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E-Book

Der letzte Tanz

Der Untergang der russischen Aristokratie

AutorDouglas Smith
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl528 Seiten
ISBN9783104027975
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Der Untergang des russischen Adels - eine Tragödie um Terror und Tod in einer entfesselten Welt. Erstmals erzählt der renommierte Historiker Douglas Smith die ganze Geschichte. 1917 wird die russische Aristokratie im Mahlstrom der bolschewistischen Revolution vernichtet. Douglas Smith beschreibt die berührenden Schicksale und menschlichen Dramen, die sich dahinter verbergen. Er erzählt von nächtlichen Fluchten, plündernden Bauern und brennenden Herrenhäusern. Im Mittelpunkt stehen zwei der mächtigsten Familien des Zarenreiches, die Scheremetews und die Golizyns, deren Mitglieder ermordet wurden, in sibirischen Lagern hungerten oder ins Exil gingen. Das brutale Ende einer glanzvollen Epoche und der Untergang einer prachtvollen Welt - packend erzählt, mit zahlreichen historischen Fotos von Menschen und Ereignissen.

Douglas Smith ist Historiker und Übersetzer. Er arbeitete für das U.S. State Department in der Sowjetunion und als Russisch-Dolmetscher für Ronald Reagan und war als Russland-Spezialist für Radio Free Europe/Radio Liberty in München tätig. Er hat verschiedene Auszeichnungen erhalten, unter anderem das renommierte Fulbright-Stipendium für Wissenschaftler. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Seattle/USA. www.douglassmith.info

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Leseprobe

Prolog


Das Eckhaus, Moskau, den 23. November 1918, am späten Abend

Die Krankenschwester legte einen frischen Verband bereit, als die Männer von der Tscheka, der gefürchteten bolschewistischen politischen Polizei, ins Zimmer stürzten. »Seht ihr nicht, dass hier jemand im Sterben liegt?«, fragte sie und drehte sich zu den Männern um, die jäh stehen blieben.[1] Im Halbdunkel vor ihnen lag Graf Sergej Dmitrijewitsch Scheremetjew, 73 Jahre alt, Adjutant des verstorbenen Zaren Alexander III., Mitglied des Staatsrats des Russischen Reiches, Oberjägermeister und Spross einer der großen russischen Adelsfamilien. Graf Sergej, seit Jahren bei schlechter Gesundheit, war dem Tode nahe, denn der Wundbrand in seinen Beinen griff mittlerweile auf seinen ganzen Körper über. Nun machten die Ärzte einen letzten Versuch, ihm das Leben zu retten, indem sie eine Radikalamputation durchführten. Die unerwarteten Besucher zogen sich, bis auf einen, aus dem Raum zurück. Der Anführer der Gruppe, Jakow Peters, ein kräftiger Mann mit dichtem dunklen Haar und gewölbter Stirn, beobachtete die Operation, um sich zu überzeugen, ob der Graf, den er verhaften wollte, überleben würde.

Sie waren ohne Warnung erschienen, nachdem sie sich vom Kreml her in mehreren Autos durch die Wosdwischenka-Straße genähert hatten. Dann bogen sie in den Hof des Eckhauses, der prächtigen Scheremetjew-Residenz, ein, parkten dort und schlossen das Tor hinter sich, damit niemand die Flucht ergreifen konnte. Panik erfasste die Dienerschaft auf der Hauptetage des Eckhauses. Zuerst war nicht klar, was vor sich ging. Seit der Abdankung von Zar Nikolaus II. im Vorjahr und dem Zusammenbruch des alten Regimes war das Land in Chaos und Gesetzlosigkeit abgeglitten. Bewaffnete Banden streiften nachts durch die Straßen, um zu rauben, zu plündern und zu morden. Einst mächtige und immer noch enorm reiche Familien wie die Scheremetjews waren ihre bevorzugten Opfer. Doch als die Männer in ihren dunklen Lederjacken ins Haus stürmten, wurde deutlich, dass sie keine Banditen waren, sondern Angehörige der Allrussischen Außerordentlichen Kommission für die Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage, der sogenannten Tscheka.

Nachdem sie die Haupttreppe hinaufgerannt waren, drangen sie in den Speisesaal ein, wo die Familie Scheremetjew an der Tafel saß. »Hände hoch!«, rief Peters und richtete seinen Nagant-Revolver auf die Anwesenden. Alle blieben fassungslos sitzen und hoben die Hände. Sogar der alte Butler Dmitri Fjodorowitsch, der gerade Gräfin Jekaterina Scheremetjewa, Graf Sergejs Gemahlin, die Mahlzeit darreichte, legte den Servierteller auf den Boden und riss die Hände hoch. Da Graf Sergej nicht an der Tafel zu sehen war, machten sich Peters und ein paar weitere Tschekisten auf die Suche nach ihm. Die Erwachsenen wurden für die Nacht im Speisesaal eingesperrt, während die Enkel der Scheremetjews zu ihrer Kinderfrau in einem anderen Teil des Hauses hinübergehen durften. Unter ihnen waren Jelena Scheremetjewa, in einem goldenen Seidenrock, das lange Haar mit einer großen weißen Schleife zusammengebunden, und ihr älterer Bruder Nikolai. Als die Kinder der Frau mitteilten, was sich abspielte, nahm sie den Familienschmuck, der in einen langen Samtstreifen eingenäht worden war, und ließ ihn in einen Wasserbehälter fallen, wie man ihr für einen solchen Fall aufgetragen hatte.

Viele in der Familie hatten diesen Tag vorausgeahnt, denn in den vergangenen Monaten hatte einiges darauf hingedeutet, dass die Scheremetjews ins Fadenkreuz der Bolschewiki geraten waren. Im Sommer hatte man zwei von Graf Sergejs Schwiegersöhnen kurzfristig inhaftiert: Alexander Saburow, einen früheren Offizier der Chevaliergarde und Zivilgouverneur von Petrograd, sowie Graf Alexander Gudowitsch, einen Kammerherrn am Hof von Nikolaus II. Bald darauf war ein Rotarmist ins Haus gekommen und hatte Baron Joseph de Baye verhaftet, einen französischen Bürger und alten Freund von Graf Sergej, der seit vielen Jahren bei der Familie wohnte. Auf die Frage des Grafen, wer den Befehl für diese Maßnahme gegeben habe, hatte der Soldat auf den Kreml gewiesen und geantwortet: »Die da.« Im September war der Sohn des Grafen, der ebenfalls Sergej hieß, auf dem Familiengut Ostafjewo von Tscheka-Agenten verhaftet worden, die ihn mit seinem Vater verwechselt hatten. Eine Gruppe besorgter Wissenschaftler wandte sich an Anatoli Lunatscharski, den bolschewistischen Volkskommissar für das Bildungswesen, mit der Bitte, »spezielle Schutzmaßnahmen« für den Grafen und seinen Sohn Pawel in ihrem Heim an der Wosdwischenka zu ergreifen. Lunatscharski erwiderte, man werde »alle revolutionären Kräfte« zu ihrem Schutz einsetzen.[2] Anscheinend hatte der Volkskommissar selbst zu wenig Möglichkeiten, ihre Sicherheit zu garantieren.

Die Bedeutung, welche die Bolschewiki Graf Scheremetjew zumaßen – einem der prominentesten Vertreter des alten Russland, das nun vom Wirbelwind der Revolution hinweggefegt wurde –, ließ sich an der Anwesenheit von Jakow Peters an jenem Abend im Eckhaus ablesen. Peters, der Sohn verarmter lettischer Bauern, war seit Beginn des Jahrhunderts ein engagierter Revolutionär. Die zaristische Polizei hatte ihn nach der Revolution von 1905 wegen der Teilnahme an Streiks verhaftet und gefoltert. Für den Rest seines Lebens konnte er seinen Einsatz für die Sache mit Hilfe von verstümmelten Fingernägeln nachweisen. Nach seiner Entlassung floh er 1908 nach London. Im Frühjahr 1917 kehrte er nach Russland zurück und spielte eine aktive Rolle bei der bolschewistischen Machtübernahme im Oktober. Zusammen mit Felix Dserschinski gründete er die Tscheka und diente, berüchtigt für seine Grausamkeit, jahrelang als einer ihrer hochrangigen Funktionäre.[3]

Peters gehörte zu den Urhebern des Roten Terrors, der durch die Ermordung von Moissej Urizki, dem Chef der Petrograder Tscheka, am 30. August 1918 und den Mordversuch an Lenin durch Fanja Kaplan am selben Tag ausgelöst wurde. Das Ziel des Tschekaterrors bestand darin, einen Klassenkampf gegen »Konterrevolutionäre« und sogenannte Volksfeinde zu führen. Im September verkündete der Kommunistenführer Grigori Sinowjew: »Um unsere Feinde zu besiegen, müssen wir unseren eigenen sozialistischen Militarismus entwickeln. Es gilt, 90 der 100 Millionen Russlands für unsere Sache gewinnen. Den Übrigen haben wir nichts zu sagen. Sie müssen vernichtet werden.«[4] Peters’ Tschekakollege Martin Lazis ließ wenig Zweifel daran, wo diese unglücklichen zehn Millionen zu finden seien. »Schaut nicht in die Akten mit belastendem Material, um herauszufinden, ob der Angeklagte mit Waffen oder Worten gegen die Sowjets aufgestanden ist. Fragt ihn vielmehr, welcher Klasse er angehört, welche Herkunft, welche Ausbildung, welchen Beruf er hat. Dies sind die Fragen, die das Schicksal des Angeklagten entscheiden werden. Das ist Sinn und Wesen des Roten Terrors.«[5] Peters selbst hatte die Rolle des Terrors dargelegt: »Wer immer es wagt, gegen die Sowjetregierung zu agitieren, wird unverzüglich verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht werden.« Die Feinde der Arbeiterklasse würden mit »Massenterror« bekämpft »und vom schweren Hammer des revolutionären Proletariats zerstört und zermalmt werden«.[6]

Der Hammer des Roten Terrors war nun auf das Eckhaus gefallen. Jakow Peters und Sergej Scheremetjew verkörperten das epochale Ringen im Russland des Jahres 1918: auf der einen Seite Peters, jung, kräftig und überzeugt von der Rechtschaffenheit der bolschewistischen Sache; auf der anderen Seite Scheremetjew, krank, schwach, besiegt und dem Tod nahe. An jenem Abend standen sich in Graf Sergejs Zimmer zwei Russlands gegenüber: das der Zukunft und das der Vergangenheit.

 

 

Die Geschichte wird, wie es heißt, von den Siegern geschrieben. Weniger oft hebt man die genauso wichtige Tatsache hervor, dass die Geschichte gewöhnlich über die Sieger geschrieben wird; Gewinner erfahren in den Geschichtsbüchern mehr Aufmerksamkeit als Verlierer. Die Literatur über die Russische Revolution mag als Beweis dafür dienen. Die Biographien über Lenin sind viel zahlreicher als die über Nikolaus II., genau wie die Bücher über die Bolschewiki, verglichen mit denen über die Menschewiki. Verlierer sind jedoch nicht weniger als Gewinner der Erinnerung wert, schon deshalb, damit wir den ganzen Reichtum des Vergangenen abschätzen und das Andenken an jene, die von der Geschichte zu Unrecht vergessen wurden, bewahren können.

Ich stieß auf diese vergessene Episode, während ich ein Buch über den Grafen Nikolai Scheremetjew schrieb, Sergejs Großvater, einen exzentrischen und märchenhaft reichen Aristokraten, der für seine leibeigene Operntruppe und seine skandalöse Ehe mit deren Primadonna bekannt war. Diese Sängerin namens Praskowja Kowaljowa trat als »Die Perle« auf.[7] Durch meine Recherchen lernte ich mehrere von Nikolais und Praskowjas Nachfahren kennen, und als ich deren Erzählungen über das hörte, was der Familie während der Revolution widerfahren war, wurde mein Interesse an der umfassenderen Geschichte des Adels in jenen turbulenten Jahren geweckt. Bei einem Besuch in Moskau im Frühjahr 2006 durchsuchte ich die vielen Schubladen des Zettelkatalogs, welcher der...

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