Vorwort
Der Kreisauer Kreis, der sich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs um die schlesischen Gutsbesitzer und Juristen Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg bildete, nimmt innerhalb der Widerstandsbewegung gegen Hitler einen besonderen Platz ein. In ihm versammelten sich Menschen sehr unterschiedlicher sozialer Herkunft, politischer Überzeugungen und konfessioneller Bindungen: Großgrundbesitzer und Gewerkschafter, Konservative und Sozialisten, Protestanten und Katholiken. Die meisten waren von Anfang an entschiedene Gegner des Nationalsozialismus; nicht wenige hatten ihre Ämter und Funktionen nach 1933 verloren, einige hatten bereits eine Leidenszeit in Gefängnissen und Konzentrationslagern hinter sich. In einem langwierigen Lern- und Diskussionsprozess verständigten sie sich auf ein gemeinsames Programm, das eine grundlegende politische und geistige Erneuerung Deutschlands vorsah. Ausgehend von kleinen Gemeinschaften, also von basisdemokratischen Initiativen, strebten die Kreisauer als Fernziel ein geeintes Europa an, in das sich Deutschland jenseits aller hegemonialen Versuchungen friedlich einfügen sollte. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik suchten sie einen dritten Weg zwischen sozialistischer Planwirtschaft und kapitalistischer Marktwirtschaft, der die Vorzüge der persönlichen Freiheit und des Wettbewerbs mit denen der sozialen Sicherheit und der Verpflichtung des Eigentums in Einklang bringen sollte.
Der Freundeskreis um Moltke und Yorck hat sich selbst nicht als «Kreisauer Kreis» bezeichnet. Der Name erschien zum ersten Mal in Berichten des Reichssicherheitshauptamts nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944, als die Ermittler allmählich dem verzweigten Netzwerk der Widerstandsgruppe auf die Spur kamen. Seitdem hat er sich in den Sprachgebrauch eingebürgert, und das zu Recht, denn in Kreisau, dem Sitz der Familie Moltke, fanden in den Jahren 1942 und 1943 die drei Tagungen statt, auf denen die wichtigsten Grundsatzbeschlüsse gefasst wurden – Dokumente, die in ihrer ethisch-moralischen Fundierung und der Spannweite der Ideen ihresgleichen suchen in der Geschichte des Widerstands.
In seinem Abschiedsbrief an Pater Alfred Delp, der mit ihm zusammen am 11. Januar 1945 zum Tode verurteilt wurde, schrieb Helmuth James von Moltke: Wir wollen, wenn man uns schon umbringt, doch auf alle Fälle reichlich Samen streuen. Und Delp selbst griff den Gedanken in einem Brief an seine Freunde wenige Wochen vor seiner Hinrichtung auf: Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind. Tatsächlich trugen die Männer und Frauen des Widerstands, und besonders die Mitglieder des Kreisauer Kreises, entscheidend dazu bei, dass sich für die Deutschen nach den Schrecken, die sie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus über die Völker Europas gebracht, und den präzedenzlosen Verbrechen, die sie in dieser Zeit verübt hatten, überhaupt noch eine politische Zukunft eröffnen konnte. Denn durch ihr Opfer hatten die Verschwörer vor aller Welt Zeugnis abgelegt, dass es ein «anderes Deutschland» gab, auch wenn es inmitten der nazifizierten «Volksgemeinschaft» nur eine verschwindende Minderheit darstellte.
Dennoch hat die historische Forschung relativ spät begonnen, sich mit dem Kreisauer Kreis zu beschäftigen. Erst 1967 erschien unter dem Titel «Neuordnung im Widerstand» die erste große wissenschaftliche Untersuchung, und sie wurde, vielleicht kein Zufall, nicht von einem deutschen Historiker geschrieben, sondern von dem Niederländer Ger van Roon. Der damalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, einst Mitglied des Kreisauer Kreises, würdigte das Werk in einer ausführlichen Rezension, ungeachtet mancher Einwände, als eine bedeutende Leistung. Damit seien überhaupt erst zureichende Voraussetzungen für die künftige historische Behandlung der Kreisauer geschaffen worden. Van Roons Pionierarbeit gab den Anstoß zu weiteren Forschungen. Auch in der Geschichtsschreibung der DDR, die sich bislang fast ausschließlich dem kommunistischen Widerstand gewidmet hatte, begann man nun, sich für den Kreisauer Kreis zu interessieren. 1978 veröffentlichte der Potsdamer Historiker Kurt Finker sein Buch «Graf Moltke und der Kreisauer Kreis», das trotz mancher dogmatischer Vorgaben ein insgesamt überraschend positives und differenziertes Bild der Widerstandsgruppe zeichnete. Finker konnte sich auf die Dokumente stützen, die van Roon in einem umfangreichen Anhang zugänglich gemacht hatte, darunter die wichtigsten Denkschriften und Grundsatzerklärungen des Kreisauer Kreises. Seitdem sind immer neue Quellen erschlossen worden. So konnte Wilhelm Ernst Winterhager bei seinen Recherchen zur Ausstellung über den Kreisauer Kreis, die im Juli 1985 in Berlin eröffnet wurde, bislang unbekannte Dokumente in Archiven des In- und Auslands aufspüren. Winterhager beschränkte sich freilich in seinem Begleitband zur Ausstellung nicht darauf, diese Funde zu präsentieren, sondern skizzierte zugleich ein Gesamtbild der Gruppe, das die damaligen Forschungen prägnant zusammenfasste. Ebenfalls in den 1980er Jahren wurde im Nachlass des Jesuitenpaters Lothar König ein Dossier entdeckt, in dem sich noch verschiedene Entwürfe und Vorarbeiten fanden, die als Diskussionsgrundlage für die drei Kreisauer Tagungen gedient hatten. Dieser Quellenkorpus wurde 1987 von Roman Bleistein vollständig ediert.
Ein Jahr später gab Beate Ruhm von Oppen die Briefe heraus, die Helmuth James von Moltke zwischen Kriegsbeginn 1939 und seiner Verhaftung im Januar 1944 an seine Frau Freya geschrieben hatte. Zwar hatte sie Ger van Roon bereits für seine Arbeit einsehen können, doch erst jetzt wurde offenbar, welch erstrangige Quelle der deutschen Widerstandsgeschichte sie darstellen. Als «eine Art Tagebuch» Moltkes charakterisierte sie Golo Mann: «Sie werfen ein so helles Licht auf ihn selber, auf seine engste und weiteste Umgebung, auf Gang und Stimmung der Ereignisse.» Was Moltke in Zwiesprache mit seiner Frau den Briefen anvertraute, gibt nicht nur Aufschluss über sein Denken und Handeln, sondern auch über die Entstehung des Kreisauer Kreises, die Entwicklung der programmatischen Debatten und die alltäglichen Mühen und Risiken des Kampfes gegen die Diktatur. Kein anderer prominenter Vertreter des Widerstands gegen Hitler hat ein Zeugnis von ähnlichem Rang hinterlassen.
Eine erste Biographie Helmuth James von Moltkes war bereits 1972 erschienen. Ihre Verfasser, die britischen Autoren Michael Balfour und Julian Frisby, hatten Moltke noch persönlich gekannt. Die Arbeit war ein letzter Freundschaftsdienst und setzte die Idealisierung Moltkes fort, wie sie in Großbritannien, seiner zweiten Heimat, nach 1945 im Schwange war. 1975 erschien eine deutsche Ausgabe, an der Freya von Moltke mitgewirkt und zu der sie viele Briefe und Dokumente ihres Mannes auch aus der Zeit vor 1939 beigesteuert hatte. Erst zum 100. Geburtstag Moltkes am 11. März 2007 veröffentlichte der Bochumer Theologe und Historiker Günter Brakelmann, der sich zuvor bereits in zwei Kompendien dem Kreisauer Kreis zugewandt hatte, eine neue Moltke-Biographie. Sie wurde zwar als ein Standardwerk angekündigt, blieb aber weit hinter den geweckten Erwartungen zurück. Immerhin konnte Brakelmann als Erster die unveröffentlichten Briefe heranziehen, die Moltke während seiner Haft im KZ Ravensbrück von Februar bis September 1944 an Freya schrieb, dazu auch Einsicht nehmen in ein Tagebuch, das jener damals führte.
Eine große Biographie, die der Bedeutung Moltkes gerecht wird, ist weiterhin ein Desiderat, und das gilt erst recht für seinen engsten Vertrauten, Peter Yorck von Wartenburg. Dagegen haben andere Mitglieder des Kreises mittlerweile eine angemessene biographische Würdigung erfahren – zum Beispiel Harald Poelchau (Klaus Harpprecht), Eugen Gerstenmaier (Daniela Gniss), Theodor Haubach (Peter Zimmermann), Alfred Delp (Roman Bleistein), Julius Leber (Dorothea Beck). Nicht bei allen Kreisauern ist das historische Bild bereits fest umrissen; über ihre Rolle im Widerstand gibt es Streit – so im Falle des Pädagogen Adolf Reichwein, der sich neuerdings Vorwürfe wegen einer angeblich zu weit gehenden Kollaboration mit dem NS-Regime ausgesetzt sieht.
«Ohne unsere Frauen und ihren Beistand wäre aus den Kreisauern schwerlich das geworden, was sie bis in den Tod waren und blieben: treuverbrüderte Gefährten.»
Eugen Gerstenmaier in seinen Erinnerungen
Neben Biographien liegt inzwischen auch eine Fülle von Erinnerungsbänden vor. Persönliche Rechenschaft abgelegt haben nicht nur die Männer, die überlebt hatten – Harald Poelchau, Theodor Steltzer oder Eugen Gerstenmaier –, sondern auch die Frauen, deren Anteil an der Arbeit des Kreisauer Kreises lange Zeit unterschätzt worden ist. An erster Stelle zu nennen sind hier Freya von Moltke und Marion Yorck von Wartenburg, die beide ihre Erinnerungen verfasst haben. Aber auch Barbara von Haeften, Rosemarie Reichwein, Clarita Trott zu Solz haben von ihrem Leben im Widerstand an der Seite ihrer Männer erzählt. So herrscht an wissenschaftlichen Studien, Quellensammlungen und persönlichen Zeugnissen kein Mangel, und gerade darin liegt ein starker Anreiz, ein Porträt des Kreisauer Kreises zu zeichnen, das den neuesten Erkenntnisstand reflektiert und vielleicht die eine oder andere Anregung...