Vorwort von Rainer Funk
Immer wieder hatte Erich Fromm Pläne, das, was er selbst als Psychoanalytiker therapeutisch umsetzte und in den Ausbildungsinstituten in New York und Mexiko-Stadt in klinischen Seminaren lehrte, zu Papier zu bringen. Den letzten großen Anlauf dazu nahm er 1965, als er ein mehrbändiges Werk über Humanistische Psychoanalyse in Theorie und therapeutischer Praxis zu schreiben begann. Was sich davon an Manuskripten im Nachlass fand, habe ich 1990 in dem Band Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten (1990a) veröffentlicht. Nur ab und zu kommt Fromm darin auf klinische Fragen zu sprechen. Der vorliegende Band versucht, diese Lücke in Fromms Werk mit zwei anderen Arbeiten aus dem Nachlass ein wenig zu schließen.
Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung lautete der Titel eines Vortrags, den Fromm am 25. September 1964 bei der Harry Stack Sullivan Society anlässlich der Einweihung des neuen Gebäudes des William Alanson White Institute in New York gehalten hat. Der Vortrag zeichnet sich besonders dadurch aus, dass Fromm hier zwischen einer gutartigen und einer bösartigen Neurose unterscheidet und sehr deutlich die Grenzen der psychoanalytischen Behandlung aufzeigt. Vor allem aber ist der Vortrag einer der wenigen Beiträge Fromms, in dem er ein Fallbeispiel bespricht, zwar kein Beispiel aus seiner eigenen therapeutischen Praxis. Eduardo Zajur, damals noch Ausbildungskandidat, in den 1980er Jahren dann Direktor des Mexikanischen Psychoanalytischen Instituts, hatte den Fall als Examensfall im August 1963 Fromm vorgestellt.[1]
Das, was bei psychischen Erkrankungen therapeutisch wirksam ist und zur Heilung beiträgt, ist mittlerweile – auch unter dem Kostendruck im Gesundheitswesen – eine empirisch sehr gut erforschte Frage. Umso interessanter ist, was Fromm auf Grund seiner eigenen therapeutischen Erfahrung als Wirkfaktoren ausgemacht hat. Neben konstitutionellen Wirkfaktoren (zu denen Fromm zum Beispiel die Vitalität zählt) nennt er unter anderem den Leidensdruck („ob ein Patient wirklich den Tiefpunkt seines Leidens erreicht hat“), das Vorhandensein einer Vision von dem, „was jemand mit seinem Leben will“, die Ernsthaftigkeit des Veränderungswunsches und die aktive Teilnahme des Patienten; nicht zuletzt aber ist auch die Persönlichkeit des Psychoanalytikers ein wichtiger Wirkfaktor, weshalb sich Fromm bis zu seinem Lebensende täglich Zeit für die Selbstanalyse nahm. – Hingewiesen sei an dieser Stelle noch, dass sich Fromm später nochmals mit der Frage der Wirkfaktoren der psychoanalytischen Therapie beschäftigt hat, und zwar im Hauptteil dieses Buches über Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse (1991d, GA XII, S. 293–296).
Der Mangel an eigenen Veröffentlichungen zur therapeutischen Praxis wird durch eine weitere Veröffentlichung aus dem Nachlass Fromms ein wenig kompensiert. Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse stellt den Versuch der Wiedergabe eines Seminars dar, das Fromm amerikanischen Psychologiestudenten während eines dreiwöchigen Seminars 1974 in Locarno gab. Die insgesamt 400 Seiten starke Abschrift des Mitschnitts dieses in englischer Sprache geführten Seminars wurde in den folgenden Jahren von Fromms Sekretärin, Joan Hughes, erstellt und von Fromm teilweise noch bearbeitet. Bei der Veröffentlichung des Transkripts wurde versucht, den Charakter des gesprochenen Wortes in der vorliegenden Übersetzung zu erhalten. Allerdings wurde die Reihenfolge der Texte und Themen weitgehend neu bestimmt und wurden die Gliederung und die Überschriften mit Ausnahme des allerletzten Abschnittes von mir als Herausgeber gewählt bzw. hinzugefügt. Ansonsten sind nennenswerte Hinzufügungen durch mich immer durch eckige Klammern gekennzeichnet.
Die hier veröffentlichten Teile des Transkripts des Seminars von 1974 geben nicht nur unmittelbar Auskunft über den Therapeuten Fromm (wozu vor allem seine Bemerkungen anhand eines im Seminar eingebrachten Fallberichts beitragen), sondern auch über seine Wahrnehmung der modernen Charakterneurosen und der Notwendigkeit besonderer Erfordernisse bei ihrer Therapie. Einige Abschnitte des Seminars von 1974 wurden durch Äußerungen, die Fromm 1963 in einem Interview machte, das er Richard Evans gab (Interview with Richard Evans: Dialogue with Erich Fromm, 1966f), erweitert. Der letzte Abschnitt mit dem von Fromm selbst formulierten Titel Psychoanalytische „Technik“ oder die Kunst des Zuhörens wurde von ihm noch kurz vor seinem Tod 1980 verfasst und sollte nach seiner Vorstellung die Veröffentlichung von Teilen des Seminars von 1974 einleiten.
Über das während des Seminars besprochene Fallbeispiel (Christiane) hat der Leiter des Seminars, Bernard Landis, einen eigenen Beitrag publiziert (B. Landis, 1981). Zur Sicherung der Anonymität wurden Namen, Orte und Berufe bei der Fallbesprechung für die Veröffentlichung geändert.
Die umfangreiche Textzusammenstellung Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse vermittelt keine psychoanalytische Technik. Nach Fromms Ansicht und entgegen dem Anspruch der Lehrbücher zur psychoanalytischen Technik ist die Kunst des Therapierens eine Kunst des Zuhörens und eine Frage des Bezogenseins. Deshalb geben die Texte Auskunft über Fromms Art des Umgangs mit dem seelisch leidenden Menschen unserer Zeit. Nicht wortgewaltige Theorien und Abstraktionen und auch keine differential-diagnostischen „Vergewaltigungen“ des „Patientenmaterials“ kennzeichnen seine therapeutische Beziehung; beeindruckend ist vielmehr seine Fähigkeit zu eigenständiger und unabhängiger Wahrnehmung der Grundprobleme des Menschen.
Wie ein roter Faden zieht sich Fromms humanistische Haltung durch sein Verständnis vom Patienten und der Patientin und vom Umgang mit ihnen. Sie werden nicht als Gegenüber gesehen; sie sind keine grundsätzlich verschiedenen Menschen. Zwischen Analytiker und Analysand ist eine tiefe Solidarität spürbar. Sie setzt voraus, dass der Analytiker und die Analytikerin mit sich selbst umzugehen gelernt haben und noch immer zu lernen bereit sind, statt sich hinter einer „psychoanalytischen Technik“ zu verstecken. Der Analytiker ist sich selbst sein nächster Patient, und sein Patient wird ihm zu seinem (Co-)Analytiker. Fromm sieht in der therapeutischen Beziehung zum Patienten und zur Patientin immer auch eine Möglichkeit zur Selbstanalyse sowie die Chance, sich im Umgang mit den beidseitigen Gegenübertragungswahrnehmungen vom Patienten analysieren zu lassen.
Nach dem Gesagten gibt es gute Gründe, warum Fromm kein Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie geschrieben und auch keine eigene therapeutische Schule gegründet hat. Auch sind die Ausführungen in diesem Buch nicht als Ersatz für ein Lehrbuch zur psychoanalytischen Technik anzusehen (vgl. M. Bacciagaluppi, 1989). Das Besondere seiner therapeutischen Beziehung lässt sich nämlich nicht in einer „psychoanalytischen Technik“ in den Griff bekommen. Fromm fordert den ganzen Einsatz der eigenen Persönlichkeit und eines produktiv orientierten Charakters des Psychoanalytikers und der Psychoanalytikerin. Nur zu leicht verführt eine ausgefeilte psychoanalytische „Technik“ dazu, sich mit seinem „Know how“ des Therapierens als Mensch hinter störungsspezifischen Manualen verstecken zu können.
Am deutlichsten kommt diese Frommsche Sicht der therapeutischen Beziehung und des therapeutischen Raums in drei Vorträgen zum Ausdruck, die er 1959 am William Alanson White Institute in New York gehalten hat und die ich unter dem Titel Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis (1992g, GA XII, S. 201-236) posthum veröffentlicht habe. Was zählt ist keine „Technik“, sondern ein „center-to-center“- oder „core-to-core“-Bezogensein (vgl. R. Biancoli, 2006d) und die Fähigkeit zu einer „direkten“ Begegnung (vgl. R. Funk, 2009l).
An weiteren Publikationen Fromms zu klinischen Fragen – jenseits der beiden in diesem Band veröffentlichten – sind zu nennen neben dem Buch Märchen, Mythen, Träume (1951a) eine Zusammenfassung seines Verständnisses des Träumens und der Traumdeutung in Das Wesen der Träume (1949a, GA IX, S. 161-168), die Anmerkungen zum Problem der Freien Assoziation (1955d, GA XII, S. 195-200), das Kapitel „Bewusstsein, Verdrängung und Aufhebung der Verdrängung“ in Psychoanalyse und Zen-Buddhismus (1960a, GA VI, S. 320-233, der Beitrag Der Ödipuskomplex. Bemerkungen zum „Fall des kleinen Hans“ (1966k, GA VIII, S. 143-151) sowie der Abschnitt „Zur Revision der psychoanalytischen Therapie“ in Die dialektische Revision der Psychoanalyse (1990f, GA XII, S. 64-71).[2]
Wer noch mehr darüber erfahren möchte, wie Fromm therapeutisch gearbeitet hat und welche Art von therapeutischer Beziehung er praktizierte, sollte die Veröffentlichungen seiner Schülerinnen und Schüler, die bei ihm am William Alanson White Institut in New York und am Psychoanalytischen Institut in Mexiko-Stadt die therapeutische Ausbildung machten, zu Rate ziehen. Fromm hat über 50 Jahre lang mit Patienten therapeutisch gearbeitet; über 40 Jahre lang war er Lehranalytiker, Kontrollanalytiker und Dozent. Wer ihn in diesen Funktionen kennen lernte, war von seiner Direktheit und Unerbittlichkeit als Wahrheitssucher und als gesellschaftskritischer Weggenosse, ebenso aber auch von seinem außerordentlich großen Einfühlungsvermögen und von der Nähe und Unmittelbarkeit seiner Bezogenheit auf den Anderen beeindruckt. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen...