1. Die Anfänge
Das vorislamische Arabien
Terra incognita?
In seiner Biographie des Propheten Muhammad beschreibt der Historiker Ibn Ishāq (gest. 767),[1] wie sich ʽAbdallāh, der zukünftige Vater des Propheten, mit seinem Vater auf den Weg zur Familie Āminas machte, um ihr vorgestellt und mit ihr verheiratet zu werden. Unterwegs ging er an einer Frau vorbei, die ein Licht von ihm ausgehen sah und ihm ein Geschenk anbot, wenn er sogleich mit ihr Geschlechtsverkehr habe. ʽAbdallāh lehnte mit Blick auf seinen Vater, den er begleitete, ab. Als er am nächsten Tag, nachdem er Āmina geehelicht und mit ihr den Propheten gezeugt hatte, zu jener Frau zurückkehrte, um auf ihr Angebot zurückzukommen, zeigte sie sich ihrerseits nicht mehr interessiert. Auf seine Frage nach dem Grund der Ablehnung sagte sie: «Das Licht, das dich gestern begleitete, hat dich verlassen. Ich brauche dich deshalb nicht mehr.» Ibn Ishāq berichtet weiterhin, dass diese Frau die Schwester eines Christen namens Waraqa gewesen sei und durch ihn um die erwartete Ankunft eines neuen Propheten gewusst habe.
Die Frage der Historizität dieser Überlieferung einmal beiseitegelassen, reflektiert die Geschichte ein auf der Erzählebene offenbar als nicht anstößig empfundenes Angebot einer Frau an einen Mann zum Geschlechtsverkehr und belegt zugleich die Vorstellung einer Lichtmetaphorik, also eines mit der männlichen Abstammungslinie Muhammads verbundenen, offenbar im Sperma verankert gedachten Lichts als Ausdruck der göttlichen Erwähltheit. Nach der Empfängnis trug nun Āmina das Licht in sich.
Kann aus dieser Geschichte abgeleitet werden, dass in der vorislamischen Gesellschaft Mekkas, in die hinein Muhammad um das Jahr 570 geboren wurde, eine sexuelle Initiative einer Frau als akzeptabel galt? Oder ging es der Frau nur darum, den Samen, in dem das «Licht Muhammads» schlummerte, aus selbstsüchtigen Zwecken zu ergattern, um zur Prophetenmutter zu avancieren? Wie war die soziale Stellung der Frauen in jener Zeit, welche Rechte hatten sie? Zwei gegensätzliche Positionen werden häufig vertreten: Zum einen wird argumentiert, die Stellung der Frau sei in vorislamischer Zeit besser gewesen, Frauen hätten eine größere Bewegungs- und Handlungsfreiheit gehabt; zum anderen wird behauptet, der Islam habe zahlreiche Verbesserungen gebracht und der Frau Rechte gegeben, die sie in vorislamischer Zeit nicht hatte. Tatsächlich erlaubt die schwierige und sehr magere Quellenlage nur in wenigen Punkten einigermaßen gesicherte Aussagen.
Fest steht, dass der Prophet Muhammad um das Jahr 570 in der Stadt Mekka auf der Arabischen Halbinsel geboren wurde. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben, seine Mutter starb wenige Jahre nach seiner Geburt. Muhammad wuchs als Waise bei seinem Onkel Abū Tālib auf, der zum Clan der Hāschim und zum Stamm der Quraisch gehörte. Dieser ernährte das Waisenkind und bot ihm Schutz, ein in der damaligen tribalen Gesellschaft überlebensnotwendiger Akt. Das Leben auf der Arabischen Halbinsel war durch teils nomadisierende Stämme geprägt, die untereinander häufiger in Fehde als in Frieden lebten. Familie, Clan und Stamm bestimmten den Platz des Individuums in der Gesellschaft und gaben ihm Rechtssicherheit. Zugleich gab es städtische Zentren von überregionaler wirtschaftlicher, religiöser und politischer Bedeutung: beispielsweise Mekka, die Geburtsstadt Muhammads, aber auch Yathrib, das spätere Medina, wohin Muhammad im Jahr 622 emigrierte. Blutfehden der Stämme wurden an bestimmten Orten, beispielsweise Mekka, zu festgesetzten Zeiten ausgesetzt, so dass die Menschen in einer konfliktfreien Atmosphäre zu kulturellen und religiösen Anlässen zusammenkommen konnten. Mekka war durch seine Lage an den Handelswegen von Südarabien in die Levante nicht nur eine Handels- und Wirtschaftsmetropole ersten Ranges, sondern durch das Heiligtum der Kaʽba auch religiöses Zentrum. Diese Stätte, die später zum Ziel der islamischen Pilgerfahrt werden sollte, galt schon in vorislamischer Zeit als heiliger Ort.
Zwar wurden in Mekka und den umliegenden Siedlungen mehrere Götter und Göttinnen angebetet, jedoch zeichnen sich schon für diese Zeit Tendenzen zum Monotheismus ab, zur Verehrung eines Gottes, der einfach den Namen al-Lāh, «der Gott», trug, welcher im Koran zum islamischen Gottesnamen (arab. Allāh) wurde. Die Arabische Halbinsel lag zwischen den damaligen Großmächten des Byzantinischen Reiches in Kleinasien und des sassanidischen Reiches im Gebiet des heutigen Iran, und die Existenz christlicher und jüdischer Gemeinden ist verbürgt. So soll der Bruder der Frau, die sich ʽAbdallāh angeboten hatte, beispielsweise Christ gewesen sein, und jüdische Gruppierungen siedelten in Medina.
Die historischen Quellen stammen aus den folgenden Jahrhunderten. In diesen islamischen Überlieferungen wird die Zeit vor Muhammad als «Zeit der Unwissenheit» (arab. djāhilīya) gesehen, womit aus religiöser Perspektive die Zeit vor der göttlichen Offenbarung gemeint ist; die Bezeichnung impliziert jedoch einen Bruch in der geschichtlichen Kontinuität, so dass vorislamische Sitten und Bräuche aus der Perspektive der neu entstandenen Religion betrachtet wurden. Viele die vorislamische Zeit betreffende Nachrichten sind daher unzuverlässig, lückenhaft und widersprüchlich, und Historiker kommen in vielen Fällen nicht über Hypothesen hinaus. Seit den siebziger Jahren hat sich in der islamischen Welt verstärkt die Vorstellung durchgesetzt, die Entstehungszeit des Islams im 7. Jahrhundert sei auch für heutige Muslime als politisch maßgeblich zu betrachten. Dadurch setzte eine rückwärtsgewandte Idealisierung ein, eine aus der Perspektive des 20. oder 21. Jahrhunderts kommende Überformung der historisch ohnehin schwierig zu rekonstruierenden Vergangenheit. Die Biographie Muhammads von Ibn Ishāq ist uns beispielsweise in der Überlieferung von Ibn Hischām (gest. 830) erhalten, der mithin zweihundert Jahre nach dem Propheten lebte.
Die grundlegende Quelle für diese Zeit ist und bleibt der Koran, der nach muslimischer Vorstellung die Offenbarungen Gottes an Muhammad und die gesamte Menschheit enthält. Nach dem weitgehenden Konsens der westlichen wissenschaftlichen Forschung wurde er bereits wenige Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten aufgezeichnet. Er ist die Hauptquelle islamischer Spiritualität, Ethik, Religiosität, aber auch rechtlicher und sozialer Normen, besonders was die Geschlechterstellung und einige strafrechtliche Bereiche betrifft. Daneben bildet der «Brauch» (arab. sunna) im Sinne des «Brauchs des Propheten» (arab. sunnat an-nabī) die zweite große Quelle von Theologie und Recht. Dieser umfasst seine zu gesetzlich verbindlichen Präzedenzfällen erhobenen Aussagen und Handlungen, die in Traditionen (arab. hadīth, pl. ahādīth) überliefert sind. Diese Traditionen wurden erst im 9. Jahrhundert in kanonischen Werken gesammelt, von denen aus muslimisch-sunnitischer Sicht die beiden wichtigsten das des al-Bukhārī (gest. 870) und das des Muslim (gest. 875) sind. Die Schiiten, die zweite große religiöse Gruppe des Islams, erkannten andere Werke als zentral an, beispielsweise das des Ibn Bābūya (gest. 991). Muslimische Gelehrte halten diese Werke für authentische, tatsächlich auf den Propheten zurückgehende Überlieferungen, während die westliche Islamwissenschaft zurückhaltender ist und aufgrund historisch-kritischer Analysen diese Quellen nicht ohne weiteres als Ausdruck der historischen Realität des 7. Jahrhunderts anerkennt. Dennoch sind hier, neben dem Koran, zahlreiche Aussagen zur Geschlechterstellung gesammelt, die die Frage der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rolle von Frauen in der vorislamischen Zeit reflektieren.
Geschlechterrollen in der «Zeit der Unwissenheit»
Khadīdja, eine verwitwete Frau vom Stamm der Quraisch, dem auch Muhammad angehörte, betrieb im ausgehenden 6. Jahrhundert ein florierendes Handelsunternehmen in Mekka. Die Quellen berichten, dass ihre Angestellten Karawanen bis in das heutige Syrien begleiteten. Sie stellte den jungen und mittellosen Muhammad als Verwalter ihrer Handelswaren ein und schickte ihn vermutlich im Jahr 595 nach Bosra in Syrien. Nachdem er seine Aufgabe zufriedenstellend erfüllt hatte, bot sie ihm die Ehe an. Muhammad soll zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt gewesen sein, Khadīdja 40, nach anderen Quellen 28 Jahre. Ein weiteres Mal also wird von der Initiative einer Frau gegenüber einem Mann in der vorislamischen Zeit berichtet.
Zeit ihres Lebens blieb Khadīdja die einzige Frau, mit der Muhammad verheiratet war. Die Ehe brachte ihm materielle und emotionale Sicherheit, und dem Paar wurden mindestens fünf Kinder geboren, vier Mädchen und ein oder zwei Jungen. Nur eine der Töchter, Fatima (gest. 632), wurde als Mutter der beiden einzigen überlebenden Enkel Muhammads, Hasan (geb. 624) und Husain (geb. 625), für die islamische Geschichte bedeutsam. Verheiratet war sie mit ʽAlī b. Abī Tālib, dem Cousin des Propheten und Sohn seines Onkels Abū Tālib, der...