe.
Wir rochen die Suppe des folgenden Tages, wenn wir darüber sprachen, wie es sich anfühlte, Essen zu schmecken, zu schlucken und zu verdauen. Gewöhnlich Gemüsesuppe. Ohne Kartoffeln, sondern mit Kohl, Zwiebeln, Karotten und so weichem Sellerie, daß man ihn am Rand des Suppentellers zerdrücken konnte. Ein Hauch schwarzer Pfeffer. Heute hatten wir Hühnersuppe mit Nudeln bekommen, und ich konnte noch immer das Hühnerfett auf meinen Lippen schmecken. Ständig wischte ich mir mit der Serviette, die ich behalten hatte, den Mund ab. Die Bulimikerinnen waren um diese Zeit besonders verstört. Sie konnten es nicht ertragen, irgend etwas in ihrem Körper zu haben. Die Nahrung in Hals und Speiseröhre zu spüren, ohne das Versprechen der Erleichterung, war Folter. Sie zeigten dahin, wo das Essen steckenblieb – über dem Brustbein, in der dreieckigen Vertiefung, wo die Schlüsselbeine zusammentreffen. Sie rieben sich das Dreieck mit dem Finger, wie man einer Katze die Kehle reibt, damit sie eine Pille schluckt. Sie konnten nicht stillsitzen.
Gert fing an: «Okay, wer ist die erste?»
«Mir ging es gut, absolut gut. Ich fühlte mich hungrig und dann satt. Es war nichts als Essen.»
«Gut, Janine.»
Alle haßten sie, nicht bloß ich. Es war, als wolle sie Klassensprecherin werden. Sie sagte nie etwas Falsches.
«Sonst noch jemand?» fragte Gert. Louise fing an zu weinen.
Gert ließ sie eine Weile in Ruhe. Sie liebten es, wenn man weinte. Dann fragte sie: «Können Sie uns sagen, warum Sie weinen? Warum Sie traurig sind?»
Louise weigerte sich, den Kopf zu heben. Ihr wirres braunes Haar hing ihr ins Gesicht und klebte an den nassen Wangen. Sie trug eine für Dicke ungünstige Frisur: Das Haar war gerade geschnitten, aber so, daß es im Nacken am kürzesten und auf den Seiten am längsten war, was die Fettwülste an ihrem Hals exponierte. Die Frisur sollte ihr aufgedunsenes Gesicht einrahmen, ihm irgendwie Form geben, aber das war unmöglich. Louises Gesicht war endlos, ein Gesicht in einem Gesicht in einem Gesicht.
«Ich weiß, wie schwer es ist, etwas aufzugeben», sagte Gert.
Alle Betreuer waren von eigenen Eßstörungen genesen; im Gegensatz zu den Psychoklempnern liebten sie es, ihre persönlichen Geschichten zu erzählen, die sie für inspirierend hielten. Und weil sie denselben Weg hinter sich hatten, galten sie als einfühlsamer.
«Vor allem Langvertrautes», sagte Gert. «Ich weiß noch, als ich zu trinken aufhörte, war das, als verlöre ich meine beste Freundin.» Von Gert wußte man, daß sie doppelt abhängig gewesen war – Essen und Alkohol –, das verlieh ihr ein gewisses Format.
Louise fing plötzlich an, über ihre Eltern zu reden. Mom war eine brillante Astronomin, Dad Lehrer für höhere Mathematik. Beide Collegeprofessoren, aber die Berühmtheit war Mom. Louise jammerte über die Qual, die es bedeutete, die unbegabte Tochter eines ehemaligen Wunderkindes zu sein, das bei einem IQ-Test als an der Grenze zum Genie eingestuft worden war. Sie gab abstoßende Schniefgeräusche von sich, bis Gwen ihr ein Papiertaschentuch reichte.
Gert war erfreut. Unzusammenhängende Äußerungen wurden in Seaview geschätzt, vor allem solche, die irgendein persönliches Trauma enthüllten. Frage eine Patientin, wie sie in der High-School zurechtkam; wenn sie antwortet, daß ihr Bruder versucht hat, sie in der Badewanne zu ertränken, als sie drei war, dann weißt du, daß das direkt aus dem UB kommt – dem Unbewußten. Manchmal, vor unseren Versammlungen, machten wir das, was sie gelenkte Visualisierung nannten, um das UB zu stimulieren. Anscheinend war das Unbewußte so etwas wie ein Raum am Ende eines langen Korridors oder wie eine private Grotte, von der nur man selbst etwas wußte.
Louises Ausbruch erwies sich als Höhepunkt der Eßgruppe. Die zwanghaften Esserinnen standen die Stunde schmollend durch. Die Bulimikerinnen waren die einzigen, die redeten, aber sie behielten dauernd die Tür im Auge. Die Anorektikerinnen schwiegen vor lauter Erniedrigung, daß man sie hatte essen sehen. Gwen wandte den Blick nicht von Louise. Amy beschäftigte sich mit dem Saum ihres karierten Rockes. Ich war still und eigentlich nur minimal gestreßt. Ich aß bei den Mahlzeiten nicht mein ganzes Essen; bisher hatte ich das jedesmal geschafft. Was immer ich konnte, gab ich Louise.
Wir machten das schnell und sauber. Ich aß die weichen Speisen zuerst – Reis, Bohnen, Erbsen, die Gemüse waren immer eine Idee zu lange gekocht. Das Hühnerfleisch (oder den Hamburger oder das Fischfilet) schnitt ich in winzige Bissen. Zerschnitten sah das Essen nach weniger aus. Die großen Sachen hob ich für Louise auf – Kartoffeln, Brötchen, Dessert. Ich schob sie durch den Gummizug meiner Hose in das Bein meiner Unterhose.
Die junge Krankenschwester, die uns die Tür der Toilette öffnete, las gewöhnlich Schund: «Die andere Seite des Mondes/Berges/Zaubers» usw. Sie bevorzugte historische Romane. Wir redeten über Bücher, während ich in der Schlange wartete. Die Schlange wuchs. Louise stand zwei Plätze hinter mir.
Drinnen stapelte ich eine Pyramide von Kohlehydraten auf den Behälter mit dem Toilettenpapier und wartete, bis Louises überraschend winzige Füße unter der Tür meiner Kabine erschienen. Ich spülte und schob den Riegel auf. Louise blickte nicht auf, wenn sie an mir vorbei in die Kabine schlüpfte.
Die meisten Leute glauben, daß...