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E-Book

Gott ist rot

Geschichten aus dem Untergrund - Verfolgte Christen in China

AutorLiao Yiwu
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783104030913
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Beeindruckende Einblicke in das Leben der größten verfolgten Minderheit Chinas von dem Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels »Der Gott in den schäbigen Bergstraßen ist rot. In den kühlen Höhen Yunnans. Wenn man betrunken ist. Wenn man außer sich ist vor Freude, dass es einen nicht umgebracht hat. Wenn Sonnenstrahlen, golden wie Schafe, über die Gipfel springen.« Liao Yiwu Der Friedenspreisträger Liao Yiwu reiste in die entlegensten Bergdörfer Chinas, um dort Menschen zu treffen, die seit vielen Generationen und allen Widrigkeiten zum Trotz an ihrem christlichen Glauben festhalten. Er erzählt zahlreiche außergewöhnliche Lebensgeschichten, angefangen bei der 100-jährigen Nonne bis hin zum blinden Straßenmusiker. Ein ebenso seltener wie beeindruckender Einblick in das Leben im Untergrund der größten verfolgten Minderheit Chinas, die es offiziell gar nicht gibt. »Liaos Texte über die Christen lassen die Wahrheit im Dunkeln leuchten; das macht die Schönheit seines Schreibens aus.« Liu Xiaobo, Friedensnobelpreisträger 2010

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.

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Leseprobe

Die Bergwege sind rot


Vorwort des Autors

Jedes Stück Lehm ist rot, glänzt unter der Sonne, blutgetränkt.

Das habe ich geschrieben.

Das war im Herbst 2004, meine Familie war wieder einmal zerstört, ich wusste nicht wohin, so kam ich von Sichuan nach Yunnan.

Von der Senke, aus der dichte dunkle Wolken aufstiegen, schien der Deckel genommen. Ich graue Maus aus Sichuan ließ mir zehn Tage die Sonne auf den Pelz scheinen. Dann nahm ich meine gewohnte Beschäftigung wieder auf, trieb mich auf dem Bodensatz der Gesellschaft herum, machte Straßenmusik, führte Interviews, schrieb. Am Tag schien die Sonne, in der Nacht flossen Tränen, die nach Schnaps rochen. An irgendeinem Morgen torkelte ich betrunken hinein, stolperte schließlich und fiel aus dem ersten Stock eines Naxi-Hauses, schlug mir Gesicht und die Schulter auf, aber ich erinnere mich an alles, vage, noch so eine traurige Geschichte, die auf diese Weise, wie Wasser, verrinnt.

Vielleicht war ich einfach ein Säufer, nicht anders als die anderen Säufer; vielleicht war ich ein streunender Köter, nicht anders als die anderen streunenden Köter. Ich konnte Flöte spielen und singen, deshalb gefiel ich den Leuten manchmal; im Suff spielte ich den Verrückten, deshalb ging ich ihnen manchmal auf die Nerven. Nur Gott weiß, meine Antennen waren noch auf Empfang, meine Erinnerungen an Geschichte und Gegenwart waren noch genau, im Großen und Ganzen, ich war noch ein Mensch.

Ich ließ mich treiben, verließ Beijing und Chengdu und entfernte mich von meinen intellektuellen Freunden immer mehr – wenn ich keine Artikel hätte schreiben müssen und die Honorare nicht gebraucht hätte, wer weiß, ich hätte mich vielleicht sogar vom Internet verabschiedet. Ich hatte ganz natürlich mit Tagelöhnern, Petitionären, Herumtreibern, Süchtigen, alten Bettlern, Straßengangstern, Prostituierten und Betrügern zu tun und habe mit den Beamten in Zivil, die mir auf Schritt und Tritt folgten und mich überwachten, Freundschaft geschlossen. Wenn ich nur tief genug in Alkohol eingelegt war, war ich nach chinesischer Sitte gut Freund mit jedermann.

Meine Gefühle für die Polizei von Yunnan sind weitaus positiver als die für die Polizei anderer Provinzen, denn sie sind alle mehr oder weniger über Blutsbande mit den kleinen Völkern an der Grenze verbunden, sie schlagen niemals ein Glas aus, und wenn man trinkt, dann, bis man voll ist. Und wenn sie undeutlich betonen, wie ach so wichtig das sozialistische System ist, dann habe ich gelacht und noch einmal mit ihnen angestoßen.

Die Polizei anderer Provinzen fand Spaß daran, anderen Alkohol einzuflößen, während sie selbst dabeistand, zuschaute und geduldig wartete, bis einem auf einmal ein paar konterrevolutionäre Sätze herausrutschten, oder noch schlimmer ein paar »staatsgefährdende« Privatgeheimnisse.

 

Dann war die Zeit gekommen, der alte Gott konnte nicht mehr mit ansehen, wie ich immer weiter verkam, und schickte mir einen christlichen Arzt, Dr. Sun. Er hatte keinerlei missionarischen Tonfall, er erzählte ohne Umschweife, er habe zehn Jahre als Arzt in den Bergen gearbeitet und kenne mehr als genug bittere Geschichten, und ich sei doch Schriftsteller, ob ich kein Interesse an diesen Geschichten hätte?

Natürlich hatte ich Interesse. Über die Hälfte meines Lebens, meine ganze Erfahrung und meine ganze Leidenschaft hatte ich in solche Geschichten gesteckt.

Also haben wir uns gemeinsam auf den Weg gemacht.

Von Lijiang in Yunnan nach Kunming, durch die Kreise Fumin und Luquan, einem autonomen Gebiet der Miao und der Yi, dann bergauf, bergab über die Landstraßen zwischen den Ortschaften, immer tiefer in das Land hinein. Als wir in Sayingpan ankamen, bildeten Packtiere, Schafe, Hunde und Schweine mitten auf der Straße das Empfangskomitee, Staub- und Rauchwolken trieben durch die Straßen, ich starrte auf die Erdstufen dort, Ruinen des Südwest-Priesterseminars aus den 40er Jahren, ich fragte, hier halten wir?

Doktor Sun schüttelte den Kopf. Dann ging es weiter, immer tiefer ins Land hinein.

Lange ging es über eine Bergstraße weiter, mit Bussen, Lieferwagen, Kleinbussen und Handtraktoren. Dann saßen wir in der Patsche und konnten nur noch zu Fuß weiter. Wir kletterten einige Stunden über die Berge, der Schweiß lief uns über den Rücken, und wir kamen in eine Lehmhütte auf halber Höhe des Berges, doch zu meiner Überraschung war die Geschichte damit bei weitem noch nicht zu Ende. Armut, Unwissenheit und Leid nahmen den Menschen den Atem. Bei einer Frau bestand der Verdacht auf Lepra, woraufhin alle zusammenkamen, Holz aufschichteten und sie verbrannten; ein Mann brach plötzlich zusammen, die anderen haben ihn einen halben Tag über die Berge geschleppt, bis sie zur Landstraße kamen, wo sie einen Wagen Richtung Kreisstadt anhielten, unterwegs fing er an zu zittern und starb; und da war noch der Vater, der erschossen wurde, und dessen Sohn mit den langen Flinten im Rücken den Schädel seines Vaters schulterte und ein paar Tage und Nächte lang floh. Die Bergstraße war rot, und der Sohn war vom Blut seines Vaters gefärbt.

Yunnan wird als Hochebene der Roten Erde bezeichnet. Aber die Sonne und der Schlamm haben ein noch viel tieferes Rot, oder hat Blut das tiefste Rot?

Das Leid ist hier so schwer und so verbreitet, und die Leute haben nichts als Jesus, woran sie sich klammern könnten.

 

Am Nachmittag des 30. Dezember 2005 haben wir das Yi-Dorf Zehei erreicht und den ehrenwerten und allseits geachteten Presbyter Zhang Yingrong interviewt. Der alte Herr war fast blind, doch seine wohlwollenden Blicke haben mich einen Augenblick lang an meinen längst ins Himmelreich eingegangenen Vater erinnert. Er hat ausgesprochen gelassen von den Leiden der Vergangenheit erzählt, und jedes Mal, wenn er nur knapp mit dem Leben davongekommen war, vergaß er nicht, dies mit einem »Dank sei Gott dem Herrn« zu quittieren.

Vor etwa 150 Jahren hat die in London gegründete China-Inland-Mission gut ein Dutzend Priester ausgeschickt, die in Shanghai zum ersten Mal chinesischen Boden betraten. Von diesem Zeitpunkt an ist der Strom der westlichen Missionare nicht mehr abgerissen; sie haben das Evangelium bis in die entlegensten Gemeinden getragen. Nicht wenige von ihnen haben das mit dem Leben bezahlt, ihre sterblichen Überreste konnten nicht in Heimaterde beigesetzt werden. Auf diese Weise hat der Glaube Wurzeln geschlagen und wurde von Generation zu Generation weitergetragen. Zhang Yingrongs Vater war einer der ersten einheimischen Anhänger der Missionare, und es dauerte nicht lange und der ganze Zhang-Clan glaubte an Gott den Herrn, der junge Zhang Yingrong hat noch das Anfang der 40er Jahre gegründete Südwest-Priesterseminar in China besucht. Doch kurz bevor er aus den Händen der Missionare Kutte und Almosenschüssel empfing und zu einem regelrechten Mitglied des Klerus wurde, kam der Umbruch.

Mit Mao Zedong kam der Atheismus, die feste Ordnung der Gemeinden wurde zerstört, zwei bis vier Millionen gebildete Land-Intellektuelle wurden ermordet, umerzogen oder ins Gefängnis geworfen, darunter auch solche, die an Gott glaubten. In den Bergregionen von Yunnan, in denen ich die Interviews gemacht habe, haben die Dörfer, die Familien oft seit Großvaters- oder gar Urgroßvaterszeiten mit den Missionaren dem Herrn gedient. In dieser Zeit sind sie durch die Hölle eines diktatorischen Regimes geläutert worden, wie die Gläubigen im westlichen Mittelalter, und der Glaube konnte nur im Untergrund kämpfen.

Das Ehepaar Zhang Yingrong hat ein blutiges Kreuz getragen, sie haben die Verletzungen und Wunden ertragen und sind im Dreck gekrochen. Bis ihre Lebenskerze zur Neige ging und ihr Licht zu erlöschen begann und sie mit den Psalmen auf den Lippen starben. Die Generationen zu ihren Knien, ein gutes Dutzend Söhne und Enkel, sind ausnahmslos getauft und folgen dem Herrn – das ist eine Familiengeschichte, wie sie in den Bergregionen von Yunnan sehr verbreitet ist, und die Quelle des Glaubens geht ausnahmslos auf ein paar westliche Missionare zurück. Woher sind sie gekommen? Aus England, Deutschland oder Frankreich? Aus Amerika oder Kanada? Australien oder Neuseeland? Für die Dorfbewohner in Yunnan ist das schon lange nicht mehr wichtig, wichtig ist, dass durch die Missionare über die große Entfernung hinweg die Frohe Botschaft zu ihnen gelangte und somit zur Glaubensgeschichte eines Teils von chinesischen Familien wurde.

Heute jedoch ist die protestantische und katholische Kirche, die nicht bereit ist, mit den Atheisten der KP Chinas Kompromisse einzugehen, hier immer noch illegal. Aber das Kreuz hat bereits sein Licht über das Land geschickt, und wie es heißt, glauben mittlerweile über 70 Millionen Chinesen an den Herrn.

Der damals über 80 Jahre alte Presbyter Zhang Yingrong und der über 90 Jahre alte Priester Yuan Xiangchen sind beide nicht lange nach unseren gemeinsamen Interviews ins Himmelreich eingegangen. Dazu kommen noch der längst heimgegangene Priester Zhang Run’en, Vater Zhang Gangyi und Pastor Wang Zhiming (einer der zehn großen Märtyrer des 20. Jahrhunderts, dessen Standbild über dem Hauptportal der Westminster Abbey emporragt). Von den über dreihundert Persönlichkeiten vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft, die ich interviewt habe, sind schon eine ganze Reihe gestorben. Das Leben und die Zeit vergehen, aber Sternpunkte der Erinnerung werden durch meine Hand festgehalten. Der mit dem Friedensnobelpreis...

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