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Der Schweizer Nachrichtendienst seit der Fichenaffäre

Was er kann und was er darf

AutorClement Guitton
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783038103790
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,10 EUR
1989 kam die Fichenaffäre ans Licht und führte zu einer gründlichen Durchleuchtung der nachrichtendienstlichen Politik der Schweiz. Vieles hat sich seither verändert. Nach wie vor begegnet man aber diffusen Vorstellungen vom Wesen unseres Nachrichtendiensts: Er überwache alle Bürger, seine Tätigkeiten seien streng geheim, er stelle sich über das Gesetz. Der Politanalyst Clement Guitton wirft einen nüchternen Blick auf die letzten 30 Jahre - auf die in Vergessenheit geratene Rolle des Parlaments beim Fichenskandal, auf die Gründung von zwei zivilen Nachrichtendiensten und auf deren Zusammenlegung. Er analysiert konkrete Fälle nachrichtendienstlicher Tätigkeiten und die verschiedenen politischen Kräfte, die die Veränderungen seit 1989 geprägt haben.

(* 1988), Dr., hat am Imperial College London Electrical Engineering studiert und am King's College London in International Relations promoviert. Als Analyst für politische Risiken hat er sich u.a. beim Verteidigungsdepartement (VBS) mit neu entstehenden Risiken beschäftigt.

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Leseprobe
Kapitel 2:Die Fichenaffäre (1989  1999)

Die Fichenaffäre begann im November 1989. Aber selbst 26 Jahre später ist sie noch nicht in Vergessenheit geraten. Am 16. März 2015 wurde über ein neues Gesetz für den Nachrichtendienst im Parlament debattiert, dem schliesslich zugestimmt wurde. Während der Debatte äusserte sich der kürzlich verstorbene Nationalrat Daniel Vischer von den Grünen dazu:

Erstmals seit dem Fichenskandal, erstmals seit 1989 wird nun in neuer Qualität ein Überwachungssystem installiert, was damals in den 90er-Jahren nicht mehr für möglich gehalten wurde.1

Ähnliches findet sich 2010 in einem Artikel des Tages-Anzeigers: «Der inländische Nachrichtendienst hat nichts aus dem Fichenskandal gelernt – oder nichts lernen wollen.»2 Die Fichenaffäre hat offensichtlich sehr viel Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Ämtern hervorgerufen. Aussagen wie die eben zitierten finden sich häufig. Darin sind zwei Hypothesen enthalten, die sich ständig wiederholten, wenn über die Affäre gesprochen wurde: dass die Fichen als Teil eines Überwachungssystems das Privatleben der Bürger beeinträchtigt haben und dass den Nachrichtendiensten nicht vertraut werden kann. Diese Hypothesen werfen folgende Fragen auf:

Wie funktionierte dieses sogenannte Überwachungssystem zur Zeit der Fichenaffäre wirklich? Und was konnte man daraus lernen – oder anders formuliert, was waren die Auswirkungen der Fichenaffäre?

Dieses Kapitel wird zeigen, dass ein Teil der Verantwortung für die Affäre bei den Parlamentariern liegt, was sehr oft vergessen wird. Die Parlamentarier waren sich ihres Mangels an Kenntnissen über den Staatsschutzapparat durchaus bewusst, sie änderten aber nichts daran. Die Parlamentarier nutzten die Fichenaffäre, um sich in die nachrichtendienstliche Arbeit einzumischen. Diese wurde dadurch erschwert, vor allem die des inländischen Nachrichtendiensts. Auf der anderen Seite blieben die Beschränkungen für die Arbeit des Auslandsnachrichtendiensts fast unverändert.

Als die Fichenaffäre ausgelöst wurde, gab es nur einen zivilen Nachrichtendienst und zwei weitere militärische Nachrichtendienste. Diese Aufteilung war ungewöhnlich. Es gab einen Dienst für das Inland innerhalb der Bundesanwaltschaft. Ein anderer war für militärische Bedrohungen aus dem Ausland zuständig und beim Eidgenössischen Militärdepartement angesiedelt, der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA). Letztlich gab es noch eine eher geheime Einheit, «Projekt 27» (oder P-27) genannt, die für das Ausland zuständig war und die ausserhalb der Bundesverwaltung rangierte, jedoch trotzdem der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr unterstellt war.3 Letztlich liegt der Schutz der inneren Sicherheit nicht nur in der Verantwortung des Bundes, sondern auch der Kantone.4 Das bedeutet, dass alle Kantone zu dieser Zeit ihre eigene Nachrichtendienstabteilung für inländische Bedrohungen hatten (und immer noch haben).

Die Bundesanwaltschaft zur Zeit der Fichenaffäre

Bevor es nun konkret um die Fichenaffäre geht, ist es nötig, die Geschichte und Funktion der Bundesanwaltschaft zu analysieren, da sie eine zentrale Rolle in der Affäre spielte. Eine Abteilung der Bundesanwaltschaft hatte die Rolle inne, die heutzutage am ehesten mit der des Nachrichtendiensts vergleichbar wäre: die politische Polizei. So wurden jene Politiker bezeichnet, die die Verantwortung für alle Vorgänge innerhalb der Bundesanwaltschaft tragen sollten.5 Da die politische Polizei ausserhalb des Strafverfolgungsprozesses operierte, musste definiert werden, welche Gruppen eine Bedrohung für die Nationalsicherheit darstellten. Gewählte Politiker, namentlich der Bundesrat, definierten diese Gruppen.6 (In der Praxis hat nach der Fichenaffäre die Bundesanwaltschaft einen grossen Anteil der politischen Verantwortung getragen – mehr darüber weiter unten.) Die Bezeichnung «Polizei» ist aus heutiger Sicht irreführend, da diese Polizei präventiv (und nicht reaktiv) operierte, wenn also lediglich ein Verdacht bestand und noch bevor ein Delikt begangen wurde.

Die Bundesanwaltschaft ist Teil der Exekutive und somit dem Justizdepartement unterstellt. Ihre Verantwortung ist es, Menschen vor Gericht zu bringen, die eine Bedrohung für den Staat darstellen. In dieser Hinsicht hat sich die Bundesanwaltschaft die Jahre hindurch mit verschiedenen Themen beschäftigt. Zum Beispiel lag ihr Fokus Ende des 19. Jahrhunderts auf Anarchisten und in den Jahrzehnten vor 1989 auf Kommunisten (offiziell war die Schweiz zwar während des Kalten Kriegs neutral, aber in der Praxis sah sie eine Bedrohung «aus dem Osten»).7 Seit 1979 umfassten die generellen Aufgaben der Bundesanwaltschaft die «Massnahmen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung; Handhabung der politischen Fremdenpolizei; Fahndungs- und Informationsdienst im Interesse der inneren und äusseren Sicherheit des Landes; Erfüllen der Aufgaben des Sicherheitsdiensts der Armee in Friedenszeiten».8 Als die Bundesanwaltschaft gegründet wurde, hatte sie nicht viel Macht. 1895 zählte sie drei Mitarbeiter.9 Trotzdem hatten verschiedene Parlamentarier dem Bundesanwalt im Juni 1889 schon sehr bedeutungsvolle Kurznamen gegeben. Dies spiegelte wider, wie viel Macht die Parlamentarier dem Bundesanwalt zuschrieben: «Bundesoberpolizeidienst», neuer «Landvogt», und jemand mit Sinn für Humor rief dem Bundesanwalt sogar ein «Habemus papam» zu.10 Anfang des 20. Jahrhunderts wuchsen die Aufgaben der Bundesanwaltschaft und ihre Ressourcen. 1935 brachte die rechtliche Grundlage, die es der Bundesanwaltschaft erlaubte, einen Polizeidienst unter ihrer Führung aufzubauen: den Polizeidienst der Bundesanwaltschaft, auch Bundespolizei genannt.11

Mit der Bundespolizei vereinte die Bundesanwaltschaft zwei Tätigkeiten, die manche Parlamentarier als inkompatibel betrachteten: jene des Staatsanwalts und jene des obersten Polizeichefs. Diese zwei Tätigkeiten in einem Amt zu kombinieren, wurde mit dem Hintergedanken vollzogen, die Effizienz zu steigern. Die Bundespolizei sollte der Bundesanwaltschaft auf direktem Wege Informationen liefern, ohne darauf Rücksicht nehmen zu müssen, ob danach ein Verfahren eröffnet werde oder nicht. Diese Informationen dienten dann entweder der Prävention oder in einem Prozess als Beweis. Für die Mitarbeitenden bedeutete dies, dass sie ständig zwischen zwei Rollen wechseln mussten: Sie waren einmal als gerichtliche Polizei bei Strafverfolgungsprozessen tätig und ein andermal als Teil eines Nachrichtendiensts.12

Auch gesetzlich war die Linie zwischen den beiden Funktionen und ihrer Rechtsgrundlage für die Informationsbeschaffung unklar.13 Konzeptionell war die präventive Polizei so gestaltet, dass sie Informationen sammeln sollte mit dem Ziel, diese möglicherweise später an die Bundesanwaltschaft weiterzuleiten, um ein Strafverfolgungsverfahren zu eröffnen. Die gesammelten Informationen mussten daher nur einen Verdacht andeuten. Erst wenn ein Verfahren eröffnet war, mussten im Anschluss Beweise beschafft werden. Oft sind die durch einen nachrichtendienstlichen Prozess beschafften Informationen nicht für eine eventuelle Strafverfolgung geeignet: Die Quellen dürfen nicht genannt werden, was es erschwert, die Legitimität des Beweises zu überprüfen. Ferner sind die Anforderungen für einen Verdacht viel niedriger, als wenn es darum geht, die Schuld einer Person zu beweisen.14 Die Bundespolizei war weiter getrennt in Ressorts für das Inland und das Ausland. Inlandsmitarbeitende kümmerten sich zum Beispiel um Rechtsextremismus oder die Juraseparatisten. Der Auslandsdienst war hauptsächlich zuständig für die Abwehr von Spionage von anderen Staaten (insbesondere von osteuropäischen Staaten, aber auch von Israel oder Frankreich).15 Die Armee war hingegen für die Lagebeurteilung im Ausland zuständig und legte dadurch ihren Fokus stark auf die Analyse von Bedrohungen, die von ausländischen Armeen ausgingen. Zu dieser Zeit analysierten die Nachrichtendienste die Risiken nicht, die nach 1989 auf der internationalen Agenda standen: innerstaatliche Konflikte, Menschenrechtsverletzungen, Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (Proliferation), Finanzkrisen oder ökologische Katastrophen.16

Zudem gab es bei der Bundespolizei noch eine dritte Einheit, die für den Kontakt mit anderen ausländischen Nachrichtendiensten zuständig war und Meldungen mit ihnen austauschte.17

Gründe für die Tragweite der Affäre

Im Dezember 1988 ereignet sich das, was später Fichenaffäre genannt wurde. Die Bundesanwaltschaft geriet währenddessen durch die Affäre Kopp stark unter Beschuss. Die Bundesrätin Elisabeth Kopp, Vorsteherin des Justizdepartements, bei dem die Bundesanwaltschaft angesiedelt ist, gab zu, ihrem Ehemann Informationen weitergegeben zu haben, die einen Drogenfall betrafen. Ihr Ehemann war Mitglied des Verwaltungsrats der Firma Shakarchi Trading AG und stand wegen dieses Falls unter Verdacht durch die Bundesanwaltschaft (der Verdacht blieb unbewiesen).18 Ihr Ehemann kündigte sofort bei Shakarchi. Als Nationalrat und Ständerat von dem Vorfall erfuhren, wollten sie genauer erfahren, was geschehen war. Sie setzten dafür eine Parlamentarische Untersuchungskommission ein, die den Fall, das Justizdepartement und die Bundesanwaltschaft genauer untersuchen sollte. Ein Jahr später wurde ihr Bericht veröffentlicht, der die sogenannte Fichenaffäre auslöste.

Es gab kein Warnsignal, das diese Affäre...

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