Prolog
Ein Leben im Frack
Ich mache mich auf den Weg zu einer Legende. Zu einem Mann, der bereits seit über achtzig Jahren für sein Publikum präsent ist und der es verstand, gleich mehrere Generationen zu bezaubern. Ein Jahrhundertstar, von dem mir einst meine Großmutter vorschwärmte und dessen Filme meine Mutter als junges Mädchen gesehen hat. Der schon über seinen Rückzug nachdachte, als ich geboren wurde, und der heute mit fast hundert Jahren immer noch auf der Bühne und vor den Kameras steht. Dem sein unermüdliches Bühnenengagement 1997 sogar einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde einbrachte, als Schauspieler, der als weltweit ältester »en suite« auf der Bühne gestanden hat. Der nach wie vor eine feste Größe in der Medienlandschaft ist: Johannes Heesters.
Im Flugzeug von Köln nach München, wo ich ihn zum ersten Mal treffen werde, stelle ich mir die Frage, was mich erwartet, welchen Eindruck der Mann – über den ich in den zurückliegenden Wochen und Monaten so viel gelesen habe – in der persönlichen Begegnung auf mich machen wird. Ich habe mir vorgenommen, alles, was mir an Klischees über ihn begegnet ist, hinter mir zu lassen – soweit dies irgend möglich ist. Hinter die Kulissen seiner außergewöhnlichen Karriere zu blicken ist meine Absicht, zu ergründen, was der Privatmann Heesters mit dem öffentlichen Heesters zu tun hat, den Millionen kennen und lieben.
Wenige Stunden später führt mich seine Frau Simone Rethel in die viel zu kleine Garderobe, die man sich mit den anderen Mitgliedern des Ensembles teilen muss, mit dem er zur Zeit Tschechows Kirschgarten spielt. Ein nüchternes Ambiente. Unweigerlich frage ich mich, wie es für Heesters wohl ist, so untergebracht zu sein. Denkt er an die weiträumigen Garderoben des Amsterdamer Paleis voor Volksvlijt, des Berliner Metropol-Theaters oder anderer großer Häuser, an denen er einst gespielt hat und an deren Bühnenausgängen die Frauen scharenweise auf ihn warteten, um ihm zuzujubeln, um ein Autogramm zu ergattern oder ihm unmoralische Angebote zu machen? Nachdem ich mich an den riesigen Kartons mit den Kostümen vorbeigezwängt habe, stehe ich ihm gegenüber und bin verblüfft, nach zweieinhalbstündiger Vorstellung keineswegs einen müden und erschöpften Mann vorzufinden. Nein, Heesters plaudert, in der Hand eine Flasche Mineralwasser, mit einer jungen Kollegin. Er wirkt gelöst, entspannt, zufrieden mit sich und der Welt. Der Applaus seines Publikums hat ihm auch an diesem Abend ganz offensichtlich wieder neue Lebenskraft gegeben.
Schlagartig wird mir bewusst, wie groß die Diskrepanz zwischen dem Image des eleganten Lebemannes, des liebenswertdraufgängerischen Herzensbrechers auf der einen und dem Menschen Johannes Heesters auf der anderen Seite sein muss. Zwar ist er auch im Privaten ganz der Kavalier alter Schule und entschuldigt sich mit einem Lächeln, dass er zu meiner Begrüßung nicht eigens aufstehe, dennoch ist er hier weit entfernt vom umjubelten und strahlenden Star, wirkt vielmehr nachdenklich, bescheiden. Die Bühnenstimme, in der immer das auftrumpfende Timbre des Operettenkönigs mitschwingt, hat er abgelegt, er spricht leise, langsam, zurückgenommen, mit großem Bedacht. Doch all das schmälert nicht seine Ausstrahlung, ja seinen Charme. Ganz im Gegenteil. Auch in diesem Moment noch, als er kurz vor seinem 99. Geburtstag in der etwas zu großen Strickjacke in der bescheidenen Garderobe vor mir sitzt, kann ich nachvollziehen, warum Millionen von Frauen ihn anhimmelten und von ihm träumten, wenn sie ihn auf der Leinwand oder der Bühne sahen, warum Millionen von Männern sich wünschten, einmal so elegant, formvollendet und weltgewandt zu sein – und einmal solchen Erfolg bei Frauen zu haben wie er.
Spätestens in diesem Moment wird mir bewusst, dass meine Beschäftigung mit Johannes Heesters noch manche Überraschung bringen, dass meine Recherche manch Unerwartetes zu Tage fördern wird. Gerade weil in der Vergangenheit so häufig die Rollen und Klischees mit dem Menschen verwechselt wurden, der hinter diesem Image steht und von dem man letztlich nur wenig weiß, ist es mir wichtig, mit den vielfältig wuchernden Klischees aufzuräumen, um ein möglichst authentisches und facettenreiches Bild des Menschen und Künstlers Johannes Heesters zu zeichnen.
Es ist der 16. November 2002. München-Unterhaching. Tschechows Kirschgarten, jene melancholische Komödie über die Ablösung des Überkommenen durch das Gegenwärtige, des Alten durch das Neue, entstand 1903, im Geburtsjahr von Johannes Heesters. Es ist sicher kein Zufall, dass der hochbetagte Mime kurz vor seinem 99. Geburtstag in einer mehrmonatigen Theatertournee gerade die Rolle des alten Dieners Firs spielt, der ein Symbol der Vergangenheit ist, einer, den man aus Versehen im versteigerten, nun leerstehenden Anwesen vergisst und der beschließt zu sterben, weil er nicht bereit ist, die alte Welt, aus der er stammt und die ihm Heimat war, aufzugeben – wissend, dass es in der neuen Welt keinen Platz mehr für ihn geben wird. Eine große Altersrolle, zweifellos, die Heesters nach seiner langen Schauspielerlaufbahn noch immer mit außergewöhnlicher Bühnenpräsenz, mit markanter und fester Stimme füllt.
Tschechows Kirschgarten demonstriert, wie unüberwindbar die Kluft zwischen der alten und der neuen Welt ist: Auf der einen Seite die in der Vergangenheit lebende Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranewskaja, die unfähig ist, etwas gegen die Zwangsversteigerung ihres Besitzes zu unternehmen, auf der anderen Seite der Kaufmann Jermolaj Alexejewitsch Lopachin, der das Gut, auf dem seine Vorväter noch als Leibeigene gearbeitet haben, erwirbt, es einebnen und den wunderbaren Kirschgarten roden lässt, um darauf eine Reihe schmucker Wochenendhäuser zu errichten. Der alte Firs ist in diesem durcheinandergeratenen Kosmos, inmitten des radikalen Umbruchs, zum Sterben verurteilt. In der neuen Welt wird er niemals ankommen, sein altes Leben aber hat sich aufgelöst, es ist spätestens in dem Moment vorbei, als seine Herrschaft, heimatlos geworden, in alle Winde zerstreut wird, neuen und unklaren Zielen entgegen. Nur er bleibt zurück, legt sich, seiner Kraft und Energie beraubt, zum Sterben nieder, während dumpfe Axthiebe das Ende des Kirschgartens besiegeln. Eine große Szene für Heesters, die letzte des Stücks. Vorher aber darf ihm seine zweite Frau, die Schauspielerin Simone Rethel, noch eine Liebeserklärung auf offener Bühne machen. Sie verkörpert die Rolle der Charlotta Iwanowa, einer eigenwilligen Gouvernante, die ihre Umwelt mit kleinen Zauberkunststücken und mit Bauchreden zum Lachen bringt. Das »Zeit für dich, zu sterben, Großvater«, das Charlotta Iwanowa im Originaltext Tschechows zum alten Firs zu sagen hat, wurde in der Inszenierung gestrichen. Statt dessen darf Simone Rethel gestehen: »Ich liebe Dich, alter Mann.«
Nicht nur Heesters’ Frau, auch der Großteil des Publikums wird in diesem Moment eine tiefe Zuneigung zu dem Mann verspüren, dessentwegen man ins Theater gekommen ist – gerade weil Johannes Heesters nicht, wie der alte Firs, ein ausgedientes Symbol der Vergangenheit ist. Der Blick auf das Leben und insbesondere auf die Alterskarriere dieses großen Mimen wird zeigen, dass Heesters selbst keineswegs ein Mensch ist, der schwelgerisch oder melancholisch der Vergangenheit nachhängt, in Erinnerungen ertrinkt oder an der Gegenwart verzweifelt, sondern der auch noch in hohem Alter voller Neugier auf neue Anregungen und Impulse reagiert, mitten im Berufsleben steht, ein Mann, der zwar durchaus auch ein Symbol der Vergangenheit ist, für den es aber dennoch einen Platz in der Gegenwart gibt und der deshalb plant, seine Karriere auch noch über seinen 100. Geburtstag hinaus fortzusetzen.
Im Unterhachinger Kulturzentrum herrscht an diesem Abend großer Andrang. Schon seit Wochen ist die Vorstellung restlos ausverkauft. Auch mir gelang es nur durch Glück und Zufall, noch eine Karte zu ergattern. Schon an der Kasse bekomme ich zu spüren, wie die Atmosphäre des Abends sein würde. Die anderen Gäste werden namentlich und mit Handschlag begrüßt, keiner versäumt, sich in epischer Breite und in stärkstem bayerischen Dialekt nach den kürzlich geborenen Zwillingen des Kartenverkäufers zu erkundigen. Man kennt sich, es geht familiär zu. Die Gespräche im Foyer offenbaren schnell, dass man gekommen ist, um Johannes Heesters zu sehen. Er ist die Trophäe, die an diesem Abend präsentiert werden soll.
Der Großteil der Besucher ist im Rentenalter, der hohe Anteil von Besucherinnen fällt auf. Das sind sie wohl: Heesters’ Verehrerinnen, Frauen, die den Star schon in ihrer Jugend angehimmelt haben. Johannes Heesters ist für sie eine feste Größe in ihrem Leben, er tritt immer noch auf und strahlt auf der Bühne, während man selbst sich mit manchen Sorgen des Alters herumzuplagen hat. So ist es fast selbstverständlich, dass man heute abend gekommen ist, um ihm seine Reverenz zu erweisen. Man ist gespannt, ob und wie der beinahe Hundertjährige den Abend meistern wird – und kann sich bald schon davon überzeugen, dass er es mit Bravour tut. Und natürlich trägt er auch an diesem Abend das Kleidungsstück, in dem er berühmt geworden ist. Einst erzählte man sich gar die Anekdote, dass der Frack überhaupt erst für Heesters erfunden worden sei, so sehr identifizierte man ihn damit.
Als der Vorhang fällt, tost begeisterter Beifall los. Standing ovations für Heesters, natürlich, die sind für einen Schauspieler in diesem Alter selbstverständlich. Anschließend im Foyer strahlende Augen. An diesem Abend scheinen sich – wenn auch spät – unzählige Jungmädchenträume erfüllt zu haben. Auch...