DER STILLE PUTSCH
Laut Duden ist der Putsch ein politischer Umsturz. Zumindest in Europa müssen Putsche nicht mehr von Militärs ausgeführt werden, den klassischen Marionetten bedrohter konservativ-reaktionärer Eliten wie zum Beispiel in den Sechzigerjahren in Griechenland. Heute geschieht der Umsturz geräuschlos und schleichend, ohne dass dröhnende Panzer vor den Parlamenten und Fernsehstationen auffahren, ohne eine Soldateska, die Oppositionelle in finstere Kerker wirft und foltert.
Ist das nicht alles nur eine krude Verschwörungstheorie, leben wir nicht in einem Europa mit demokratisch legitimierten Regierungen?
Zur Erinnerung: Der aus dem antiken Griechenland stammende Begriff der Demokratie bedeutet nichts anderes als die Herrschaft des Volkes. Das heißt, dass die Staatsgewalt von den Bürgern ausgehen sollte – so definierte es einst zumindest der griechische Staatsmann Perikles im 5. Jahrhundert v. Chr. Bereits damals klagte sein Kritiker, der Philosoph Plutarch, dass Perikles sich durch »die Verteilung öffentlicher Gelder Vorteile verschafft habe: ›So bestach er gar bald den Pöbel durch Schauspielgelder, Gerichtsgelder und andere Belohnungen und Schenkungen‹.«12
Diese Aussage ist insofern erwähnenswert, weil sich in diesem Punkt bis zum heutigen Tag (nicht nur in Griechenland) wenig geändert hat – abgesehen davon, dass heute nicht der Pöbel bestochen wird, sondern eine systemische Kultur der Korruption, die Spitzen der Wirtschaft und Politik in vielen europäischen Ländern prägt. Das wäre dann der zeitgemäße Pöbel.
Inzwischen scheint selbst das edle Prinzip Demokratie überflüssig zu sein. Das zeigt die Diskussion um den Abbau der Schuldenberge in Höhe von mehreren 100 Milliarden Euro sowohl in Deutschland wie in anderen europäischen Staaten. Wer tatsächlich für diese Schulden verantwortlich ist, wer sie als Erpressungsinstrument funktionalisiert und wer davon profitiert, eben die nationale sowie die europäische Machtelite, das dürfen wir europäischen Bürger nicht erfahren. »Eine Handvoll internationaler Banken, Ratingagenturen, Investmentfonds – eine globale Konzentration des Finanzkapitals ohne historischen Vergleich – möchte in Europa und der Welt die Macht an sich reißen. Sie bereitet sich auf eine Beseitigung der Staaten und unserer Demokratie vor, indem sie die Waffe der Schulden nutzt, um die Völker Europas zu versklaven und anstelle der unvollständigen Demokratie, in der wir leben, eine Diktatur des Geldes und der Banken zu errichten.« Das schrieben im Oktober 2011 der weltbekannte griechische Sänger Mikis Theodorakis (*1925 ), der einst gegen die Militärjunta opponierte und ins Ausland flüchten musste, und Manolis Glezos (*1922 ), der schon gegen die Nazis in den Vierzigerjahren Widerstand leistete, als sie Griechenland besetzten, und der dann ebenfalls die Militärjunta Ende der Sechzigerjahre bekämpfte. Übertreiben die beiden alten Ikonen des Widerstands?
Von Louis Brandeis, dem berühmtesten und kritischsten Richter in der Geschichte des US-amerikanischen Supreme Court, stammt die Aussage: »Wir müssen wählen. Wir können eine Demokratie haben, oder wir können eine Konzentration von Reichtümern in den Händen einiger weniger haben, aber wir können nicht beides haben.«13 Er war von 1916 bis 1939 Richter am höchsten US-Gericht und bezog seine Aussage auf die USA. Die Konzentration der Reichtümer in den Händen einiger weniger ist im 21. Jahrhundert durch die Globalisierung nicht geringer geworden, im Gegenteil.
Heute besitzen 63.000 Menschen (davon 14.000 in Europa) jeweils mehr als 100 Millionen Dollar und verfügen zusammen über ein Vermögen von 39.900 Milliarden Dollar.14 Weil diese Besitzverhältnisse stabilisiert und geschützt werden müssen, ist »Europa heute mehr denn je ein Elitenprojekt«, das zwangsläufig zur »galoppierenden Entdemokratisierung des europäischen Staatensystems«15 führen muss. Das sagt Professor Wolfgang Streeck, der geschäftsführende Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Er steht mit seiner Analyse nicht alleine und ist sogar eher zurückhaltend im Vergleich zu dem, was Wolfgang Hetzer schreibt: »Die Politik hat in zahlreichen Staaten ihre Unabhängigkeit gegen die eigensüchtigen Pseudowahrheiten der Bankenoligarchie eingetauscht. Die bereits in einigen Ländern eingesetzten ›Expertenregierungen‹ sind Vorformen eines Ausnahmezustandes, aus dem mittlerweile selbst demokratische Wahlen nicht mehr ohne weiteres herausführen«.16 Der Jurist Wolfgang Hetzer war ein hoher Beamter im Bundeskanzleramt und später Berater des damaligen Generaldirektors des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF), Franz-Hermann Brüner. Der Begriff Experten- oder Technokratenregierung wurde in den letzten Jahren gerne benutzt, um vorzugaukeln, sie seien unabhängig und daher die Lösung für jene Länder, in denen die Parlamentarier nicht parieren. Doch mit dem Begriff der Experten- oder Technokratenregierung wird lediglich »verschleiert, dass es sich in Wirklichkeit um eine Regierung der Banker handelt.«17
Offen sprechen sich inzwischen einflussreiche politische Thinktanks, Denkfabriken, für weniger Demokratie aus. Nathan Gardels ist zweifellos der wichtigste Berater des Berggruen Institute on Governance.18 Er sieht »in den neuen technokratischen Regierungen einen Gegenentwurf zur Demokratie, von dem ›wir alle‹ profitieren könnten«.19
Das Berggruen Institute hat es sich zur lobenswerten Aufgabe gemacht, »neue Ideen für gute Regierungsführung« zu entwickeln. Bei einer Veranstaltung dieser Denkfabrik in Paris am 28. Mai 2013 waren unter anderem anwesend: der deutsche und französische Finanzminister, die deutsche Bundesministerin für Arbeit und Soziales, der Präsident der Europäischen Investitionsbank sowie der Präsident des Europäischen Parlaments.20 Und mitten unter ihnen, häufig lächelnd, Nicolas Berggruen, der Finanzier dieser Denkfabrik. Sie liefert ihm die Erkenntnisse, die seinen Vorstellungen und politischen Wünschen entsprechen und die, wenn es nach ihm ginge, in praktische Politik umgesetzt werden sollten. Der Milliardär Berggruen ist in jeder Beziehung ein Investor. »Die Gründung von Thinktanks, unterstützt und finanziert durch die Unternehmen, die Eroberung gewisser Bereiche der Medien und schließlich die Bekehrung vieler Intellektueller zu neoliberalen Anschauungen – all dies trug zu einem Meinungsklima bei, in dem der Neoliberalismus als einziger Garant der Freiheit galt. Vollends abgesichert wurde dieser Prozess durch die Eroberung der politischen Parteien und am Ende der staatlichen Macht.«21
Andere wiederum fordern kühn die Aufhebung der nationalen Souveränität, sollten die nationalen europäischen Parlamente und Regierungen sich den Anweisungen demokratisch nicht legitimierter Institutionen widersetzen. Zum Beispiel ginge für den Fall, dass sich ein nationales Parlament nicht an die von der Europäischen Union geforderten Haushaltsregeln halten würde, die »nationale Souveränität automatisch in dem Ausmaß auf die europäische Ebene über, dass dadurch die Einhaltung der Ziele zu gewährleisten« ist. Das forderte Bundesbankpräsident Jens Weidmann am 14. Juni 2012. »Denkbar wäre zum Beispiel das Recht, Steuererhöhungen oder proportionale Ausgabenkürzungen vornehmen – und nicht bloß verlangen – zu können … auch wenn sich hierfür keine Mehrheiten in dem jeweiligen nationalen Parlament finden sollten.«22 Übersetzt bedeutet das nichts anderes, als dass die demokratisch gewählten Parlamente in diesen Ländern nichts mehr zu sagen haben. Der Bundesbankpräsident ist kein rechtspopulistischer Fanatiker, sondern war zuvor Leiter der Abteilung IV (Wirtschafts- und Finanzpolitik) im Bundeskanzleramt unter Angela Merkel.
Zu den politischen Maßnahmen der Haushaltskonsolidierung gehört die konsequente Durchsetzung der Politik eines autoritären Neoliberalismus. Wobei nicht die Ideologie selbst verantwortlich ist, sondern die Politiker, die sich einzig und allein an dieser von machtvollen Interessengruppen diktierten Ideologie orientieren. Haushaltskonsolidierung ist letztlich nur ein Vorwand, um die »Wettbewerbsfähigkeit« aller europäischen Länder auf dem globalen Markt zu ermöglichen. Voraussetzung dafür ist unter anderem die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen in Verbindung mit Lohnsenkungen, Abbau von Arbeitnehmerrechten, Schwächung der Gewerkschaften, Rentenkürzungen und »flexibler« Beschäftigung nach Art der Tagelöhner – die Blaupause der vom damaligen SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder durchgesetzten Agenda 2010.
In Deutschland hat diese Politik zu Millionen prekärer Arbeitsverhältnisse (Minijobs, Zeitarbeit, Werkverträge) mit Niedriglöhnen geführt und Arbeitslose gedemütigt, entwürdigt und in die Rolle von Wanderarbeitern gedrängt. Gleichzeitig wird die auch in Deutschland gestiegene öffentliche Verschuldung »aller Voraussicht nach in den kommenden Jahren die Entwicklung des öffentlichen Diensts und dessen Arbeitsbeziehungen prägen. Öffentliche Verschuldung und gewollte Austerity-Politik, so steht zu erwarten, werden gravierende Folgen für die Arbeitsbedingungen und Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes haben.«23 Und all das soll nun als Erfolgsmodell in Europa umgesetzt werden?...