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E-Book

Der neue Untertan

Populismus, Postmoderne, Putin

AutorBoris Schumatsky
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783701745265
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die jüngsten Krisen in Europa wirbeln die Politik auf. Dort, wo früher links und rechts war, entsteht etwas Neues. 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion steckt Europas Demokratie in der Krise. Alte politische Lager lösen sich auf. Die Linke tauscht Revolution gegen Nationalismus, und die Rechte borgt sich von der Linken als nützlichen Feind die Banken. Mit Bestürzung hört Boris Schumatsky den Beifall, den die russische Autokratie von überall bekommt. Ob links, rechts oder Mitte: Herrschaft macht Spaß, Freiheit strengt an. In den 1990er Jahren ritt man auf der Welle der Postmoderne in den ewigen Frieden. Nun ist daraus ein populistisches Monster entstanden. Scharf analysiert Boris Schumatsky die politischen Bewegungen der Gegenwart und blickt in eine mögliche Zukunft.

Boris Schumatsky geboren 1965 in Moskau. Er lebt seit Mitte der 1990er Jahre als freier Autor in Berlin und München. In seinem Buch 'Silvester bei Stalin' zeichnet er den Weg seiner Familie durch die Zeiten des Terrors und des Krieges nach. Schumatskys Essays zum politischen Geschehen erscheinen im deutschsprachigen Feuilleton wie Die Zeit, NZZ und die Süddeutsche Zeitung.

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Leseprobe

Frieden ist Krieg


Der Krieg erfindet sich gerade neu. Er will heute wie Frieden aussehen, und sein Schlachtfeld hat sich so weit ins Mediale verlegt, dass man, wenn es so weitergeht, irgendwann scharfe Waffen gegen scharfe Bilder tauschen wird.

Mein allererster Krieg war noch, wie damals üblich, durchs Schwarz-Weiß-Fernsehen zu mir gekommen. Eine Panzerkolonne irgendwo in Afghanistan, grau auf dem grauen Bildschirm, die mechanische Stimme des sowjetischen Nachrichtensprechers. Die Sowjetunion brach bald zusammen, sie zog ihre Truppen aus Afghanistan und später aus Europa ab, doch die Kriege brachen nun sogar häufiger aus als zuvor. Beim nächsten Afghanistan-Krieg zeigte der Farbbildschirm meines Fernsehers schnittige Bomber, sie hoben rasch von Flugzeugträgern ab, und schon auf dem nächsten Bild stiegen riesige grauorange Wolken in den kargen Bergen auf, die in Farbe genauso aussahen wie einst in Schwarz-Weiß. So hatten sich alle bisherigen Kriege angekündigt, doch der jüngste Krieg war anders. Er wollte nicht wie ein Krieg aussehen, er war Alltag.

Es tauchten Uniformierte mit vermummten Gesichtern auf, die dennoch nicht martialisch erscheinen wollten. Sie sahen eher aus wie Spielzeugsoldaten, die man in meiner Kindheit als Geschenk aus dem Westausland mitgebracht hatte. Diese Männer ohne Rangabzeichen standen breitbeinig vor dem Eingang öffentlicher Gebäude in der Krimhauptstadt Simferopol, Passanten mit Kindern gingen an ihnen vorbei. Die Spielzeugsoldaten ließen die Hände auf den Gewehren ruhen, die locker vor ihren Bäuchen hingen, und man hatte den Eindruck, als würden sie nett lächeln. Das konnte man unter der Maske aber nicht sehen. Am liebsten hätte man mit ihnen gespielt. So zeigten sich die russischen Militärs auf Schnappschüssen und kurzen Videos, aufgenommen mit Mobiltelefonen. Und dann kam das Entsetzen. Wie in einem Horrorfilm, wenn durch die Augen eines Kuscheltieres ein Ungeheuer blickt.

Solche Bilder gibt es manchmal von Geiselnahmen oder Überfällen, oder wenn Passanten verwackelte Aufnahmen von Terroristen machen, die gerade in eine Schule oder Konzerthalle einbrechen. In den westlichen Nachrichten war vom Krieg lange nicht die Rede, so als wäre es tatsächlich ein unbedeutender Banküberfall ohne Sensationswert, ohne Tote und Verletzte. In Ermangelung eindeutiger Beweise, die es im Krieg sowieso nicht gibt, bezeichneten die Medien die Besatzer in ihren Tarnuniformen als »kleine grüne Männchen«; es klang, als wären sie vom Mars, vom Himmel gefallen.

Einerseits hatte es tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Invasion aus dem Weltall, doch kaum jemand in Ost und West schien wirklich überrascht. Eher kam es einem wie ein Albtraum vor, der über Jahre immer wieder auftaucht, aus dem man morgens aber mit der erleichternden Einsicht erwacht, dass so etwas in Wirklichkeit nicht passieren darf. Der Tod eines Nahestehenden, eine fatale persönliche Niederlage, Krieg. Man kann darauf nicht richtig vorbereitet sein, und dennoch: Eine wirkliche Überraschung ist es dann auch nicht. Dass Putin Krieg bedeutet, war eigentlich seit Langem klar, eigentlich schon seit dem sogenannten Zweiten Tschetschenienkrieg. Putin begann ihn als Ministerpräsident mit Beliebtheitswerten im einstelligen Prozentbereich, und nach einem halben Jahr Krieg wurde er zu Boris Jelzins Kremlnachfolger ernannt, um schon dreieinhalb Monate später gleich beim ersten Wahlgang Präsident Russlands zu werden. Der Krieg in Tschetschenien dauerte noch Jahre, und als die Kämpfe seltener wurden, stießen die russischen Panzer 2008 nach Georgien vor. Ganz überraschend kam der Angriff auf die Ukraine also gewiss nicht.

Sehr überraschend war jedoch das, was Putins neuer Krieg, Tausende Kilometer entfernt von seinen Schauplätzen, in meinem unmittelbaren Umfeld, im Westen, in Europa und Deutschland angerichtet hat. Das traf auch die unvorbereitet, die über Putin keine Illusionen hatten. Offenbar hatte ich keine Ahnung von vielen grundlegenden Dingen, die unter der heilen Oberfläche von Politik und Gesellschaft lauerten. Etwa vom Aluhut.

»Mutter setzt Baby Alukappe auf« – das hatte man manchmal auf den Titelseiten der Zeitungen mit großen dicken Überschriften und vielen bunten Bildern gelesen. Die Mutter will ihr Kleines vor Strahlen schützen, die sein Gehirn manipulieren. Sie glaubt nicht, dass es solche Strahlen nicht gibt, und sie glaubt auch nicht, dass die Alufolie keinesfalls vor elektromagnetischer Strahlung schützt, die unsere moderne Umwelt tatsächlich durchdringt. Der Begriff Aluhut steht mittlerweile für allerlei Verschwörungstheorien, für die es in Deutschland neuerdings sogar einen ironischen Preis gibt, den Goldenen Aluhut.

Wenn es eine postmoderne Religion geben könnte, würde sie Folgendes lehren: Wir werden von geheimen Weltmächten manipuliert. Und: Man versteckt die Wahrheit vor uns. Was das mit Putin und seinen Kriegen zu tun hat, will ich hier darlegen. Dies ist dabei keine Manipulation der Leser. Ich lege alle meine Karten auf den Tisch und gestehe offen ein: Die eine oder andere These kommt aus fernen Zeiten und entlegenen Landschaften, die ich durchkreuzt habe. Einiges geht so weit zurück wie Moskau 1991, als mein Geburtsland, die Sowjetunion, ohne einen Knall, nur mit kläglichem Gewimmer zugrunde ging. Manches rührt von den Zeiten her, als meine Freunde und ich im linken Berlin der Neunziger mit dem Gefühl lebten, die Geschichte wäre an ihrem Ende und es würde keinen Krieg mehr geben, zumindest nicht für uns. Wenn ich irgendwann, irgendwo auf dieser Reise von einer Weltregierung den Auftrag erhalten hätte, die Wahrheit zu manipulieren, würde ich das hier sogar zugeben. Aber eine geheime Weltregierung gibt es ja nicht.

Nachdem zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa ein Staat sich einen Teil eines anderen Staates gewaltsam einverleibt hatte, gingen die Menschen in Deutschland und anderswo im Namen des Friedens auf die Straße. Die Demonstranten protestierten aber nicht gegen die russische Krim-Annexion. Sie unterstützten Putins Kriegspolitik gegenüber den eigenen Regierungen, die angeblich einen Krieg gegen Russland anzetteln wollten. Putins Krieg war für sie keiner, er war für sie Frieden. Dagegen bedeuteten alle auch noch so zögerlichen Bemühungen, den Aggressor aufzuhalten, Krieg. Es war eine wunderbare Übertragung von George Orwell auf unsere Verhältnisse: »Krieg ist Frieden.«

Nicht weniger erschütternd war aber, welche politischen Gesinnungen bei diesen »Montagsmahnwachen für den Frieden« zueinanderfanden. Überproportional viele Wähler der deutschen Linkspartei (nämlich mehr als doppelt so viele wie der statistische Durchschnitt) und der nationalpopulistischen AfD demonstrierten Hand in Hand mit Antisemiten. Bei einer Mahnwache wurde sogar skandiert: »Hamas, Hamas, Juden ins Gas!« Mehr als ein Drittel der Demonstranten wollte sich gegenüber den Meinungsforschern weder als links noch als rechts einordnen. Viele von ihnen wollten »einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert«. Die Klientel populistischer Politiker war in Deutschland bisher schön brav zu Hause oder am sprichwörtlichen Stammtisch sitzen geblieben. Nun gingen die Untertanen zum ersten Mal auf die Straße und auf die Suche nach einem Anführer. Einem, der ihr Gefühl bestätigt, dass Krieg Frieden ist, dass Wahrheit Lüge ist, und der ihnen die wahre Wahrheit offenbart.

»Putin macht alles richtig«, sprach zu mir einmal nach einer dieser Mahnwachen ein älterer Herr in der S-Bahn. Er hatte gehört, wie ich mit meinen russischsprachigen Freunden über den Ukraine-Krieg redete. »Всё будет хорошо«, fügte er auf Russisch hinzu, was er vermutlich in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands gelernt hatte – »alles wird gut«.

Die deutsche Wortbildung »Putin-Versteher« ist inzwischen international geworden. Sie beschreibt eine Einstellung, die in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist, sowohl beim Durchschnittsbürger als auch unter den Meinungsführern. Noch vor dem Krieg verlief eine wichtige Trennlinie zwischen diesen Russlandverstehern und den sogenannten »Russlandexperten«. Letztere, die eigentlich schon seit Jahren die autoritäre Politik des Kremls kritisiert hatten, wurden damals auch »Russlandkenner« genannt, und sie hatten sowohl in der Politik als auch in der Expertengemeinschaft die Oberhand bekommen. Dennoch rief der Kriegsausbruch Lobbyisten russlandorientierter Konzerne und politische Versteher der Krim-Annexion auf den Plan, die als Entspannungs-Politiker auftraten. Oft dominierten sie sogar die Talkshows im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Auch den Lesern großer Zeitungen erzählten sie ihre Version der Wahrheit: Putin habe keine Soldaten in die Ukraine geschickt, man solle Putin glauben, man solle Putins Gefühle verstehen.

Das Verständnis für Despotien ist natürlich...

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