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Der spanische Schelmenroman und seine deutschen Verwandten

AutorDanuta Depka Prondzinska
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl104 Seiten
ISBN9783640280261
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Germanistik - Gattungen, Note: gut, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 100 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Frage der Provenienz und der Verbreitung der spanischen 'novela picaresca' als der Kern des europäischen Schelmenromans beschäftigt Literaturwissenschaftler schon seit langer Zeit. Trotz zahlreicher Beiträge ist man sich in vielen, auch grundlegenden Fragen zum Schelmenroman, seinen Vorbildern, Auswirkungen und sogar Gattungsmerkmalen nicht immer einig und schon die etymologische Begriffsbestimmung erweist sich als problematisch. In dieser Arbeit werden die Wörter 'Pikaro' und 'Schelm' sowie 'Schelmenroman' und 'Pikaroroman' analog verwendet. Die vorliegende Magisterarbeit hat eine zweifache Aufgabe. Erstens soll die Landesgrenzen überschreitende Entwicklung des Schelmenromans erforscht werden. Zweitens wird die Entwicklung untersucht, die der Schelmenroman innerhalb der letzten Jahrhunderte erfahren hat. Dabei soll versucht werden zu klären, inwieweit das Aufkommen dieser Gattung mit bestimmten gesellschaftlichen und historischen Konstellationen zusammenhängt und als Reaktion auf diese gefördert wird. Am Beispiel 'Lazarillo de Tormes' soll der Schelmenroman auf die herausgearbeiteten Merkmale hin geprüft und mit den verschiedenen Variationen des Pikarischen anhand der Novelle 'Rinconete und Cortadillo' in Zusammenhang gebracht werden. In einem daran anschließenden Teil thematisiere ich den Aufbruch des Schelmenromans in Deutschland und stelle ihn in einen Kontext zur zeitgenössischen gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation. Die Differenzen und die Affinitäten zum spanischen Schelmenroman sollen anhand von 'Simplicissimus' dargestellt werden. Als Übergang zum nächsten Kapitel wird die Rezeption und die Wirkungsgeschichte des Schelmenromans in Deutschland bis in die Gegenwart dienen. 'Simplicissimus' steht hierbei stellvertretend für die literarischen Werke des Spätbarocks. Schließlich möchte ich versuchen zu klären, ob man von einem Aufkommen des Schelmenromans in der Gegenwart sprechen kann oder eben nur von Variationen der Pikareske und welche Rolle dem spanischen Exempelwerk 'Lazarillo' dabei zukommt. Um zu zeigen, dass der Schelmenroman nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien in den letzten Jahrhunderten eine Entwicklung erfahren hat, werde ich eine Untersuchung des Romans von Eduardo Mendoza aus dem Jahr 1979 hinzuziehen. Sowohl hier wie auch im Fall des deutschen (Wende-) Romans von Jens Sparschuh darf auch der gesellschaftliche Kontext, in den die Werke eingebunden sind, nicht fehlen.

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Leseprobe

3. Die spanischen Schelmenromane


 

3.1 „Lazarillo de Tormes“


 

Das schmale Werk eines bis heute unbekannten Autors erschien 1554 und wurde bald zu einem wichtigen Vorläufer und gleichzeitig Vertreter für die pikareske Literatur nicht nur in Spanien, sondern in ganz Europa. Seine möglichen Vorbilder wurden bereits im Punkt 2.2 über die Entstehungsgeschichte des Schelmenromans angesprochen. Die Wirkungsgeschichte des in seiner Neuartigkeit außergewöhn-lichen Werkes dauert bis heute an. Über die Jahrhunderte hinweg erfuhr die Geschichte des kleinen Gauners zahlreiche Modifikationen und Umwandlungen in der literarischen Form und behandelten Thematik. Dies ist jedoch mit der allgemeinen Entwicklung der Literaturgeschichte und der zu kritisierenden gesellschaftlichen Gegebenheiten verknüpft. Die Auseinandersetzung mit der späteren Geschichte und der Rezeption des Werkes soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch thematisiert werden. Die Wahl ist unter anderen deshalb auf „Lazarillo“ gefallen, weil das knappe Werk eine große Bedeutung für die Entwicklung der gesamten Literaturgeschichte hat, und auch deshalb, weil sich an diesem Werk alle gattungsimmanenten Merkmale wie an fast keinem anderen ausmachen und untersuchen lassen.

 

3.1.1 Die Struktur, der Inhalt und der Titel


 

Die Geschichte des Schelms Lazarillo besteht aus einem Prolog und sieben Kapiteln, in denen sein Leben präsentiert wird. Im Prolog, der in der Form eines an „Vuestra Merced“ gerichteten Briefes verfasst ist, kündigt ein Ich-Erzähler an, seine Lebensgeschichte zu berichten. Die Vorrede ist kurz, aber bündig und zeigt die ungefähre Richtung des Werkes. Der Ich-Erzähler, also Lazarillo selbst, will in Form einer Autobiographie sein Leben von Anfang an bis zu dem Zeitpunkt, an dem er dieses Schreiben verfasst, berichten. Er will von seiner Familie und vom Glück und Unglück, das ihm widerfahren ist, erzählen. Aber auch davon, wie er trotz der Widrigkeiten, die ihm Gott und Mensch immer wieder bescheren, doch noch auf den rechten Weg gelangt, der in ein friedvolles Leben einmündet.

 

Im ersten Kapitel beginnt Lazarillo damit, von seinen Eltern, seinem Geburtsort und seiner noch relativ unbeschwerten Kindheit zu erzählen. Da seine Mutter jeder männlichen Fürsorge beraubt war und noch ein kleineres Kind zu versorgen hatte, gibt sie Lazarillo einem Blinden als Blindenführer in Obhut. Gleich zu Beginn der gemeinsamen Wanderschaft mit dem Blinden wird Lazarillo die wichtigste Lektion seines Lebens erteilt, in der er erkennt, dass er auf niemanden als auf sich selbst zählen kann und aus seiner „tiefen Einfalt“ (S.14) erwachen muss. Im weiteren Verlauf seines Berichts wird der Blinde noch einige Male als ein guter Lehrer erwähnt, dem Lazarillo seine Vorbereitung auf das harte Leben zu verdanken hat. Den weiteren gemeinsamen Weg bestreiten Lazarillo und der Blinde in einem ununterbrochenen „Zweikampf der gegenseitigen Überlistung“,[55] den Lazarillo führt, um seinen Hunger zu stillen, und der Blinde aus purem Geiz und Grausamkeit, bis Lazarillo entscheidet, sich zu rächen und den Blinden zu verlassen.

 

Dem Blinden entlaufen, gerät Lazarillo an einen noch schlimmeren Herrn, den geizigen Geistlichen, der ihn fast verhungern lässt. Wenn der Blinde auch geizig war, im Nachhinein beschreibt Lazarillo ihn als „Alexander Magnus im Spendieren und Ausgeben“ (S.31) im Vergleich zum Priester. Das Motiv des Hungerleidens wird im zweiten Kapitel noch weiter ausgeführt. Neben der Darstellung des Geizes und der Heuchelei des Priesters, den Lazarillo aus Angst, einen noch schlimmeren Herrn zu erwischen, nicht sofort verlässt. Auch in diesem Kapitel findet ein Kampf statt. Lazarillo, von Hunger getrieben, lässt sich immer wieder neue Tricks einfallen, um den geizigen Priester zu überlisten und an Essen zu kommen. Die Episode mit der Brottruhe, in die Lazarillo mit seiner ganzen Erfindungskraft einzubrechen versucht, wird von ihm in allen Einzelheiten dargestellt und nimmt den größten Teil dieses Kapitels ein.

 

Das Thema des Hungers ist zentral und wird bis zu einer Zuspitzung im dritten Kapitel ausgeführt, in dem Lazarillo erzählt, wie er einem verarmten Adeligen begegnet, der ihn zu seinem Diener nimmt. Lazarillos Freude über den vermeintlich reichen Herrn ist schnell vorbei, als er feststellt, dass dieser genau so ein Hungerleider ist wie er selbst. Er gibt es aber nicht zu, weil ihn sein übermäßiger Stolz- und Ehrbegriff daran hindert, der ihn ebenfalls davon abhält, einer Arbeit nachzugehen. Dies ist der erste Herr Lazarillos, den er nicht als Unmenschen präsentiert, sondern mit dem er Mitleid empfindet. Statt für seine Dienste mit Essen entlohnt zu werden, ernährt er seinen Herrn mit dem, was er erbettelt hat. Die Weise, auf die Lazarillo sein Brot mit seinem Herrn teilt, um dessen Gefühl nicht zu verletzen, obwohl er es nicht befürwortet, zeigt, dass er durchaus gutherzig und human anderen Menschen gegenüber ist. Obwohl dieser Herr Lazarillo noch weniger als der Blinde und der Geistliche geben kann, findet hier kein Kampf statt, sondern die beiden werden zu Verbündeten, die gemeinsam die Qualen des Hungers durchzustehen versuchen.

 

Das vierte Kapitel ist sehr knapp gehalten und beschreibt in wenigen Sätzen den nächsten Herrn Lazarillos, einen Mönch, der das Gebet und das Klosteressen meidet, bei dem es dafür sehr weltlich zugeht. Nach knapp einer Woche hat Lazarillo seine ersten Schuhe zerlaufen und den Mönch verlassen. In diesem Kapitel wird das Hungermotiv zunächst nicht behandelt und Lazarillo beschreibt nur den Mönch, anstatt Geschehnisse darzustellen, in denen er selbst der Protagonist ist. Diese Richtung wurde schon im Kapitel mit dem armen Adeligen eingeschlagen, in dem Lazarillo immer mehr in den Hintergrund geraten ist und sein Herr dafür als eine „Schöpfung eines originellen Charakters“[56] ausgearbeitet wurde, im Vergleich zu den vorherigen Figuren, die „weitgehend in einer festen Tradition stehen“.

 

Im fünften Kapitel ist Lazarillo Diener eines Ablasskrämers, bei dem er einige Monate verbringt. Jedoch erzählt er hier weniger von dem Verhältnis zwischen ihm und seinem Herrn. Das Hungermotiv und der Kampf „List gegen List“ finden hier keine Anwendung. Vielmehr ist dieses Kapitel die Darstellung einer einzelnen Episode, in der die Gerissenheit des betrügerischen Krämers beim Verkauf der Ablässe präsentiert wird. Lazarillo erwähnt zwar im letzten Satz des Kapitels, dass er auch bei diesem Herrn einiges auszuhalten hatte, und distanziert sich von dessen Betrügereien, ist hier aber nur als Erzähler und nicht als handelnde Figur präsent.

 

Danach folgt wieder ein kurzes Kapitel, in dem Lazarillo in die Dienste eines Kaplans tritt, nachdem er in einem Satz erwähnt, dass er auch einem Maler gedient hatte. Für den Kaplan verkauft er Wasser, steht aber nicht in direkter Dienerbeziehung zu ihm. Ab diesem Moment geht es ihm auch wesentlich besser. Er leidet keinen Hunger mehr, wird von seinen Herren nicht gepeinigt, kann sich sogar für seinen Verdienst alte Kleider kaufen und wird nun ein „ehrlicher Mann“(S. 88). Nach einer kurzen Erwähnung des gefährlichen Dienstes bei einem Vogt sucht sich Lazarillo eine Beschäftigung als Ausrufer, die vergleichbar mit der des Henkers ist und sich keiner besonders guten gesellschaftlichen Stellung erfreut. Aber immerhin bekleidet er ein öffentliches Amt, und das war schon immer sein Ziel. Als ihn noch ein Erzpriester mit der eigenen Konkubine verheiraten will, geht Lazarillo darauf ein, weil er darin das Versprechen eines besseren, gesicherten Lebens sieht. Nach so vielen Missgeschicken hat er endlich den Frieden und den Wohlstand erreicht, die er schon im Prolog als den sicheren Hafen und den Gipfel all seines Glücks bezeichnet hat.

 

Als Namen für die Hauptfigur wählte der Autor „Lazarillo“, eine verniedlichte Form des Namens Lazarus, der schon in der Bibel, dem wahrscheinlich bekanntesten Buch dieser Zeiten in der christlichen Welt, vorkommt. Im Kapitel 16 des Evangeliums nach Lukas kommt die Geschichte „Vom reichen Mann und armen Lazarus“ vor,[57] in der ein armer, hungerleidender Lazarus nach dem Tod in den Himmel kommt und der reiche Mann, der ihn praktisch verhungern ließ, in die Hölle. Bereits der Titel verweist also auf einen Menschen, der sich von dem ernährt, was die Reichen, die an ihrem Wohlstand niemanden teilhaben lassen, vom Tische fallen lassen. An einer anderen Stelle der Bibel, im Evangelium nach Johannes im Kapitel 11, wird die „Auferweckung des Lazarus“ beschrieben. [58] In dieser Geschichte ein anderer Lazarus wurde von Jesus mittels eines Wunders wieder zum Leben erweckt. Die Geschichte des Wunders von Betanien soll der Stärkung des Glaubens an Jesus und an Gott dienen. Auf die stark gläubigen Menschen des 15. Jahrhunderts, die von der Inquisition zusätzlich zum vorbildlichen Leben „motiviert“ wurden, musste der Bezug auf die beiden biblischen Geschichten „starke Faszination [...] ausüben“.[59]

 

Im Titel „Lazarillo de Tormes“ findet sich noch ein weiterer Verweis: Lazarillo wurde „im Fluss Tormes“(S. 9) geboren, ähnlich wie Amadís de Gaula, der Held eines Ritterromans, der sich durch unzählige Tugenden auszeichnete, wundersame Heldentaten vollbrachte und von...

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