Prolog
Es ist Freitag, der 6.Mai 1983, 11.00 Uhr, als im 6. Stock des Redaktions- und Verlagshauses von Gruner+Jahr an der Hamburger Außenalster die Redaktionskonferenz des Stern beginnt. Einziges Thema: die Hitler-Tagebücher. In der Woche zuvor hatten die Stern-Chefredakteure Peter Koch und Felix Schmidt gemeinsam mit dem Tagebuchbeschaffer Gerd Heidemann und Ressortleiter Thomas Walde auf einer internationalen Pressekonferenz vor 250 Journalisten den Sensationsfund bekannt gegeben und weltweit Schlagzeilen gemacht.
Jetzt ist der zweite Teil der Tagebuchserie erschienen: Hitlers Aufzeichnungen über den spektakulären Flug seines Stellvertreters Rudolf Heß nach England – mitten im Zweiten Weltkrieg. Freitags ist Heftkritik beim Stern, und jetzt wird über die einseitige Präsentation der Tagebücher diskutiert. Wieder nur Bilder von Hitler, der Kinderwangen tätschelt, Heß als verwegenem Pilot, Joseph Goebbels und Hermann Göring in freundlichen Posen, keine Fotos von den Opfern ihrer Verbrechen. Der Stern mache Nazipropaganda, heißt es.
Chefredakteur Peter Koch ist auf einer Präsentationstour in den USA, um in Fernsehsendungen für die Tagebücher zu werben. Felix Schmidt wehrt sich gegen die Vorwürfe aus der Redaktion. Jeder wisse doch, was damals geschehen sei. Als Ingrid Kolb, Leiterin des Ressorts »Gesellschaft und Erziehung«, die öffentlich erhobenen Zweifel an der Echtheit der Tagebücher aufgreift und konkret wissen will, was es damit auf sich habe, wird Schmidt scharf: »Ich bin nie sicherer gewesen als jetzt.« Kritik, das Ressort »Zeitgeschichte« rühre in brauner Sauce, schmettert Schmidt mit dem Satz ab: »Wer an den Kollegen zweifelt, befindet sich beim falschen Blatt.« Als er nach den merkwürdigen Initialen auf einem Tagebuch gefragt wird, das sei doch kein »AH« für Adolf Hitler, sondern »FH«, antwortet Schmidt, über diese Verwechslung habe sich auch schon Hitler erregt.
Auf den Fluren und in der Kantine des »Affenfelsens« – so wird das Verlagsgebäude wegen seiner terrassenartigen Form im Volksmund genannt – gehen die Diskussionen nach der Konferenz weiter. Die Drohungen von Schmidt sorgen für Empörung. Und was ist an den Fälschungsvorwürfen dran? Die falschen Buchstaben sind wirklich komisch. Aber es gibt doch eindeutige Schrift- und Papiergutachten, die belegen, dass die Tagebücher echt sind? Der Stern würde doch nie solch brisante Dokumente veröffentlichen, wenn sie nicht nach allen Regeln der Kunst geprüft sind.
Es ist kurz nach halb zwei, als mein Kollege Teja Fiedler in mein Zimmer im fünften Stock des Redaktionshauses kommt und sagt: »Du, die Bücher sind gefälscht!« Ich mag das nicht glauben: »Woher hast du das?« – »Meine Mutter hat mich gerade angerufen. Die hat es im Radio gehört.«
Um 13.27 Uhr hat die Nachrichtenagentur AP eine Eilmeldung verbreitet, dass die vom Magazin Stern veröffentlichten Tagebücher Adolf Hitlers eine Fälschung seien. Kurz zuvor hat Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann dieses Ergebnis von Untersuchungen des Bundeskriminalamtes und des Amtes für Materialprüfung in Bonn bekannt gegeben. Es ist der größte Presseskandal in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Beim Stern herrscht Entsetzen, Wut und Verzweiflung. Der Konferenzraum ist überfüllt, als Felix Schmidt um 14.30 Uhr der Redaktion offiziell bestätigt, was schon alle wissen. Fragen nach Details der Affäre wehrt der Chefredakteur ab. Es geht jetzt darum, das Heft zu aktualisieren. Die zweite Heß-Folge muss aus dem Blatt, Ersatzartikel müssen produziert werden. Für 17.00 Uhr wird eine Vollversammlung der Stern-Redaktion in der Kantine mit Schmidt und Gerd Schulte-Hillen, dem Vorstandsvorsitzenden von Gruner+Jahr, angekündigt.
Gegen 16.00 Uhr klingelt mein Telefon, am Apparat ist Henri Nannen, der Gründer, langjährige Chefredakteur und jetzige Herausgeber des Stern. Ich solle doch gleich in den 9. Stock in das Büro von Verlagschef Gerd Schulte-Hillen kommen. Um den großen runden Konferenztisch mit herrlichem Panoramablick über die Alster ist der Vorstand von Gruner+Jahr versammelt. Neben Nannen und Schulte-Hillen auch Zeitschriften-Vorstand Dr.Jan Hensmann und John Jahr jr. Es herrscht gedrückte Stimmung, die Gesichter sind grau.
So habe ich die Führungsmannschaft des Verlages noch nie erlebt. Ich bin jetzt dreizehn Jahre beim Stern. Angefangen habe ich im Sommer 1970 als Korrespondent in Westberlin. Von 1972 bis Ende 1977 habe ich im Düsseldorfer Büro gearbeitet und bin dann als Terrorismus-Experte in die Hamburger Zentrale gewechselt. Seit 1980 leite ich das Ressort »Deutschland Aktuell«. Mir ist klar, dass jetzt ein ganz besonderer Auftrag auf mich wartet.
Henri Nannen ist an diesem Freitag auf dem Hamburger Flughafen durch einen Anruf von Jan Hensmann über die Fälschung informiert worden und sofort ins Verlagshaus zurückgekehrt. Die Justiziare von Gruner+Jahr hatten vorab vom Bundesarchiv von der Pleite erfahren. Nun will Nannen, dass der Stern selbst die Fälschungsmeldung wenigstens als Erster an die Agenturen gibt, er wird aber von Minister Zimmermann überholt.
Nannen hat schon viele schwere Stunden durchgemacht. Die böseste Attacke ritt 1971 der Chef des »ZDF Magazin« Gerhard Löwenthal gegen ihn. Vorwurf: Nannen sei als Wehrmachtsoffizier während des Zweiten Weltkrieges in Italien in Geiselerschießungen verwickelt gewesen. Dank erfolgreicher Recherchen von Stern-Reportern konnte Nannen diese Beschuldigungen widerlegen, sein live übertragenes Streitgespräch mit Löwenthal ging in die Fernsehgeschichte ein. Die Pleite mit den angeblichen Hitler-Tagebüchern empfindet er selbst als seine schwärzeste Stunde.
Die Vorstandsrunde wirkt ratlos. Gerd Schulte-Hillen, der den Verlag mit straffer Hand führt und für Selbstzweifel nicht bekannt ist, schweigt. Nannen sagt, dass der Verlag und der Stern Opfer von Betrügern geworden sind. »Klären Sie die Sache auf, ohne Ansehen der Person. Sie haben freie Hand.«
Zurück in meinem Büro rufe ich die Redakteure des Ressorts »Deutschland Aktuell« zusammen und berichte ihnen von Nannens Auftrag. Bevor die Recherchen richtig beginnen können, brauchen wir als wichtigsten Informanten Gerd Heidemann, den Mann, der die »Hitler-Tagebücher« beschafft hat.
Heidemann, seit 1955 beim Stern, gilt als Mann für die schwierigen Fälle, ein penibler Rechercheur, Fotograf und Kriegsberichterstatter. Als Reporter hat er von dreizehn Kriegen in Afrika und im Nahen Osten berichtet. In der Bestechungsaffäre um die Beschaffung des Lockheed-Kampfflugzeugs Starfighter für die Bundesluftwaffe hat Heidemann bewiesen, dass der Hauptbelastungszeuge Ernest Hauser sein Tagebuch mit kompromittierenden Eintragungen über den ehemaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß gefälscht hatte. Heidemann ist einer, der bei Recherchen jeden Stein zweimal umdreht. Die Kollegen nennen ihn halb hochachtungsvoll, halb spöttisch »den Spürhund«.
An diesem Freitag ist Heidemann in Süddeutschland unterwegs. Er besucht im bayerischen Miesbach die Witwe eines Druckereibesitzers und ehemaligen SS-Mannes. Der Reporter fahndet nach alten Papiermustern aus der NS-Zeit, in denen er optische Aufheller erhofft. Denn die hat ein Gutachter in einer angeblich von Adolf Hitler geschriebenen Notiz gefunden und das Dokument für falsch erklärt, weil solche Aufheller erst nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Papierproduktion verwendet worden seien. Aber bei der SS, so hat Heidemann von einem Informanten erfahren, sei schon mit diesen Chemikalien experimentiert worden. Heidemann hört im Autoradio die Nachricht von der Fälschung. Er hält an der nächsten Telefonzelle und ruft in Hamburg Thomas Walde an, den Chef des Ressorts »Zeitgeschichte«, mit dem er seit mehr als zwei Jahren an den Tagebüchern gearbeitet hat.
Walde sagt zu Heidemann, er solle zum Flughafen München-Riem fahren und sofort nach Hamburg zurückkommen. Aber nicht mit einer Linienmaschine, sondern mit einem Charterflugzeug. »Die Konkurrenz ist hinter dir her!« In der Bar des Flughafens erwartet ihn der Münchner Stern-Korrespondent. Beide trinken einige Glas Whisky, ehe die Privatmaschine gegen 21.00 Uhr endlich in Riem landet. Kurz vor Mitternacht ist Heidemann in Hamburg.
Im 9. Stock des »Affenfelsen« erwarten ihn Gerd Schulte-Hillen, Henri Nannen und Jan Hensmann. Nannen begrüßt ihn mit dem Satz: »Entweder Sie sind ein Betrüger, oder Sie gehören ins Irrenhaus.« Schulte-Hillen fragt den Reporter: »Was sagen Sie dazu?« Heidemann antwortet zur Verblüffung der Anwesenden. »Die Bücher sind echt.« Nannen und Schmidt werden nun endgültig wütend und wollen endlich wissen, von wem Heidemann die sechzig Tagebuchbände bekommen hat. Der weigert sich, seine Quelle zu nennen, und beruft sich auf den ihm vertraglich zugesicherten Informantenschutz. Die Bücher seien heimlich aus der DDR in den Westen gekommen. Er könne die Namen nicht nennen, hier gehe es um Menschenleben.
Und dann stellt Heidemann sein Tonbandgerät auf den Konferenztisch, legt eine neue Kassette ein und spielt das mitgeschnittene Gespräch mit einem seiner Informanten vor. Der kündigt an, dass Hitlers ehemaliger Sekretär und rechte...