I. Über meinen psychoanalytischen Ansatz
(On My Psychoanalytic Approach)
(1990d [1969])[2]
Nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur zur Psychoanalyse und zur Sozialpsychologie, sondern auch ganz allgemein in der Öffentlichkeit ist die Annahme weit verbreitet, dass es innerhalb der Psychoanalyse einen grundlegenden Widerspruch zwischen einer biologischen und einer gesellschaftlichen (oder kulturellen) Ausrichtung gibt.[3] Die Freudsche Richtung wird oft biologisch, die Theorien der sogenannten neofreudianischen „Schulen“, besonders jene von Harry Stack Sullivan, Karen Horney und mir, werden „kulturalistisch“ genannt, als ob diese im Widerspruch zu einer biologischen Ausrichtung stünden. Die Gegenüberstellung von biologischer und kultureller Betrachtungsweise ist nicht nur oberflächlich, sondern völlig irreführend. Dies gilt zumindest im Hinblick auf meine Schriften und meine theoretischen Auffassungen, die sich in grundsätzlichen Fragen von den Auffassungen von Sullivan und Horney unterscheiden, deren Positionen ihrerseits verschieden sind.
Die Einschätzung, meine Betrachtungsweise sei anti- oder nicht-biologisch, hat zwei Gründe: einmal meine Betonung der Bedeutung der gesellschaftlichen Faktoren bei der Bildung des Charakters, zum anderen meine kritische Haltung gegenüber Freuds Triebtheorie und der Libidotheorie.
Es stimmt zwar, dass die Libidotheorie wie jede Theorie, die sich auf den Lebensprozess des menschlichen Organismus bezieht, eine biologische ist, doch meine Kritik an der Libidotheorie beruht nicht auf ihrer biologischen Orientierung als solcher, sondern auf der speziellen Art von biologischer Ausrichtung: Ich kritisiere den mechanistischen Physiologismus, in dem Freuds Libidotheorie ihre Wurzeln hat.
Meine Kritik richtet sich nicht gegen Freuds allgemeine biologische Ausrichtung, im Gegenteil: Einen anderen Aspekt dieser Ausrichtung, seine Betonung der konstitutionellen Faktoren der Persönlichkeit, habe ich nicht nur theoretisch akzeptiert, sondern in meine klinische Arbeit mit einbezogen, und zwar vermutlich um einiges ernsthafter, als dies die meisten orthodoxen Psychoanalytiker tun, die zwar oft von konstitutionellen Faktoren reden, aber in der Praxis glauben, dass der Patient völlig durch seine frühen Erfahrungen innerhalb der Familienkonstellation bestimmt wird.
Freud kam beinahe unvermeidlich zu seiner besonderen mechanistisch-physiologischen Theorie. Als er seine ersten Theorien formulierte, gab es noch kaum Erkenntnisse über die Hormone und die Neurophysiologie, so dass es nahelag, ein Modell zu konstruieren, das auf der Vorstellung einer chemisch produzierten inneren Spannung [XII-014] aufbaute, die schmerzvoll wird und nach Freisetzung der angestauten sexuellen Spannung strebt – eine Entlastung, die Freud mit dem Begriff „Lust“ bezeichnete. Die Annahme der krankmachenden Rolle der sexuellen Verdrängung schien umso evidenter zu sein, da die Menschen, an denen er seine klinischen Beobachtungen machte, zur Mittelschicht mit ihrer strengen viktorianischen Sexualmoral gehörten. Erik H. Erikson hat festgestellt, dass wohl auch der große Einfluss der thermodynamischen Theorien Freuds Denken mitbestimmt hat.
Die Erkenntnis, dass bei den Neurosen noch andere Aspekte eine wichtige Rolle spielen als jene, die wir gewöhnlich sexuelle Wünsche nennen, veranlasste Freud, seinen Begriff der Sexualität auch auf die „prägenitale Sexualität“ auszudehnen. So konnte er annehmen, dass seine Libidotheorie den Ursprung jener Energie erklären konnte, die alles leidenschaftliche Verhalten, einschließlich der aggressiven und sadistischen Impulse, antreibt.
In den zwanziger Jahren entwickelte Freud im Gegensatz zu der physiologisch-mechanistischen Ausrichtung seiner Libidotheorie mit seiner Theorie des Lebens- und des Todestriebes einen sehr viel weiteren biologischen Ansatz. Er betrachtete den Lebensprozess als Ganzen und nahm an, dass die zwei Tendenzen jeder Zelle eines lebendigen Organismus innewohnen: eine Tendenz auf Leben hin, das heißt auf wachsende Einheit und Integration, die er Eros nannte, und eine Tendenz auf Tod und Desintegration hin, die er Todestrieb nannte. Zwar ist die Richtigkeit der Annahme seiner Theorie vom Lebens- und Todestrieb fragwürdig, doch hat er mit seiner neuen Auffassung eine zwar äußerst spekulative, jedoch umfassende biologische Theorie der Leidenschaften des Menschen geliefert. Von einem biologischen Standpunkt aus sollte besonders erwähnt werden, dass seine frühere Theorie trotz ihrer Enge auf der Annahme beruhte, dass es in der Natur der lebenden Organismen begründet ist, leben zu wollen, während er in seiner umfassenderen späteren biologischen Theorie die frühere Vorstellung aufgab und stattdessen annahm, die Tendenz zur Desintegration gehöre ebenso zur Natur des Menschen wie jene zu leben und zu überleben.
Die der Natur alles Lebendigen innewohnende Polarität von Leben und Tod wurde nun zur neuen Basis von Freuds Denken. Sie löste das hydraulische Modell von wachsender Spannung und notwendiger Reduktion ab. Leider hat Freud – aus vielen Gründen – niemals den grundlegenden Widerspruch zwischen der früheren und der späteren Triebtheorie aufgeklärt oder gar die beiden zur Synthese gebracht. Mit meiner Auffassung des Zusammenhangs von Nekrophilie und Analsadismus habe ich versucht, ein Element von Freuds Libidotheorie und seiner Auffassung vom Todestrieb zu verbinden. Freud hing noch immer an seiner älteren Auffassung, dass die Libido männlich sei, und vermied den beinahe selbstverständlichen Schritt, nämlich den Eros mit der männlich-weiblichen Polarität zu verbinden. Stattdessen begrenzte er den Begriff des Eros auf das allgemeine Prinzip von Integration und Vereinigung.
An Freuds biologischer Ausrichtung kann nicht gezweifelt werden, doch würde man sein Werk entstellen, wenn man seine biologische Orientierung in einen Gegensatz zu einer gesellschaftlichen Orientierung bringen würde. Ganz im Gegensatz zu einer solchen falschen Gegenüberstellung war Freud immer auch gesellschaftlich orientiert. Er betrachtete den Menschen nie als ein isoliertes Wesen und unabhängig von seinem [XII-015] sozialen Kontext. In Massenpsychologie und Ich-Analyse schreibt Freud (1921c, S. 73):
Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie.
Es stimmt allerdings, dass Freud vor allem an die Familie dachte, wenn er den gesellschaftlichen Faktor einbezog, und nicht an die Gesellschaft als ganze bzw. an gesellschaftliche Schichten. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass er beim Versuch, die Entwicklung eines Menschen zu verstehen, immer auch die Wirkung der gesellschaftlichen Einflüsse (der Familie) auf die gegebene biologische Struktur zu verstehen versuchte.
Diese falsche Gegenüberstellung von biologischer und gesellschaftlicher Ausrichtung unterliegt auch der falschen Einschätzung meines Werkes als kulturell oder kulturalistisch im Gegensatz zu einem biologischen Denken. Mein Ansatz war immer ein sozio-biologischer und in dieser Hinsicht von Freuds Ansatz nicht grundsätzlich abweichend. Mein Ansatz steht allerdings in einem scharfen Widerspruch zu jener Art behavioristischem Denken in Psychologie und Anthropologie, das vom Menschen annimmt, er werde als ein leeres Blatt Papier geboren, auf das die Kultur mit ihrem alles durchdringenden Einfluss durch Sitte und Erziehung, das heißt mit anderen Worten, durch Lernen und Konditionierung, ihren Text schreibe.
Im Folgenden möchte ich eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Punkte geben, die meine sozio-biologische Ausrichtung wiedergeben.[4]
(1) Meine sozio-biologische Ausrichtung beruht vor allem auf einem bestimmten Verständnis von Evolution. Evolutionäres Denken ist historisches Denken. Wir nennen historisches Denken „evolutionär“, wenn wir von körperlichen Veränderungen sprechen, wie sie in der Geschichte der Entwicklung der Tiere vorkommen. Wir sprechen von „geschichtlichen“ Veränderungen, wenn es um solche Veränderungen geht, die nicht mehr in Veränderungen des Organismus begründet sind. Der Mensch taucht an einem bestimmten Punkt der tierischen Evolution auf. Dieser Punkt ist durch das fast völlige Verschwinden der instinktiven Determination und das Wachstum der Hirnentwicklung gekennzeichnet, mit der Selbstbewusstsein, Vorstellungsvermögen, Planen und Zweifeln einhergehen. Haben diese beiden Faktoren einen bestimmten Schwellenwert erreicht, entsteht der Mensch. Von da an sind all seine Impulse von seinem Bedürfnis bestimmt, unter den Bedingungen zu überleben, die an diesem Punkt seiner Evolution entstanden sind.
Die „evolutionären“ Veränderungen bei Lebewesen finden auf Grund von Änderungen der physischen Struktur statt; dies gilt von den Einzellern bis zu den Säugetieren. [XII-016] Die „geschichtlichen“ Veränderungen, das heißt die Evolution des Menschen, beruhen nicht auf Veränderungen seiner anatomischen oder physiologischen Struktur, sondern finden auf Grund psychischer Veränderungen statt, die sich bei der Anpassung an das gesellschaftliche System, in das ein Mensch hineingeboren wird, ergeben. Das gesellschaftliche System hängt...