Stress bewältigen
Lebensqualität und Gesundheit trotz hoher Beanspruchung
5. Reicht es aus, mit Stressbewältigung zu beginnen, wenn ich einen Burnout habe?
Einerseits würde ich sagen: „Besser spät als nie“, andererseits weiß schon eine alte Zahnpastareklame: „Vorbeugen ist besser als bohren.“ Warten Sie nicht erst, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die beste Zeit, sich mit Stressbewältigung zu beschäftigen, ist die, in der Ihr Leben einem stillen, ruhigen Fluss gleicht. In solch einer Situation haben Sie nämlich die Zeit und die Kraft, um Veränderungen im Leben vorzunehmen und ein Entspannungsverfahren zu erlernen. Meistens kann man sich gerade in diesen Zeiten nicht vorstellen, dass im eigenen Leben einmal Chaos ausbrechen könnte. Aber die Erfahrung zeigt, dass niemand ohne dieses oder jenes blaue Auge durchs Leben kommt. Wenn die See hochgeht und das Boot sich bedenklich zu den Seiten neigt, ist es von Vorteil, wenn Sie gut vorbereitet sind. Wie ein erfahrener Seemann steuern Sie dann Ihr Lebensschiff umsichtig durch die Untiefen und um die Klippen herum in ruhigeres Fahrwasser.
6. Gibt es einfache und schnelle Lösungen zur Bewältigung meines Stresses?
Schön wär’s. Machen Sie einen weiten Bogen um diejenigen, die Ihnen einfache und schnelle Lösungen versprechen. Seit über 20 Jahren suche ich nach dem Stein der Weisen, was diese Frage anbelangt. Das Fazit meiner Gralssuche ist: Es gibt ihn nicht. Was ich auf meiner Suche erkannt habe ist, dass die meisten Menschen überschätzen, was man kurzfristig erreichen kann, dass sie aber völlig unterschätzen, was man langfristig erreichen kann. Die Suche nach Lösungen, bei denen man baden kann, ohne sich nass zu machen, treibt viele Betroffene noch tiefer in die Stress-Spirale. Stressbewältigung bedeutet auch, einen Punkt zu setzen, Wahnsinn zu stoppen, eine Standortbestimmung vorzunehmen und ruhige, sinnvolle und nachhaltige Schritte auf dem Weg zu einem gelasseneren Lebensstil zu gehen. Das ist nicht immer leicht und schnell geht es leider auch nicht.
7. Was ist das Wesentlichste bei der Stressbewältigung?
Drei Punkte halte ich für besonders wichtig:
a) Der Zeitfaktor
Brechen Sie nichts übers Knie. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn Menschen, die Jahre bis Jahrzehnte gebraucht haben, sich in die Nähe eines Burnout zu manövrieren, glauben, sie könnten diese Situation innerhalb weniger Tage möglichst ohne Aufwand verändern. Seien Sie geduldig mit sich selbst, wenn es darum geht, eingefahrene schädliche Angewohnheiten gegen hilfreiche auszutauschen. Stress im Leben dauerhaft zu senken braucht einfach eine gewisse Zeit. In Anbetracht des Zeitraums, den es gebraucht hat, ein Stressverhalten aufzubauen, ist es wiederum verblüffend, wie relativ kurz im Verhältnis dazu die Zeit ist, um zu einem gesunden Spannungsverhältnis zurückzufinden.
b) Das Selbstbewusstsein
Um im Leben des 21. Jahrhunderts im Stress zu versinken, bedarf es keiner besonderen Anstrengungen. Waren es früher besondere Lebenskrisen, die Menschen in die Schlaflosigkeit und in den Zusammenbruch trieben, reicht dafür heute bereits der „ganz normale“ Alltag. Die komplexen Anforderungen unserer technisierten, globalisierten, sich turboschnell verändernden Welt sind von unserem Gehirn immer schwieriger zu bewerkstelligen. Wir haben uns längst selbst überholt und der allseits zu beobachtende Verfall von Werten, Normen und Orientierungen facht das Feuer des Selbstausbrennens noch an.
Wenn Sie also merken, dass Sie an Grenzen stoßen, sollten Sie nicht so sehr sich selbst, sondern vielmehr das Sie umgebende bzw. gar Sie beherrschende System in Frage stellen und sich mit Selbstbewusstsein um den Erhalt Ihrer physischen und psychischen Gesundheit kümmern.
c) Die Freude an der Selbstentdeckung
Manch einer spricht über einen Termin bei seinem Stress-Coach, als verkünde er, zu seiner eigenen Hinrichtung zu gehen. Weder ein Coaching noch eine Therapie sind ein Anlass für grummelige Gefühle im Bauch. Wenn Sie einen Coach oder einen Therapeuten haben, der kompetent ist und mit dem Sie sich gut verstehen, kann das Erkunden der eigenen Innenwelten ein spannendes und lohnendes Unterfangen sein. Niemand von uns ist Mrs. oder Mr. Universum. Wir haben nicht nur Vorzüge, sondern auch Schwachstellen. Zu ihnen zu stehen hat etwas mit innerer Größe zu tun, mit Charakterstärke. Schwächen vor anderen Menschen zu verleugnen bedeutet, sich unangemessen über sie zu erheben. Deshalb finde ich es wichtig, dass Sie herausfinden, wer Sie unter den Konditionierungen von Eltern, Gesellschaft, Kirche, Freunden und Kollegen wirklich sind – und dass Sie dazu stehen. Und denken Sie immer daran:
Jeder Ist-Zustand ist nur eine Momentaufnahme. Unser Gehirn ist neuroplastisch. Vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass Sie über die Fähigkeit verfügen, sich jederzeit die Eigenschaften anzueignen, die Sie als hilfreich erachten.
8. Ich entspanne mich abends mit einem Glas Rotwein vor dem Fernseher. Reicht das nicht aus?
Kurzfristig betrachtet vielleicht – langfristig hundertprozentig nicht. Es gibt nämlich einen feinen, aber bedeutungsvollen Unterschied zwischen kurzfristiger Entspannung und langfristiger Stressbewältigung. Wie schon eingangs beschrieben, liegen unserem Stress Gefühle und Gedanken zugrunde, die von unseren bewussten und unbewussten Ansichten, Glaubensmustern und Wertvorstellungen gebildet werden. Diese wiederum formen unser Bild der Welt, unserer selbst und anderer Menschen. Das bedeutet, wenn wir unseren Stress senken wollen, müssen wir auch an diesen inneren Sichtweisen arbeiten, die sich oft schon jahrzehntelang manifestiert haben. Sie gehören zu uns und haben zu der Gewohnheit geführt, Dinge auf unsere besondere Art zu betrachten und mit ihnen umzugehen. Es liegt auf der Hand, dass Veränderungen solch eingefahrener Muster nicht einfach sind. Als hilfreich erweist es sich, neue Gewohnheiten aufzubauen. Ich nenne das gerne „ein Gegenfeuer gegen den Waldbrand Stress legen“. Erst wenn diese Gewohnheiten lange genug eingeübt wurden, verändern sie unser Verhältnis zu uns und zur Welt und senken dadurch langfristig unseren Stress.
Das Glas Rotwein abends auf der Couch vor dem Fernseher hat diesen Effekt nicht. Alkohol hat eine temporär betäubende, erschlaffende Wirkung. Wer zuvor stark unter Druck stand, findet diesen Zustand verständlicherweise angenehm und zudem erleichtert es der Traubensaft am Abend, die Klippen möglicher Einschlafstörungen zu umschiffen. Die Freude über die scheinbaren Vorzüge des Alkohols erfährt jedoch ihr jähes Ende, wenn man erfährt, dass Alkoholkonsum den Stresspegel langfristig sogar noch mehr in die Höhe treibt. Unser Hauptentgiftungsorgan Leber ist dafür verantwortlich, und die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) erklärt sehr gut, warum sie uns bei dieser Strategie der „Rotwein-Meditation“ so gründlich in die Suppe spuckt: Die Leber wird dort als druckausgleichende Körperfunktion verstanden. Wenn wir uns im Leben nicht frei entfalten können, uns unter Druck stehend (also gestresst) erleben, belastet das die Leber – sie überhitzt sozusagen. Alkohol erhitzt die Leber ebenfalls. Anders gesagt verdaut die Leber das, was wir innerlich und äußerlich aufnehmen: einerseits den psychischen Druck (Stress), den wir erleben, und andererseits den Alkohol, den wir dem Körper zuführen. Somit steht sie von zwei Seiten unter Beschuss und das macht deutlich, warum wir die Leber lieber ent lasten als zusätzlich belasten sollten. Gewöhnen Sie sich also an, einen entspannenden Kräutertee zu trinken, wenn Sie sich gestresst fühlen, und heben Sie sich den guten Tropfen für einen gemütlichen Abend mit Freunden auf.
9. Bewegung soll Stress reduzieren?
Wer regelmäßig Sport treibt, gehört ganz klar zu den entspannteren Zeitgenossen, denn Bewegung baut das Stresshormon Adrenalin ab. Soweit die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass Fußballspielen, Aerobic & Co. keine nachhaltigen Stressbewältigungsmaßnahmen darstellen, weil sie die Ursachen von Stress nicht beeinflussen. Stressbewältigung muss verschiedene Faktoren und Aspekte des Lebens mit einbeziehen, wenn sie funktionieren soll. In der Beantwortung der folgenden Frage äußere ich mich ausführlicher zu diesem ganzheitlichen Ansatz.
10. Reicht das Erlernen einer Entspannungsmethode aus, um den Stress im Leben wirkungsvoll zu reduzieren?
Das Erlernen einer Entspannungsmethode sollte Bestandteil jeder Stressbewältigungsstrategie sein. Für sich genommen ist solch eine Maßnahme jedoch unzureichend. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer „Insellösung“, die nach Ansicht von Fachleuten und auch nach meiner eigenen Erfahrung nicht ausreicht.
Stress hat in hohem Maße damit zu tun, welches Bild wir von uns, von anderen Menschen und von der Welt haben. Er hängt auch damit zusammen, wie wir unsere Selbstwirksamkeit in diesem Leben einschätzen und damit, wie wir mit den Dingen umgehen. Als Menschen haben wir einen Körper, der es uns ermöglicht, zu denken, zu fühlen und zu handeln. Es liegt auf der Hand, dass der Zustand unseres Körpers Einfluss auf diese Fähigkeiten nimmt. Fühlen wir uns zum Beispiel wohl, sind wir selbst Herausforderungen gegenüber gelassener und haben ganz allgemein eine entspanntere innere Haltung, als wenn wir uns schlecht fühlen. Hinzu kommt, dass wir Menschen „Rudeltiere“ sind, d.h. wir brauchen die Gemeinschaft von anderen fühlenden Wesen, um uns wohl- und geborgen fühlen zu können. Das bedeutet, für eine...