Vorwort zur deutschen Ausgabe
von Douglas Murray
Roger Scrutons Schaffen umfasst eine außerordentliche Vielfalt an Themen. Er schrieb über Musik, Architektur, Ästhetik und Philosophie, und die Werke in jedem einzelnen dieser Bereiche würden schon ausreichen, um ein Lebenswerk für vollendet zu erklären und ihm zu gönnen, dass er sich der Muße hingibt. Hinzu kommen Romane, Erzählungen, mehrere Opern, unzählige Kolumnen und noch einiges mehr.
Doch es ist das Thema des Konservativismus, zu dem Scruton immer wieder zurückkehrte und zu dem er von seinen Lesern auch immer wieder zurückgerufen wurde. Die Gründe dafür sind in gewisser Weise offenkundig. Obwohl es vielen nicht bewusst sein mag: Unsere Zeit braucht Denker, und ganz besonders Denker von konservativer Gesinnung. Wie Scruton in seinem 1985 veröffentlichten Buch Thinkers of the New Left (das 2015 unter dem Titel Fools, Frauds, Firebrands in einer aktualisierten Ausgabe erschienen ist) zeigte, herrscht in der modernen Welt kein Mangel an linksradikalen Denkern. Diese Philosophen der Dekonstruktion (die sich im Gegenzug von Scruton dekonstruieren lassen mussten) wurden während der letzten Generationen vom Rückenwind der Kultur und der akademischen Welt getragen. Zu ihnen gehört auch die Generation, in der Scruton aufgewachsen ist, und in der er zur politischen und intellektuellen Reife gelangte. Die oben erwähnten Denker – Deleuze, Derrida, Foucault und andere – luden ihre Leser in ihr intellektuelles Revier ein, und sehr viele folgten ihnen dorthin. Sie sogen die Ideen dieser Denker auf und eigneten sie sich an, selbst wenn sie gar nicht versucht hatten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. So lief diese Kultur allmählich auf Grund, und sie war nicht nur abstoßend, sie lieferte auch eine widernatürliche Interpretation von uns selbst.
Doch es reicht nicht aus, solche Denker zu dekonstruieren. Es reicht auch nicht aus, sie zu kritisieren und zu zeigen, wo sie im Unrecht sind. Die wirkliche Aufgabe ist es – und dieser Aufgabe widmete sich Scruton während seines ganzen Arbeitslebens –, eine alternative Vorstellung von einem intellektuellen und auch einem einfachen Leben aufzuzeigen. Eine Vorstellung zu bieten, die verwirklichbar und auch wahr ist.
Nur wenige zeitgenössische Denker können so über die Bedeutung der Dinge nachdenken wie Scruton, und keiner kann es mit einer solchen Vielfalt an philosophischen und kulturellen Bezügen. Nur wenige, wenn überhaupt, sind imstande, eine Schneise durch das alles verschlingende Dickicht der üblen Ideen zu schlagen, die unsere Kultur überwuchert haben. Genau das ist der Grund, warum Leser in aller Welt Scruton schätzen.
Doch warum fühlte sich Scruton immer wieder von diesem Thema angezogen? Der Grund dafür zeigte sich schon in seinem Buch The Meaning of Conservativism (1980) und wird offensichtlich in dem Werk, das Sie gerade in der Hand halten. Sein Vorhaben bestand im Wesentlichen darin, den Lesern kulturelle und intellektuelle Begründungen zu liefern – man könnte auch von »Rüstzeug« sprechen –, um sie zu befähigen, für die Wahrheit streiten zu können. Und dies ist eine wichtigere und kompliziertere Aufgabe, als es zunächst erscheinen mag.
Sie ist kompliziert, weil die intellektuelle Kultur – mit ihren verheerenden Auswirkungen sowohl auf Intellektuelle als auch Nicht-Intellektuelle – gegen die natürlichen Instinkte der Menschen argumentiert. Wenn Menschen aus einem natürlichen Instinkt heraus an der traditionellen Familie festhalten wollen, wird ihnen erklärt, dass diese Teil eines abscheulichen Netzes von naturwidriger Unterdrückung und Hierarchie sei. Wenn sie Loyalität gegenüber einer Nation empfinden, wird ihnen erklärt, dass diese Loyalität nur in eine Richtung führe, nämlich in die Hölle. Wenn sie an einer Kultur festhalten wollen, die ihre Vorfahren als Bereicherung empfanden und von der sie deshalb annehmen, auch sie könnten durch diese bereichert werden, dann sagt man ihnen, dass diese Kultur nicht nur bedeutungslos, sondern auch beispiellos bösartig und aus der Sünde geboren sei.
Derart ist die Denkkultur, in der die letzten Generationen erzogen wurden. Es ist – wie Scruton sie bezeichnet hat – die »Kultur der Selbst-Zurückweisung«. Und diese Kultur ist es, die Menschen ermutigt hat, auf der Suche nach Sinn bis ans Ende der Welt zu gehen, ihm aber zu entsagen und ihn anzugreifen, wenn sie ihm vor ihrer eigenen Haustür begegnen.
Das Problem dabei ist – und das weiß Scruton besser als alle anderen –, dass dieses Denken die Menschen allein in der Welt zurücklässt. Sie haben keinen Anker mehr und keine Beziehung zu einem Ort, und sie werden so zum Opfer von jeder Schwärmerei und jeder vorübergehenden Mode, egal wie krank oder gutartig diese auch sein mögen. Unter diesen Umständen ist es nicht weiter überraschend, wenn Menschen infolge solcher Schwärmereien in den wütenden Tonfall verfallen, der die Auseinandersetzungen unserer Zeit in besonderem Maße prägt. Die Raserei entsteht nicht allein durch die jeweils aktuelle Wut, sondern durch ein tiefes Gefühl des nirgendwo Hingehörens, durch das Empfinden, dass die Welt, in der man sich befindet, nicht so ist, wie es einen gelehrt wurde.
Warum ist es so schwer, über den Konservativismus zu schreiben? Der Grund besteht darin, dass Dinge gesagt werden müssen, die man früher nicht sagen musste, weil sie selbstverständlich waren. Philosophen und Denker gehen oft bis an die äußersten Grenzen, und dies führt dazu, dass die Auseinandersetzung mit Ideen, die bereits bekannt sind, auf der Liste der Prioritäten immer weiter zurückfällt. So lange, bis das, was einmal bekannt war, in Vergessenheit gerät und deshalb von Neuem erklärt, verteidigt und unterstützt werden muss.
Manche glauben, dass der Konservativismus eine politische Idee sei, die von den weniger Klugen und den weniger Kultivierten verfolgt wird. Wahr an dieser Behauptung ist, dass viele Menschen neue Ideen mit einem instinktiven Argwohn verfolgen, nicht, weil sie diese prinzipiell ablehnen, sondern weil sie die Gefahr spüren, zu der diese neuen Ideen – insbesondere die revolutionären unter ihnen – führen können. Während viele Intellektuelle daran arbeiten, Ideen zu erschaffen, die zu einer perfekten Gesellschaft führen sollen, erinnern sich viele daran, wohin utopische Ideen im Laufe der Geschichte tatsächlich geführt haben. Sie versuchen lieber, ein gutes Leben in einer guten Gesellschaft zu führen, statt sich so schlecht zu benehmen, wie es anscheinend notwendig ist, um die perfekte Gesellschaft zu errichten. Diesen Instinkt haben die meisten Menschen, möglicherweise hat ihn die Mehrheit der Gesellschaft. Doch er wird kaum von den Denkern an den Universitäten oder außerhalb unterstützt.
Konservativismus bedeutet vieles, und viele dieser Themen werden in diesem Buch erklärt. Unter ihnen sind die Tugenden der Anerkennung und der Vergebung, wie Scruton seit vier Jahrzehnten nicht aufgehört hat, seinen Lesern nahezubringen. Seine Philosophie ist auch eine der Dankbarkeit für die Güter, die unseren Vorfahren gut gedient haben und uns ebenso gut dienen könnten.
Denker gehören sowohl zu einem Ort als auch in eine Zeit, und dementsprechend wurde Scruton oft als ein ausgesprochen englischer Philosoph eingeordnet. Das liegt in gewisser Weise auf der Hand. Nicht nur ist England der Ort, an dem er geboren wurde. Auch hat sich Scruton während seines ganzen Lebens begeistert mit den intellektuellen und kulturellen Fragen Englands auseinandergesetzt und rief damit oft die Wut seiner Zeitgenossen hervor. Seine Schriften über die Fuchsjagd gehören für jene, die Lust auf Ketzerjagd haben, zu den ketzerischsten überhaupt. Doch er zeigte in seinen Essays zum Thema (insbesondere in dem Kleinod von Memoire mit dem Titel On Hunting, 1998), dass die Erörterung eines solchen Gegenstandes eine Sicht ermöglicht, die weit über das eigentliche Thema hinausreicht. So handelt die Jagd nicht vom Jagen allein, sondern von den Landschaften und den Menschen, die sie betreiben, den Dingen, die Menschen dabei anstellen und letztlich von der Bedeutung des Ortes, den sie bewohnen. Die Leser dieses Buches werden wissen, dass darin nicht allein Fragen über Engländer, sondern auch über Heidegger beantwortet werden.
Englisch zu sein gehört untrennbar zum persönlichen Charakter Scrutons. Doch obwohl dies die Verwurzelung an einem Ort bedeutet, weist es auch darüber hinaus. Es hat mich in den vergangenen Jahren auf meinen Reisen durch unseren Kontinent immer wieder überrascht, wie viele Menschen – egal welchen Alters und welcher Klassenzugehörigkeit – Roger Scruton zitierten. Wann immer ich mich über den Zustand des Denkens in Großbritannien beklagte oder ihn negativ mit der intellektuellen Kultur anderer Länder verglich, kam das Gegenargument auf: »Aber ihr habt doch Roger Scruton!« Einerseits ist es rührend, dass Menschen einem...