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Der Krieg in den Köpfen.

Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in der deutschen Krisenerfahrung zwischen Julirevolution und deutschem Krieg.

AutorHilmar Sack
VerlagDuncker & Humblot GmbH
Erscheinungsjahr2010
ReiheHistorische Forschungen 87
Seitenanzahl278 Seiten
ISBN9783428526550
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis59,90 EUR
Trotz der Beachtung, die der Dreißigjährige Krieg seit jeher in der Geschichtswissenschaft gefunden hat, wurde sein lang anhaltender Einfluss auf das politische Denken und Handeln in Deutschland bisher kaum quellennah untersucht. Hilmar Sack zeigt mit besonderem Fokus auf die Revolution von 1848/49 und den deutschen Krieg von 1866, dass die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in der Epoche deutscher Nationalstaatsfindung zu den wesentlichen geschichtspolitischen Deutungs- und Argumentationsmustern zählte, um Krisenerfahrungen zu verarbeiten und nationalpolitische Zukunftsentwürfe zu begründen. Beim 'Krieg in den Köpfen' handelte es sich nicht nur um den erinnerten Dreißigjährigen Krieg der Vergangenheit, sondern auch um den imaginierten Krieg der Zukunft. Dies war unter den Bedingungen von Partikularismus und Konfessionalismus ein spezifisch deutscher Bürgerkriegsdiskurs, in dem Einkreisungsängste durch ein feindliches Ausland virulent wurden. Das aus dem 'Trauma' des Dreißigjährigen Krieges bezogene deutsche Selbstwertgefühl kam einem 'Tragikstolz' gleich. Die historische Opferrolle erklärte die realpolitische Schwäche in der Gegenwart. Zugleich schlossen die tradierten Demütigungserfahrungen im 'Martyrium' von Reformation und Glaubenskriegen den Erlösergedanken ein: den 'deutschen Beruf' als gemeinsame Mission. Der Dreißigjährige Krieg wurde jedoch nicht allein als Unglück verstanden, sondern immer auch als selbst verschuldet. Dies machte ihn zum argumentativen Steinbruch für politische Partizipations- und Führungsansprüche. So legitimierte sich 1848 der bürgerliche Mitgestaltungsanspruch gegenüber der absoluten Fürstengewalt auch darin, 200 Jahre nach dem 'falschen' Westfälischen nun in der Paulskirche den 'wahren' Frankfurter Frieden zu begründen. Im Dualismus zwischen Preußen und Österreich, der mit historischen Schuldfragen durchsetzt war, unterlief die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg nationalreligiöse Integrationsversuche und zog konfessionelle Frontlinien. Sie kamen in der geschichtlich begründeten Sinnhaftigkeit des Waffengangs von 1866 zum Ausdruck, vor allem in der Interpretation der Schlacht von Königgrätz als Ende des Dreißigjährigen Krieges.

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Leseprobe
C. Geschichtspolitik mit dem Dreißigjährigen Krieg (S. 43-44)

I. Zur Semantik der Krise – Der Dreißigjährige Krieg als Gegenstand von Revolutions- und Kriegserfahrung

Unter welchen gesellschaftspolitischen Bedingungen fand zwischen Julirevolution und Einigungskriegen die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg geschichtspolitische Anwendung? Zur Beantwortung dieser grundlegenden Frage zeichnen die folgenden Kapitel einen Dispositionsrahmen des politischen Diskurses in Deutschland, für den das Erleben einer anhaltenden Krise konstitutiv ist. Denn europaweit durchlebten die Menschen im 19. Jahrhundert mit dem Durchbruch zur Moderne eine Epoche von Transformationsprozessen auf politischer, sozialer und materiell-technischer Ebene.

Der Analyse dieser Krisenperzeption durch die gesellschaftlichen Deutungseliten in einer sich nachhaltig politisierenden deutschen Öffentlichkeit liegt ein konstruktivistischer Erfahrungsbegriff zugrunde, der Erfahrung als Verknüpfung von Erleben, Wissen, Deuten und Handeln begreift. Damit kann die Krisenerfahrung für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf zwei wesentlich miteinander verschränkten Ebenen betrachtet werden: erstens der historischen Verortung von Gegenwartsprozessen und zweitens der davon abgeleiteten Handlungsentwürfe für die Zukunft.

Als mit der Aufklärung geborene und in der Französischen Revolution wirksam gewordene politische Idee war der moderne Nationsgedanke ein gewichtiger Transmissionsriemen gesellschaftlicher Veränderungen. Politisch erwiesen sich die Modernisierung und das Ende der feudalen Gesellschaftsordnung als Legitimationskrise der überkommenen Herrschaftsstrukturen. Der Nationalismus, dessen Entwicklung vom Eliten- zu einem Massenphänomen (Wolfgang Hardtwig) in den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit fällt, war Ausdruck zunächst bürgerlicher, dann gesamtgesellschaftlicher Emanzipationsbestrebungen, die moderne Nation verkörperte damit also – in den Worten Reinhart Kosellecks – keinen Erfahrungs-, sondern einen Erwartungsbegriff.

Aus einer konstruktivistischen Perspektive erscheint sie als gedachte Ordnung. Diese imagined community beruhte auf „erfundenen“ Traditionen und einer politischen Utopie. Die hier vorgenommene Untersuchung fokussiert im Spannungsfeld von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auf die unterschiedlichen, aus der Geschichte abgeleiteten Deutschlandbilder mit ihren jeweiligen nationalpolitischen Handlungsentwürfen und nimmt dabei den Spannungsbogen aus nationalen Zukunftsängsten und Zukunftshoffnungen in den Blick. In Grundzügen soll zunächst das politische Feld abgesteckt und schlaglichtartig das historische Panorama erhellt werden, vor dem sich die wesentlichen Koordinaten der Geschichtspolitikmit dem Dreißigjährigen Krieg bestimmen lassen.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Vorwort6
Inhaltsverzeichnis8
A. Einleitung10
I. Theoretischer Bezugsrahmen14
II. Forschungsprogramm17
B. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg im Wandel vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis23
I. Die Rezeption des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens zwischen Reichsstaatsrecht, Nationalstaatsidee und deutschem Dualismus23
II. Die konkurrierenden Deutungsmuster der Epoche der Glaubenskämpfe31
1. Sieg- und Niederlagenerzählungen in der groß- und kleindeutschen Geschichtsschreibung: „Triumph von 1629“ versus „Translatio nationis“31
2. Zeugen der Anklage: Das „Verbrechen“ an den Deutschen und die Erzählungen von Held und Antiheld im Dreißigjährigen Krieg36
C. Geschichtspolitik mit dem Dreißigjährigen Krieg44
I. Zur Semantik der Krise – Der Dreißigjährige Krieg als Gegenstand von Revolutions- und Kriegserfahrung44
1. Reformation, Reich und Partikularismus – Das historische Erbe im deutschen Nations- und Revolutionsdiskurs45
a) Reformation und Revolution45
b) Reich und Nation52
2. Der „bewaffnete Frieden“ und die Gewaltbereitschaft der Nation58
a) Der „Prinzipienkrieg“ und die deutschen Bürgerkriegsängste60
b) Bürgerlicher Bellizismus zwischen Revolutions- und Nationalkrieg66
3. Zwischenfazit75
II. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg und die deutsche Revolution77
1. 1648 –1848: Ein vergessenes Jubiläum?77
2. 1648 als nationalpolitischer Mythos der Märzrevolution84
a) „Wie Zenith und Nadir, wie Anfang und Ende“: Der Westfälische Frieden und die nationale Legitimationsstiftung der Revolution84
b) Vom Westfälischen zum „Frankfurter Frieden“ – Die Verfassungsdebatte der Paulskirche zum Verhältnis von Staat und Kirche89
3. Jenseits der nationalen Einheitsrhetorik: Der Dreißigjährige Krieg und die inneren Konflikte der Nation94
a) Der Westfälische Frieden als Gegenstand konfessioneller Polemik und konservativer Revolutionskritik94
b) Parlamentspartikularismus und der ideologische Grabenkampf zwischen konstitutionellem Liberalismus und radikalen Demokraten102
4. Gescheiterte Revolution von unten – Das Aufbrechen des kleindeutsch-großdeutschen Konflikts111
5. Gescheiterte „Revolution von oben“: Die Unionspolitik Preußens125
6. Verfestigung der Argumentationsmuster und Ausblickbis zur Epoche der Einigungskriege133
III. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg und der innerdeutsche Krieg148
1. Der „komplexe“ Krieg von 1866148
2. Vor der Schlacht von Königgrätz: Der Krieg als territorialer Macht- und als ideologischer Kulturkampf157
a) Die Kriegserwartung zwischen lokalisiertem Duell, enthegtem Bruderkrieg und Rassenkrieg157
b) Die Angst vor dem konfessionellen Bürgerkrieg und der Prinzipienkrieg von 1866174
3. Nach der Schlacht von Königgrätz: Siegerpathos und Niederlagenverarbeitung189
a) Der „dreißigtägige Krieg“ und die nationale Revolution190
b) 1866 – Ende des Dreißigjährigen Kriegs oder Beginn der protestantischen Reformation?203
D. Schlussbetrachtung: Der Dreißigjährige Krieg als Trauma deutscher Zwietracht212
I. Fazit: Deutscher ‚Tragikstolz‘212
II. Ausblick221
Quellen- und Literaturverzeichnis231
I. Zeitgenössische Periodika231
II. Zeitgenössische Literatur und Quelleneditionen232
III. Forschungsliteratur243
Personenregister271
Sachregister275

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