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E-Book

Papa hat sich erschossen

AutorSaskia Jungnikl
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
ReiheFischer Paperback 
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783104030456
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
SEIN TOD TEILT MEIN LEBEN IN EIN VORHER UND NACHHER »Am 6. Juli 2008 kritzelt mein Vater etwas auf einen mintgrünen Post-it-Zettel. Er steigt die Wendeltreppe hinunter in die Bibliothek und holt seinen Revolver. Dann geht er durch den schmalen Gang hinaus aus unserem Haus in den Hof. Dort legt er sich unter unseren alten großen Nussbaum. Ich weiß nicht, ob er dabei irgendwann gezögert hat. Ich glaube, er wird noch einmal tief eingeatmet haben, als er da lag. Vielleicht hat er sich noch kurz die Sterne angesehen und der Stille gelauscht. Dann schießt er sich in den Hinterkopf. Sein Tod teilt mein Leben in ein Vorher und Nachher.« Hautnah und unsentimental erzählt Saskia Jungnikl über den Freitod ihres Vaters. Sie schreibt über die Ohnmacht, die ein solch gewaltvoller Tod hinterlässt und wie ihre Familie es schafft, damit umzugehen, über Schuldgefühle, Wut und das Entsetzen, das nachlässt, aber nie verschwindet.

Die österreichische Autorin und Journalistin Saskia Jungnikl wurde 1981 im Südburgenland geboren. Sie lebt und arbeitet in Hamburg, Wien und im Südburgenland und wurde mit mehreren Journalistenpreisen ausgezeichnet. 2014 erschien ihr vielbeachtetes Buch 'Papa hat sich erschossen'. Sie ist Kolumnistin des Monatsmagazins 'Datum', regelmäßig erscheinen Texte von ihr auf den Österreich-Seiten der 'Zeit'.

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Leseprobe

3 GLÜCK


Willst du ein Eis? Saskia?« Ich starre auf das kreischende Baby neben mir und dann auf Oskar, der mich fragend ansieht. »Willst du eins? Wir können eins mitnehmen.« Die Mutter trabt mit ihrem Kind weg, ein wenig geistesabwesend schüttle ich den Kopf und sehe zu Oskar. »Nein, danke.« Er nickt und geht weiter, ich ihm hinterher.

Es ist Sonntag, der 6. Juli 2008. Der Tag, an dem mein Vater stirbt.

Oskar ist mein damaliger Freund, und wir wollen schwimmen, im Donaubad in Kritzendorf in der Nähe von Wien. Wir fahren fast immer in dieses Bad. Es wurde Anfang des 19. Jahrhunderts gebaut. Seine Hochblüte hatte es in der Zwischenkriegszeit, und noch immer stehen überall die bunt lackierten Holzhäuser der dreißiger Jahre und sorgen schon beim Eingang für eine eigene Stimmung.

Früher war das Bad dafür bekannt, dass Menschen aus allen sozialen Schichten hierherkamen, Künstler und Geschäftsleute hatten ihre Häuschen neben den Kabinen gewöhnlicher Arbeiter. Manche nennen Kritzendorf immer noch die »Riviera an der Donau«.

Die Sonne scheint, der Wind weht nur ein wenig, es riecht nach Sonnenöl und frisch gemähter Wiese. An der Donau liegen ein paar Jungfamilien auf Decken und Senioren auf Liegestühlen, und ihr Hautton lässt erahnen, dass sie ihre Plätze nur sehr selten verlassen. Oskar und ich schlagen uns an der Donau entlang durch die Büsche, wir suchen eine der kleinen Buchten, in denen nie jemand liegt. Das Schöne an diesem Bad ist auch, dass es so weitläufig ist. Die Menschen verteilen sich, man muss nicht eng nebeneinander sitzen.

Oskar hat einen blauen Rucksack über der Schulter hängen, er geht den schmalen Weg vor mir entlang. Wir sind zusammen seit ich vierundzwanzig bin, also seit etwa drei Jahren. Er ist mein zweiter Freund nach Martin, den ich in der Schule kennengelernt habe und zu dem die Beziehung neun Jahre hält und der heute noch ein Freund von mir ist. Ich bin sehr glücklich mit Oskar, vor allem in dieser schwierigen Woche. Am nächsten Tag wäre mein Bruder dreißig Jahre alt geworden. Er ist seit vier Jahren tot. Die ganze Woche vor seinem Todestag ist meine Familie immer sehr angespannt. Ein Jahr nach Tills Tod lerne ich Oskar kennen, und diese neue Liebe hilft mir, den Schrecken besser zu verarbeiten.

An diesem sonnigen und ruhigen Sonntag kommt mir das alles ohnehin nur noch wie ein entfernter Schock vor. Im Übermut remple ich Oskar spielerisch an, wir verlieren das Gleichgewicht und fallen mit unseren Sachen ins Wasser. Ich muss lachen, dann merke ich, dass er das gar nicht so lustig findet. Um es wieder hinzubiegen, laufe ich zurück und hole am Stand beim Eingang einen doppelten Espresso und bringe ihm den. Er grinst.

Damals, als wir einander kennenlernen, fällt mir als erstes sein Lausbubengesicht mit dem verschmitzten Lächeln auf. Ich mag, dass er Locken hat, in der griechischen Antike wäre er vermutlich ein beliebter Lustknabe gewesen. Wir treffen einander bei meinem ersten Job als Journalistin. Er arbeitet auch in der Redaktion, und gleich an meinem ersten Tag gehen wir nach der Produktion alle etwas trinken, und als wäre es Zufall sitzen wir nebeneinander. Der Rest des Abends gehört uns, und dann treffen wir einander noch ein paar Mal, bevor wir uns eingestehen, dass wir verliebt sind. Etwa ein halbes Jahr sehen wir einander vor allem abends, wir haben eine Stammkneipe, in der wir viele Nächte trinkend verbringen. Wir reden viel und gut, und wir haben viel und guten Sex.

Als ich ihn nach einem Jahr das erste Mal mit nach Hause nehme, um ihn meinen Eltern vorzustellen, ist es schon Abend. Der Weg zu unserem Haus im Burgenland ist schwer zu finden, er führt über holprige Straßen durch Wälder und vorbei an abgelegenen Wiesen. Als wir das letzte Stück Zivilisation verlassen und auf einen Waldweg abbiegen, fängt Oskar an zu lachen. »Ich weiß, du hast erzählt, ihr wohnt einsam: Aber ehrlich? Das könnte der Drehort für eine Horrorszene sein.« Ich lache auch. Ich mag die Gegend, ich mag das Abgeschiedene.

Das letzte Stück zum Haus führt über einen etwa zweihundert Meter langen Waldweg. Nach einer kleinen Biegung sieht man das Licht aus den vorderen Fenstern, drei unten, zwei oben. Das Haus ist weiß gestrichen, die Fensterrahmen und Klappläden sind aus Holz. Früher waren sie dunkelgrün, aber nach dem Tod meines Vaters streichen wir alles Holz in einem kräftigen griechischen Dunkelblau. Eigentlich ist Grün die Farbe der Hoffnung, für uns wird es das Blau.

Ich stelle das Auto auf dem vorderen Parkplatz ab und laufe dann vor ins Haus. Meine Eltern sind im Studio und sehen fern. Ich bleibe unten an der Wendeltreppe stehen und rufe hinauf. »Wir sind da. Kommt ihr herunter?« Mein Vater seufzt und sagt: »Na, sehen wir uns den Burschen mal an.« Er nimmt eine Flasche Wein, und wir setzen uns in die Küche.

Wir Kinder sind zu viert, ich bin das einzige Mädchen, ein Wunschkind. Mein ältester Bruder Christoph ist mein Halbbruder, er hat einen anderen Vater und ist elf Jahre älter als ich. Als sich meine Eltern verlieben, ist er gerade fünf Jahre alt. Nach ihm kommt Till, er ist drei Jahre älter als ich und sieht genauso aus wie mein Vater, mit den gleichen dichten flachsblonden Haaren bis zum vierzehnten Lebensjahr, bevor sie anfangen zu dunkeln und fast schwarz werden. Noch einmal drei Jahre nach mir bekommt meine Mama noch einen Buben, Arvid. Mein Vater erzieht mich nicht anders als meine Brüder. Ich habe nur eine Puppe, ich spiele kaum mit ihr. Als ich anfange, mich für Jungs zu interessieren, sieht er das – wie viele Väter bei ihren Töchtern – nicht gerne.

Er holt noch eine Flasche Wein. Mein Vater prüft meine Freunde genau. Er ist ein guter Zuhörer. Er ist intelligent, also kann er mit seinem Gegenüber über fast jedes Thema reden, Musik, Film, Literatur. Außerdem ist er interessiert, er stellt Fragen und will sie auch wirklich beantwortet wissen. Als Tochter kann einem das auf die Nerven gehen, als Gast ist man geschmeichelt. Ich erinnere mich daran, wie begeistert meine Freundinnen immer waren, wenn sie meinen Vater kennengelernt haben, weil er so charmant und interessiert war.

Oskar und er tun sich leicht miteinander. Beide sind Musiker, beide sind Schreiber, beide sind Phantasten. Ich rede mit meiner Mama, ab und zu lausche ich hinüber. Oskar sagt heute, der Moment, wo klar war, dass sie einander mögen, war der, als ihn mein Vater fragt, wer für ihn denn der Vorreiter der heutigen Popmusik war. Kein Zweifel, dass sie sich auf Johann Sebastian Bach einigen.

Sie haben den Draht gefunden, sie lachen und schenken nach. Es wird ein langer Abend. Ich freue mich. Es funktioniert.

Kurz bevor mein Vater stirbt, verbringen wir ein Wochenende gemeinsam im Burgenland. Oskar und ich sitzen im Hof und sind verliebt und flüstern miteinander. Mein Vater kommt. Er sieht zuerst uns beide an, dann lange mich, und er sagt: »Ich sehe, du bist gut aufgehoben.«

Damals habe ich gehört: »Schön, dass du jemanden hast, den du liebst und mit dem du Spaß hast.« Heute höre ich: »Gut, du bist versorgt, jemand kümmert sich um dich, mich braucht hier niemand mehr.« Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber ich habe gelernt, dass das egal ist. Was zählt ist, wie man mit der Situation fertig wird. Wenn ein Elternteil sich tötet, wird alles, was vorher war, neu gedeutet. Ich versuche mich an alles zu erinnern, was er zu mir gesagt hat. Ich zermartere mir das Hirn: Was war ein Hilferuf? Was war unwichtig? Was war ein Zeichen?

In Kritzendorf habe ich an diesem Sonntag im Juli nach drei Stunden schwimmen genug. Ich halte es nie besonders lange an einem Ort aus. Ich gehe ein paar Mal ins Wasser, lese ein bisschen und dann wird mir langweilig. Ich stoße Oskar an: »Komm, fahren wir.« Er sieht auf und unzufrieden drein. »Wir können noch einen Abstecher machen«, ich zwinkere ihm zu. Er grinst. Manchmal fahren wir mit dem Auto einen Schleichweg entlang, etwa zehn Minuten Fahrt entfernt kommt man oben auf einem Hügel an. Links und rechts stehen Weinreben, es gibt dort keine Häuser und man sieht weit. Niemand ist da. Wir kippen die Autositze zurück und öffnen eine Flasche Wein. Wir hören Musik und reden miteinander. Manchmal schlafen wir miteinander. Es ist unser Platz, und es macht Spaß dort.

Auf dem Rückweg in die Stadt ist mein Autofenster offen, ich hänge meinen Arm nach draußen. Ich erinnere mich heute noch an die Sonne und die Wärme. Und an die Sicherheit und das Glück, das ich spüre. Später besteht mein Innenleben lange Zeit nur aus Schmerz, Angst und Trauer. Ich bin darauf ausgerichtet zu funktionieren. Manchmal versuche ich mich dann an diesen Moment zu erinnern, als alles in mir pure Harmonie war. Viele Jahre wird es solche Momente nicht mehr geben. Ich weiß, dass ich Oskar glücklich anschaue und sage, jetzt wird alles gut, oder? Er lächelt mich an.

Als wir nach Wien kommen, denke ich kurz daran, meinen Vater anzurufen. Ich weiß, dass meine Mama beschäftigt und nicht zu Hause ist und er also alleine, aber dann denke ich, ach, ich rufe ihn morgen an, und gehe mit Oskar in ein Pub.

Es ist schummrig im Lokal, Kerzen stehen auf den Tischen, im Hintergrund läuft Johnny Cash. Oskar und ich wollen im August nach Paris fahren, ich war noch nie in Frankreich. Wir planen den Urlaub, wann und wie lange wir fahren werden, was wir uns ansehen werden. Vor uns stehen Bier und Tequila, wir haben viel Spaß und kommen spät nach Hause.

An diesem Abend schalte ich das Handy zum ersten Mal seit vier Jahren aus, seit damals mein Bruder gestorben ist. Ich habe immer das...

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