Hausbesuch
Es muss ein Nachmittag im Jahr 1936 gewesen sein, als sie sich zum ersten Mal begegneten, Dr. Mohammed Helmy und das Mädchen Anna.[1] Peinlich berührt folgte sie dem Schauspiel, das an diesem Tag geboten wurde, es sollte ihr noch lange in Erinnerung bleiben wegen der Art, wie sich die Erwachsenen verhielten. Es war geschäftig gewesen draußen auf den Straßen von Moabit, Dr. Helmys Wagen hatte immer wieder halten müssen auf seinem Weg ins Zentrum, zu den Schaufenstern und Reklametafeln des Alexanderplatzes.
In der Neuen Friedrichstraße hielt er vor ihrem großbürgerlichen Haus, stieg aus und klingelte. Hausnummer 77, das Erdgeschoss wurde fast vollständig von einem Obstgeschäft eingenommen. Über den Bürgersteig wehte der Duft frischer Pfirsiche aus Italien, das Kilo zu vier Mark, auch frische Tomaten, das Kilo zu zwanzig Pfennig.[2] Eine ihm unbekannte Dame hatte ihn gerufen.
Die beiden Frauen, die ihn an der Wohnungstür begrüßten, hatten eigens Schmuck angelegt, Brillantringe und Colliers. Der Arzt hatte kaum Guten Tag sagen können, da umschmeichelten sie ihn schon und machten ihm Komplimente. Sie riefen ihre Haushälterin herbei, schnell einen Tee zu servieren für den Herrn Doktor, und ihre ungarische Köchin,[3] eine Kleinigkeit zu essen zu bereiten, eine Erfrischung für Herrn Doktor, und bitte keine Sorge, Herr Doktor, wir verwenden kein Schweinefleisch in diesem Haus, Sie verstehen?
Anna war erst elf Jahre alt, sie lebte mit den beiden Frauen zusammen, mit ihrer Mutter und Großmutter – und sie traute ihren Ohren kaum, wie ihre Mutter den unbekannten Ägypter hofierte.[4] Die Frauen begannen, ihn auch mit Einladungen zu umgarnen, »um Herrn Doktor im Privaten zu gewinnen«, wie es Anna erschien.[5]
Anna war »nicht der Mensch, der über seinen Kummer spricht«, sagte sie später. Mit den beiden Frauen konnte sie über nichts reden, was sie bedrückte.[6] Als streng empfand sie die beiden, nicht freigiebig. Sie waren hart, vielleicht weil sie es sein mussten. Die Männer in ihrer Familie waren unbeständig geblieben, früh verstorben oder geschieden. So führten die Frauen das Geschäft. Sie geizten mit Komplimenten und Aufmerksamkeiten. Umso merkwürdiger erschien dem Kind nun dieses Theater in der Gegenwart von Dr. Helmy. Die Frauen »machten sich ran«, so nahm Anna es wahr.[7]
Immer wieder riefen sie Anna herbei, obwohl sie mit diesem Arztbesuch nichts zu tun hatte. Anni hier, Panny da. Pannyka!,[8] sagte die Grußmutter, die ungarische nagymama, die Nettigkeiten wie Gehässigkeiten stets süß flötend intonierte, ne álljitt a doktorúrútjába, teddmagadhasznossá! – Steh dem Herrn Doktor nicht im Weg herum, mach dich nützlich!
Dr. Helmy, der gerade im Begriff war, seinen Mantel abzulegen, hatte sich gar nicht beklagen wollen, dass ihm jemand im Weg stehen würde. Aber Anna verstand genug, um der Großmutter keine Szene zu machen. »Ich wusste mit unseren Verhältnissen genauestens Bescheid«, erinnerte sie sich später. Für Juden hatte es begonnen sehr schlecht zu werden, »die Enteignung der Geschäfte, die Einziehung des Geldes und so weiter«, so Anna.[9] Also blieb sie lieber still.
Die Haushälterin brachte das Teeservice. Sie schlängelte sich vorbei am Klavier und den mit Brokat bezogenen Sofas. Durch das Wohnzimmer mit der Chaiselongue, den zwei Betten, zwei Schränken, drei Läufern. Vorbei an Gemälden, Geschirren, Skulpturen, hin zu dem Raum, den Annas nagymama ausgesucht hatte, um sich dort von dem arabischen Arzt untersuchen zu lassen: dem Salon mit der Vitrine, den sechs Sesseln und dem Wandspiegel, den die Großmutter einen »Trumeau« nannte.[10]Bild_der_Familie_am_Tisch.jpeg
Es waren zahlungskräftige Leute, wie Dr. Helmy im Widerschein des Trumeaus bemerken sollte. Möglicherweise auch deshalb hatte man ihn zur Visite hierherbestellt, statt zu ihm in die Klinik zu kommen. In dem Obstgroßhandel unten im Erdgeschoss, der M. Rudnik GmbH, benannt nach Moise »Max« Rudnik,[11] dem zweiten Ehemann von Annas Großmutter Cecilie, herrschten die beiden Frauen über Tonnen von Grapefruits und Wagenladungen von Ananas. Über Personal. Über Hunderttausende Mark an Jahresumsatz. Dem Arzt wird trotzdem gedämmert haben, wie nervös sie waren.
Eine Tonne Weintrauben aus Holland schlug der Betrieb monatlich um.[12] Mit den Judengesetzen war das sehr viel schwieriger geworden, die Zahlungsmoral nichtjüdischer Kunden stellte diesen und andere Betriebe jüdischer Kaufleute vor Probleme. Auberginen aus Italien, Feigen aus Griechenland, Rosinen aus Frankreich, Paprika, Gurken, Maiskolben und Birnen aus Ungarn:[13] Neuerdings galten für all die Importwege, die das Unternehmen einst groß gemacht hatten, Beschränkungen. Es bedankte sich die brandenburgische Rübe.
In der Zentralmarkthalle, nur ein paar Schritte die Neue Friedrichstraße hinunter, hatte man Schilder angebracht: »Juden ist der Zutritt erst ab zwölf Uhr gestattet.« Also erst dann, wenn gedellte Tomaten und angefaulte Salatköpfe obenauf lagen. Als Annas Mutter, Julie, einmal trotzdem schon morgens um zwanzig vor neun ihre Runde drehte, zeigte ein Händler sie an. Die Polizei brummte ihr 25 Mark Strafe auf.[14] Immerhin, der Import aus der alten Heimat der Familie funktionierte noch. So kamen noch Walnüsse vom Schwarzen Meer in ihre Berliner Auslagen.[15]
Ob man dem Herrn Doktor noch etwas Gutes tun könne und ob er denn wisse, dass man auch aus arabischen Ländern importiere? Annas Mutter Julie redete viel, das tat sie immer, wenn sie verunsichert war. Um Anerkennung hatte sie stets kämpfen müssen. Einst hatten ihre Eltern große Erwartungen in sie gesetzt – Klavierunterricht am Konservatorium. Aber es war Julie nicht entgangen, was ihre Eltern davon hielten, als sie dann auf dem heimischen Klavier hauptsächlich Stücke wie »Morphium« von Mischa Spoliansky spielte oder Shimmys, in denen sich »Willy in der Nacht« reimt auf »Schwips nach Haus gebracht« oder »ein Kind, das schwarz gelockt ist« auf »ius primae noctis«.[16]
Die elfjährige Anna mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, 1936
Schon im Jahr zuvor, 1935, hatten die meisten jüdischen Ärzte in Berlin ihre Zulassung verloren,[17] für jüdische Patienten war es nun noch schwieriger geworden. Der muslimische Dr. Helmy war da in einer besonderen Lage: Er war der einzige »Nicht-Arier« in Berlin, der noch eine Position als Klinikarzt innehatte, sogar an einem der größten Krankenhäuser der Stadt, dem Robert-Koch-Krankenhaus in Moabit. Eine kostbare Position, denn so war er auch der Einzige, der noch an vernünftige Medikamente herankam, an Strophantin gegen Herzschwäche, an Salvarsan als echtes Antibiotikum, und nicht nur an jene trüben Gebräue, auf welche jüdische Ärzte zurückgeworfen waren.
Es war also keine wahre Herzlichkeit, sondern Verzweiflung, die Annas Großmutter zu ihrem besonderen Gast so freundlich sein ließ. Und sie verstand auch schon, dass Helmy noch eine andere, dunklere Seite haben musste.
Später würde sie kein gutes Wort über ihn verlieren, kein Wort der Dankbarkeit. Selbst noch nach dem Krieg würde sie in einem Brief über ihn schreiben: »Der Schweinehund bleibt Schweinehund.«[18]
Zu übertriebener Nettigkeit neigte die Großmutter eigentlich nicht, wie Anna wusste; umso irritierender erschien ihr deren überschwängliche Freundlichkeit an diesem Nachmittag. Annas Mutter Julie war nicht unbedingt freiwillig nach Berlin gekommen. In der alten Heimat hatte sie mit dem jüdischen Fabrikbesitzer Ladislaus Boros zusammengelebt. Sie hatten geheiratet, die neugeborene Anna war ihr Geschenk des Himmels. Aber Annas Großmutter Cecilie war damals schon vorgegangen nach Berlin, und sie hatte gewollt, dass sie nachkommt. Also hatte die Großmutter Cecilie von Berlin aus einen Privatdetektiv beauftragt, der Ladislaus Boros der Schürzenjägerei überführen sollte. Der Detektiv tat seine Arbeit, die Ehe zerbrach, und Julie wurde geschieden. Alleinerziehend mit der zweijährigen Anna war sie niedergeschlagen nach Berlin gekommen. So wie Cecilie es geplant hatte.[19]
Beim Besuch des muslimischen Arztes nun, am heimischen Trumeau: nur süßeste Flötentöne. Anna zuckte innerlich zusammen. Die ungarische Köchin stellte das Tablett mit Erfrischungen ab. Nur zu!, ermunterten die beiden Frauen Dr. Helmy, und es hätte Anna nicht gewundert, wenn ihre Mutter sich noch ans Klavier gesetzt hätte, um dem fremden Gast zu imponieren, wie sie es so oft tat. Das ungarische Klavierstück »Schmeichelkätzchen«, so resümierte Anna später bitterböse, hätte sich angeboten.[20]
[1] Vgl. Bericht von Anna für die Entnazifizierungsbehörden, 10. Juli 1945, Familienarchiv Gutman. Der Bericht gibt an, dass die schulpflichtige Anna zum Zeitpunkt des Treffens bereits zu Hause war, der arbeitende Georg Wehr aber noch nicht.
[2] Vgl. Entschädigungsakte Moise Rudnik, Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin, Entschädigungsbehörde (LABO Berlin), Reg. Nr. 314 236, Bl. E 9 und E 12.
[3] Vgl. ebenda, Bl. E 34.
[4] Interview mit Charles Gutman vom September 2016.
[5] Bericht von Anna, 10. Juli 1945, Familienarchiv Gutman.
[6] Brief von...