»Jeder, der je in einem Meeting mit Ed gesessen hat,
wird das Gleiche sagen:
dass er eine Klasse für sich war.«
Ein Exkollege über Edward Snowden
Normalerweise begann der Morgen von Dave M. Churchyard damit, dass er sich durch den Verkehr von Genf kämpfte. Churchyard wohnte in der Nähe der Altstadt in einem sanierten Appartement im Stadtteil Saint-Jean, das ihm das amerikanische Konsulat vermittelt hatte. Er fuhr einen schweren, dunklen Geländewagen, der die morgendlichen Fahrten durch das malerische Genf bequem machte, ihn aber auch von der Umgebung entrückte. Churchyard war erst 24 Jahre alt, es war sein erster längerer Aufenthalt in Europa, weit entfernt von der amerikanischen Ostküste, wo er aufgewachsen war. Ein Gefühl von Sicherheit konnte ihm nur guttun.
Der Weg zur Arbeit führte am Westufer des Genfer Sees hinauf, ließ die Ile Rousseau rechter Hand liegen, in das Diplomatenviertel hinein, wo die Vereinten Nationen ihr Quartier haben. Churchyard mochte den Verkehr in Genf nicht. Er fürchtete ständig, dass er in jemanden hineinfahren würde. Für einen Amerikaner, der sechsspurige Highways gewohnt ist, waren die Gassen zu schmal, dazu kamen die Bus- und Fahrradspuren, ganz zu schweigen von den Straßenbahnen.
Sein Arbeitsplatz war die amerikanische Mission bei den Vereinten Nationen, die zugleich das amerikanische Konsulat beherbergte, Route de Pregny 11, nur ein paar Meter vom UN-Gebäude am Palais des Nations entfernt. Die diplomatische Dependance gehört zu den größeren weltweit, gleich vier Botschafter hat die US-Regierung nach Genf entsandt, dazu Dutzende Diplomaten, deren Auftrag es ist, vor Ort den Kontakt zu mehr als hundert Regierungen und Nichtregierungsorganisationen zu halten.
Churchyard besaß einen Diplomatenpass und damit Immunität, aber sein Auftrag hatte wenig mit Völkerverständigung zu tun. Sein Schreibtisch stand in einem besonders gesicherten Trakt der Botschaft, in dem keine normalen Diplomaten und kein Ortspersonal erwünscht waren. Er arbeitete für die CIA.
Sein Lebenslauf ist in Langley nachzulesen, in einer als »streng geheim« eingestuften Personalakte in der Zentrale der Central Intelligence Agency, des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes. Churchyard war 2006 in den Dienst der CIA eingetreten und arbeitete als »Field Officer«, Personalnummer 2339176. Seine Freunde kennen ihn unter einem anderen Namen: Edward Joseph Snowden, genannt »Ed«.
Das Engagement bei der CIA war Snowdens erster Job bei einer amerikanischen Sicherheitsbehörde, er sollte bis 2008 in Genf bleiben. Die zwei Jahre in der Schweiz sind der Schlüssel zum Verständnis, warum Snowden zum wichtigsten Whistleblower der Welt wurde. Als er nach Europa ging, war er ein CIA-Mitarbeiter, dessen Gedanken um seinen Geländewagen, die Sicherheit seiner Tarnidentität und die Preise für Fast Food kreisten. Als er Genf verließ, war er ein Mann voller Zweifel. Die Idee, sich nicht nur individuell zu verweigern, sondern die Praktiken der Geheimdienste aufzudecken, entstand in dieser Zeit, auch wenn es noch vier Jahre dauern sollte, bis Snowden sein Vorhaben in die Tat umsetzte.9
Wer Edward Snowden verstehen will, muss sich auf eine Spurensuche begeben, die in Maryland, USA, beginnt, wo wegen der Nähe zur Hauptstadt Washington viele amerikanische Politiker und Angehörige des nachrichtendienstlichen Komplexes mit ihren Familien wohnen. Die Suche führt über Angaben seines Vaters10 und Gespräche mit Freunden in die digitale Welt, in der sich Snowden virtuos bewegt. Er ist ein »digital native«, ein Kind des digitalen Zeitalters, seine frühen Chat-Einträge im sozialen Forum »Ars Technica« verraten ebenso viel über ihn, wie die wohldurchdachten Sätze, die er heute in Interviews von sich gibt. Die Spurensuche endet in einem verschlüsselten Online-Chat, in dem wir Snowden treffen, wenn er es möchte, so lange, wie es ihm gefällt. Er redet viel über die NSA und wenig über sich und seine Jugend in Crofton, Maryland.
Edward, Lon und die Moral der amerikanischen Küstenwache
Crofton ist eine jener amerikanischen Städte, die eher einer Ballung von Wohnvierteln gleichen als einer urbanen Siedlung im klassischen Sinne. Der 1964 gegründete Ort liegt in einem Autobahndreieck, über das Washington, Baltimore und die Küstenstadt Annapolis am Atlantik gut zu erreichen sind. Es gibt dort die typischen amerikanischen Supermärkte, 7-Eleven, Safeway, ein Kino und 27000 Einwohner. Im Juli 2007 wählte das Magazin »Money« Crofton zu einem der »100 besten Orte zum Leben«, als Begründung nannte die Jury die hohe Anonymität bei exzellenter Infrastruktur. 1991 zieht die Familie Snowden von North Carolina hierher: der Vater Lon, die Mutter Elisabeth »Wendy«, Edward und seine zwei Jahre jüngere Schwester. Es scheint die amerikanische Version des Aufstiegs einer Familie aus der unteren in die gehobene Mittelklasse zu sein: das Fertighaus ein Modell größer, das neue Auto eine Ausstattungsstufe besser. »Hard work pays off«, sagen die Amerikaner über Leute wie die Snowdens: Harte Arbeit zahlt sich aus.
Anonymität ist vielen Bewohnern Croftons wichtig, auch wenn dieses Spiel albern ist. Jeder weiß, dass die Nachbarn meist bei der NSA, beim Militär oder einer Zulieferfirma arbeiten. Und bei jenen, von denen man es nicht weiß, vermutet man es, weil hier alle auf die eine oder andere Art mit dem militärisch-nachrichtendienstlichen Komplex verbunden sind.
Snowdens Eltern arbeiten ebenfalls für die Regierung, wenn auch nicht für die NSA oder das Militär. Wendy Snowden fährt allmorgendlich in das 15 Meilen entfernte Bezirksgericht von Baltimore, wo sie als Angestellte arbeitet. Lon Snowden dient seit Ende der siebziger Jahre bei der Küstenwache, er sagt, das Wichtigste bei seinem Job seien die Kollegen, die im Einsatz neben ihm arbeiten. Es ist das Bild einer verschworenen Gemeinschaft von Männern, die sich dem Bösen entgegenstemmen, wie es Feuerwehrleute, Polizisten oder andere Lebensretter oft beschwören.
Lon Snowden salutiert jeden Morgen vor der amerikanischen Flagge und wird nach seiner Pensionierung 2009 sagen, er habe mit Liebe seinem Land gedient.11 Daheim predigt der Vater Integrität und Aufrichtigkeit, er meint es in Bezug auf den Staat, für den er arbeitet. Moral ist eine Kategorie, die im Leben der Snowdens eine große Rolle spielt. Sein Sohn wird diese Werte später ebenfalls betonen. Er wird noch 2013 sagen, er sei ein »Patriot«, auch wenn er es anders meint als sein Vater. Edward empfindet ebenfalls eine moralische Verantwortung. Aber seine Loyalität gilt nicht den aktuellen Staatsdienern. Sie gilt der Demokratie, der amerikanischen Verfassung.
In Crofton geht Snowden auf die Anne Arundel Highschool. Es ist eine jener Schulen mit gutem Ruf, die dazu beigetragen haben, dass Crofton weit oben im Ranking der lebenswerten Orte landete. Die Highschool liegt nur etwa vier Meilen von der NSA-Zentrale in Fort Meade entfernt, an der Landstraße 32, die an den weißen Radom-Kuppeln entlangführt, in denen Hightech-Antennen verborgen sind. Eine große Tafel wirbt für die Arundel Wildcats, das Football-Team der Schule, dessen Trikots in den Schulfarben Weiß und Grün gehalten sind. Das Schulgebäude wächst als dreigeschossiger Klinkerbau aus der hügeligen Landschaft, Besucher müssen sich über die Gegensprechanlage anmelden und werden von einer Videokamera gefilmt. Das Sekretariat liegt rechter Hand am Ende eines langen Ganges, es gibt Wartenummern und Debbie Stickney, die Geschäftsführerin der Schule, die Fragen nach Snowden geübt abbürstet: »Diese Informationen dürfen wir nicht herausgeben.«12 Auf die Schule gehen viele Kinder von Regierungsangestellten, darunter einige aus NSA-Familien. Indirekt haben die Geheimdienste schon damals ihren langen Schatten auf Edward Snowden geworfen.
Auf der Highschool ist Edward dünn wie ein Hemd, blass, unscheinbar. Seine Mitschüler werden später angeben, sich kaum an ihn erinnern zu können, was auch damit zu tun hat, dass er nicht lange auf der Arundel High bleibt. Er schafft die 9. Klasse, dann wird er krank. Die Ärzte untersuchen ihn. Finden nichts. Untersuchen ihn noch mal, vermuten Pfeiffersches Drüsenfieber, sind aber nicht sicher.13 Edward fällt in der Schule zurück, er ist jetzt ein Außenseiter, der mehr fehlt, als er anwesend ist. Schließlich nehmen ihn die Eltern von der Schule.
Sein Vater wird später sagen, Edward sei durch diese Entscheidung in seiner Schulausbildung nicht zurückgeworfen worden, er habe einen vergleichbaren Abschluss auf einem Community College machen können, sogar schneller als seine Freunde auf der Highschool.14 Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Der fehlende Abschluss der Highschool (wie auch später einer Universität) wird als Stigma wirken, das Snowden lange zu schaffen macht. Seine frühere Kollegin Mavanee Anderson schreibt, »dass er den Abschluss nicht hatte«, sei ein »großes Thema« gewesen.15 Einmal, Snowden ist schon bei der CIA, sagt er zu einer Kollegin: »Warum solltest du mir vertrauen? Ich habe ja nicht einmal einen Highschool-Abschluss.«16 Online postet er: »Geistesgrößen brauchen keine Universität. Sie bekommen, was sie brauchen, und bahnen sich still ihren Weg in die Geschichte.«17
Snowden wirkt zerbrechlich, aber er hat Eigenschaften, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen...