2 Die letzte Abfahrt
oder
Wieso Dicke schneller rutschen
Es ist ein großer Moment im Leben jedes Jungen, wenn er zum ersten Mal seinem Vater davonläuft. Endlich schneller! Ein Moment des Triumphs – nicht weil man den anderen besiegt hat, sondern weil dieser Sieg einen Übergang bedeutet, den Übergang von der Kindheit in eine Zeit, in der man jedenfalls körperlich für voll genommen wird.
Es ist ein sehr zwiespältiger Moment im Leben eines Mannes, wenn ihm zum ersten Mal der eigene Sohn davonläuft. Es ist nicht das Gefühl, ein Rennen verloren zu haben, schließlich gönnt man dem eigenen Nachwuchs alles, und das bedingungslos. Nein, aber diese Niederlage ist eine unumkehrbare – der Sohn wird auch jedes folgende Rennen gewinnen, und der Abstand wird wachsen. Auch für den Erwachsenen ist es ein Moment des Übergangs.
Diese Gedanken gehen Stefan Putzer durch den Kopf, als er am Abend zusammen mit seinem Sohn Marcel im Restaurant «Zur Sennerin» im österreichischen Skiort Sölden eine große Portion Kaiserschmarrn verspeist. Der Tag auf der Skipiste ist für beide anstrengend gewesen, beide werden von einem gehörigen Muskelkater geplagt, aber Stefan Putzer plagt zusätzlich noch die Einsicht: Sein Sohn fährt besser Ski als er, zumindest schneller.
Seit zwölf Jahren nun fahren Vater und Sohn schon gemeinsam zum Skilaufen. Einmal pro Jahr geht es für eine Woche vom Norddeutschen Tiefland in die Berge der Alpen, nach Österreich, nach Südtirol oder in die Schweiz. Putzer erinnert sich noch, wie er Marcel den ersten Schneepflug beibrachte, wie er mit dem Kind zwischen den Beinen den Hang hinunterkurvte.
Schon im dritten Skiurlaub war dem Kind das Fahren mit dem Vater zu langweilig geworden, es jagte lieber mit seinesgleichen die Pisten hinunter. Der Vater ging es zunehmend ruhig an, aber wenn man dann bei der letzten Abfahrt des Tages zusammen hinunter ins Tal fuhr, ließ er doch gern auf den steilen Stücken noch einmal sein Können aufblitzen. Schließlich musste doch klar sein, wer hier das erfahrenere Ski-Ass war.
Aber heute war es nichts gewesen mit dem Aufblitzen-Lassen. Marcel fuhr ihm auf der letzten Abfahrt einfach auf und davon. «Hey, fahr nicht so riskant!», rief ihm Stefan Putzer noch hinterher – aber er wusste, dass es gar nicht an Marcels Wagemut lag. Äußerst sicher und elegant stob der 16-Jährige die Piste hinunter, während der 45-Jährige bisweilen das Gefühl hatte, an seine Grenzen zu kommen.
«Was für eine Abfahrt!», schwärmt Marcel, noch immer berauscht von der Geschwindigkeit – und natürlich auch von der Tatsache, dass er als Erster an der Talstation angekommen ist. «Perfekter Schnee, super Wetter – so macht das Skifahren Spaß!»
«Genau», pflichtet der Vater ihm bei. Klang es auch begeistert genug? Putzer hofft es.
«Und morgen fahren wir ein kleines Rennen, abgemacht?», fordert ihn Marcel heraus. «Auf dem Slalomkurs, wo man für einen Euro die Zeit nehmen lassen kann, okay?»
«Abgemacht», sagt der Vater. «Ich zahle. Und der Verlierer gibt dem Gewinner einen Jagatee aus.»
«Den hab ich schon mal sicher», lacht Marcel. Der Vater lächelt nur.
In der Nacht schneit es, und am nächsten Tag ist das Wetter wieder so, wie es sich ein Skifahrer wünscht: blauer Himmel, frischer Pulverschnee, gutpräparierte Pisten. Die beiden fahren den ganzen Tag zusammen, machen nur eine kurze Mittagspause, und am Nachmittag geht es dann auf den Slalomparcours, der für die Touristen abgesteckt worden ist.
Und natürlich kommt es so, wie es beide vorhergesehen hatten: Stefan Putzer hat gegen seinen Sohn keine Chance. Die zwölf Lehrjahre machen sich bezahlt, behände schwingt der Sohn um die Slalomstangen herum und ist gut zwei Sekunden schneller unten als der Vater, der noch dazu im Ziel heftig keucht. Auch eine Wiederholung ändert nichts an der Wahrheit: Marcel hat seinen Vater endgültig abgehängt.
«So, damit wäre die Frage beantwortet, wer hier der bessere Skifahrer ist», sagt Marcel mit einer Spur zu viel Überheblichkeit in der Stimme. «Lass uns schnell runter ins Tal, ich möchte meinen Gewinn kassieren!»
«Du hast ja recht», antwortet der Vater, immer noch ein bisschen außer Atem. «Aber diesen Unterton kannst du dir sparen!» In seiner Stimme liegt eine Spur zu viel Nicht-verlieren-Können. «Aber lass uns nicht die schwarze Abfahrt nehmen, ich bin nach dem Tag doch ein bisschen groggy. Ich schlage vor, wir nehmen die langgezogene Schussfahrt durch den Wald!»
«Klar, können wir machen», antwortet sein Sohn. «Und, fahren wir das wieder als Rennen?»
In diesem Moment fährt ein Gedanke durch Stefan Putzers Kopf. Ein Gedanke, der von einem spielerischen Gefühl der Revanche begleitet ist. Putzer ist Physiklehrer, und der Physiker in ihm wittert hier eine letzte Chance, seine heutige Niederlage noch in einen Sieg zu wenden.
«Einverstanden, aber wir fahren nach folgenden Regeln: Wir stellen uns oben nebeneinander hin und lassen uns einfach den Hang runtergleiten – ohne Anschieben, ohne Hilfsschritte. Und wer zuerst unten ankommt, der hat nicht nur das Rennen gewonnen, sondern den ganzen Tag.»
«Alles oder nichts, was?», lacht der Sohn. «Und mit Können oder gar Sport hat das dann ja überhaupt nichts mehr zu tun, wir lassen uns einfach nur von der Schwerkraft ins Tal ziehen.» Dann denkt er kurz nach. «Also du verstehst mehr von Physik als ich, aber wir haben vor zwei Jahren die schiefe Ebene in der Schule durchgenommen. Und da kam heraus, dass auf der alles ähnlich passiert wie im freien Fall – alle Körper rutschen oder rollen gleich schnell ins Tal, vorausgesetzt, die Reibung ist dieselbe. Da wir die gleichen Skier haben, sollte das so sein, also müsste ein Dicker wie du genau gleichzeitig mit einem Dünnen wie mir unten ankommen!»
«Wenn du meinst», sagt der Vater und kann ein leichtes Grinsen nicht vermeiden. «Und das mit dem Dicken möchte ich überhört haben. Ich bin größer als du und ein bisschen kräftiger gebaut. Lass es uns ausprobieren!»
Die beiden stellen sich Skispitze an Skispitze am Beginn der langgezogenen Piste auf und stützen sich mit den Skistöcken ab. Auf «Los!» nehmen sie die Stöcke hoch, die Skier setzen sich fast grotesk langsam in Bewegung. Aber schon nach ein paar Metern nehmen Vater und Sohn Fahrt auf. Die Piste ist blau gekennzeichnet, sie wird nie so steil, dass ein geübter Skifahrer gezwungen wäre, Schwünge zu machen – man kann die Ski einfach «laufen lassen», ohne die Kontrolle zu verlieren.
Und schon nach wenigen hundert Metern muss Marcel einsehen, dass sein Vater zwar nicht mehr der bessere Skifahrer ist, aber immer noch der bessere Physiker: Zentimeter für Zentimeter schiebt sich der Alte an ihm vorbei, nach der Hälfte der zwei Kilometer langen Strecke hat er schon einen Vorsprung von zehn Metern. Marcel geht in die Hocke, aber das tut Stefan Putzer auch. Was der Junge auch probiert, extreme Rückenlage oder Kanten der Skier – es nutzt nichts, der Vater ist schneller und schwingt mit 25 Meter Vorsprung an der Talstation der Gondel ein.
«Was für ein Rennen!», ruft Stefan Putzer aus, der seinen letzten Sieg offenbar genießt.
«Na ja, dick gewinnt», brummt Marcel. «Lass uns einkehren und den Jagatee trinken – und dann erklär mir, warum ein schwerer Skifahrer schneller unten ankommt als ein leichter!»
Die Zeche hat dann übrigens doch der Vater bezahlt.
Die Luft bremst
Fährt ein schwerer Skifahrer unter ansonsten gleichen Bedingungen tatsächlich schneller als ein leichter? Bevor wir uns den Skifahrern zuwenden, betrachten wir einen einfacheren Fall: den einer unendlich großen Steigung, also den freien senkrechten Fall von Objekten. Fallen schwerere Dinge langsamer als leichtere? Das war für die Menschen früher so sonnenklar, dass man gar nicht daran dachte, es einmal experimentell zu überprüfen. Der Legende nach soll Galileo Galilei die Fallgesetze bewiesen haben, indem er unterschiedlich schwere Kugeln gleicher Größe vom Schiefen Turm von Pisa warf – und beide Kugeln kamen gleichzeitig unten an.
Aber die Geschichte ist wohl tatsächlich nur eine Legende. Gleich aus mehreren Gründen: Erstens gab es damals gar nicht die Uhren, um derart schnelle Bewegungen exakt zu messen. Galilei benutzte deshalb schiefe Ebenen, auf denen er Kugeln rollen ließ.
Und zweitens war Galileo lange selbst auf dem falschen Dampfer. In seinem Frühwerk De Motu, das um 1590 entstand, versuchte er, die (falsche) These von Aristoteles zu widerlegen, dass die Fallgeschwindigkeit eines Körpers von seinem Gewicht abhängt. Der junge Galilei entwickelte eine komplizierte, leider ebenfalls falsche Theorie, nach der nicht das Gewicht, sondern die Dichte eines Körpers die Fallgeschwindigkeit bestimmt.
Aber Galileo war offen für Experimente und sah ein, dass die Wirklichkeit mit seiner Theorie nicht übereinstimmte: «Denn wenn man zwei unterschiedliche Körper nimmt, die solche Eigenschaften haben, dass der erste zweimal so schnell fallen sollte wie der zweite, und lässt sie von einem Turm fallen, dann erreicht der erste den Boden nicht wesentlich schneller als der zweite.» Eine schmerzliche Einsicht, die ihn nicht ruhen ließ, bis er Jahre später das tatsächliche Fallgesetz entdeckte, nach dem alle Körper gleich schnell fallen – zumindest, wenn man die Reibungskräfte vernachlässigt.
Woran liegt das? Es hat mit der Trägheit von Massen zu tun. Alle Massen sind träge, das heißt, sie wollen ihren aktuellen Zustand beibehalten und sträuben sich gegen...