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E-Book

Der vergessene Schmerz

Schmerzmanagement und -pflege bei Demenz

AutorPetra Mayer, Rosmarie Maier
VerlagERNST REINHARDT VERLAG
Erscheinungsjahr2018
ReiheReinhardts Gerontologische Reihe 50
Seitenanzahl171 Seiten
ISBN9783497609956
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Menschen mit Demenz können nicht mehr klar ausdrücken, dass sie Schmerzen haben. Schreien, Schlagen, Widerstand gegen Pflegehandlungen können Anzeichen sein. Wie erkennt man, ob ein Demenzpatient Schmerzen hat? Wie kann man die Schmerzen bekämpfen? Das Buch stellt Methoden zur Schmerzerfassung vor. Es gibt hilfreiche Tipps für eine sinnvolle Schmerzdokumentation. Neben der medikamentösen Therapie werden u.?a. Bäder, Einreibungen, Basale Stimulation und das validierende Gespräch beschrieben. Im Zentrum stehen dabei das Erleben der Betroffenen und die Haltung der Pflegenden. Denn die Angst, die den Schmerz begleitet, kann man nur in einer wertschätzenden Begegnung lindern.

Rosmarie Maier, Eching a. Ammersee, ist Lehrerin für Pflege, Mediatorin und Fachreferentin für Schuld- und Vergebungsarbeit in der Erwachsenenbildung. Petra Mayer, Eching a. Ammersee, ist Trainerin für Palliative Care (DGP), Mediatorin und Fachreferentin für Schuld- und Vergebungsarbeit in der Erwachsenenbildung. Die Autorinnen verfügen über eine Jahrzehnte lange Praxiserfahrung und bieten Beratungen und Fortbildungen zu den Themen Palliative Care, Palliative Geriatrie, Gewissensbildung und Integrative Vergebungs- und Selbstvergebungsarbeit an (www.goldenerbildungsweg.de).

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Leseprobe

2    Die drei Schmerzebenen – körperlich, psychosozial und spirituell

Wenn von Schmerztherapie gesprochen wird, wird häufig „nur“ an körperliche Schmerzen gedacht, die medikamentös und auch nicht medikamentös therapiert werden können. In diesem Teil des Buches soll der Schmerz auf den unterschiedlichen Ebenen des menschlichen Seins erklärt und ausführlicher dargestellt werden. Dabei orientieren wir uns am Modell „Total Pain“ von Cicely Saunders, der Begründerin der Hospizbewegung, aus der heraus sich die heutige Palliativmedizin entwickelt hat. Saunders beschrieb schon in den 1960er Jahren, dass Schmerz auf einer körperlichen, psychosozialen und spirituellen Ebene stattfinden kann (siehe Abbildung 2.1) und dass Schmerz das ist, was der Betroffene als Schmerz empfindet.

Abb. 2.1: Total Pain

Wie stark sein Schmerz ist, kann jeweils nur der Betroffene selbst empfinden und äußern. Er selbst ist der einzige Experte! Und dass der körperliche Schmerz nicht getrennt von den beiden anderen Schmerzebenen gesehen und gedeutet werden kann, muss mitbedacht werden. Jeder Mensch kennt das Gefühl von körperlichen Schmerzen und ihren Auswirkungen auf die Psyche. Und umgekehrt: Wie sehr seelische Schmerzen auch körperliche Beeinträchtigung nach sich ziehen können. Ebenso wirkt sich Schmerz auch auf unser soziales Umfeld aus. In seinen schwersten Stadien vermag sogar der Lebenssinn hinterfragt und angezweifelt werden.

2.1  Körperliche Schmerzebene

Körperlicher Schmerz wird in zwei Hauptäste eingeteilt, in den akuten und den chronischen Schmerz. Von Hippokrates, dem abendländischen Vater der Medizin, ist der Satz überliefert: „Der Schmerz, oh Mensch, ist nicht dein Feind.“ Hier ist der akute, physiologisch sinnvolle Schmerz gemeint, welcher uns zur Wurzel des Übels führt und uns ermahnt, rechtzeitige Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Der Sinn ist, dass der körperliche Schaden möglichst gering ausfällt. Sehr anschaulich zu verstehen an einem kurzen Beispiel. Halten wir unsere Hand über eine brennende Kerze, so dauert es nur wenige Sekunden und wir ziehen diese reflexartig zurück. Warum? Weil wir Schmerzen empfinden! Hier übernimmt der Schmerz eine wichtige Warnfunktion, sodass weitere Schäden ausbleiben. Zurück bleibt der akute Schmerz, welcher durch entsprechende Maßnahmen gelindert wird und eine Erinnerung daran zurücklässt, die uns solchen Schmerzauslöser zukünftig meiden lässt.

Anders beim chronischen Schmerz: Der hat seine Warnfunktion verloren. Die Ursache des Schmerzes ist nicht mehr auszuschalten. Sie beruht in der Regel auf lang bekannten Leiden, wie z. B. den Abnutzungserscheinungen von Gelenken, die nicht mehr gebessert werden können bzw. weiter voranschreiten (degenerativ sind). Dieser Schmerz kann erst nachlassen, wenn er, sobald wie möglich, therapiert wird. Je länger aber dieser Schmerz anhält, desto unerträglicher wird er. Bereits der primäre Schaden, sobald er das Körpergewebe zerstört, führt zur Freisetzung von Substanzen, die die Schmerzrezeptoren empfindsamer machen. Bleibt dieser Zustand ungelindert, ist ein Teufelskreis in Gang gesetzt: Die Schmerzreize werden von nun an noch mehr wahrgenommen und die Schmerzrezeptoren beginnen, sich zu vermehren. Danach steigen Schmerzintensität und Schmerzdauer an und das betroffene, schmerzende Areal vergrößert sich. Dieser Vorgang wird von bestimmten Strukturen im Gehirn wahrgenommen und gespeichert. Dies nennt man das Schmerzgedächtnis. Von diesem Zeitpunkt an kann bereits die bloße Erinnerung an einen starken Schmerz den Schmerz erneut auslösen. Die Folge dieser Schmerzspirale (Wind-up-Phänomen) wird zu einer eigenen Schmerzkrankheit, durch die der gesamte Mensch in Mitleidenschaft gezogen wird (Kojer 2003).

Welche Krankheitsbilder treten vor allem beim geriatrischen Patienten auf? Wenn man in die Diagnoseblätter von geriatrischen Patienten sieht, sind zahlreiche Krankheitsbilder aufgelistet, die Schmerzen verursachen können. Die Praxis zeigt aber leider auch, dass diese als solche kaum wahrgenommen werden, da sie oftmals „einfach hingenommen“ werden, ohne zu hinterfragen, welche Folgen diese Schmerzen für den alten Menschen haben. Hier besteht ein großer Bedarf an Sensibilisierung! In dieser Hinsicht sprechen die im Folgenden aufgeführten Krankheiten (siehe auch Abbildung 2.2) eine deutliche Sprache.

Osteoporose: Osteoprosoe ist die häufigste Erkrankung bei alten Frauen. Oft kommt es hier zu sehr schmerzhaften Einbrüchen der Wirbelkörper, die sogar den Spinalkanal verengen können, was zu massiven Schmerzen und neurologischen Ausfällen führt.

Degenerative Erkrankungen der Gelenke: Sie sind eine weitere schmerzhafte Diagnose. Gelenke, die Jahrzehnte z. T. zu hohes Körpergewicht getragen haben, nutzen sich ab! Die Folge können entzündliche Prozesse in den Gelenken und die Zunahme von Schmerzen sein!

Folgeerscheinungen von zurückliegenden Frakturen: Sie können ebenfalls anhaltende Schmerzen verursachen. Die gefürchtete Oberschenkelhalsfraktur gehört zu den häufigsten Brüchen bei alten Menschen. Diese werden zwar oftmals operativ versorgt, aber der geriatrische Patient, wenn er dann auch noch an einer Demenz leidet, wird sehr schnell in die Pflegeeinrichtung zurückverlegt. Eine weiterführende Schmerztherapie wird hier meistens „vergessen“! Gleiches ist bei Frakturen zu beobachten, die konservativ behandelt werden, also nicht durch einen operativen Eingriff wieder „gerichtet“ werden können, wie z. B. eine Steißbein-, Schambein-, oder Beckenringfraktur. Hier ist eine Mobilisation ohne vorige medikamentöse Schmerzabdeckung unzumutbar und grenzt an ungewollte und unbewusste Folter!

Die Kontraktur: Diese Funktions- und Bewegungseinschränkung der Gelenke ist eine häufige Begleiterscheinung bei pflegebedürftigen, geriatrischen Menschen. Sie entsteht durch die Verkürzung umliegender Weichteile wie der Muskeln, Sehnen, Bänder und Faszien. Die betroffenen Gelenke lassen sich sowohl aktiv wie auch passiv nicht oder nur schwer und in geringem Maße bewegen, dabei kann die Bewegung schmerzhaft sein. Das Ausmaß der Einschränkung kann bis zu einer vollständigen Versteifung reichen.

Die Behandlung aufgetretener Kontrakturen erfolgt überwiegend physiotherapeutisch. Vor den Bewegungsübungen werden aber in der Praxis meistens keine Schmerzmedikamente verabreicht. Somit werden diese Bewegungsübungen oft zur Qual für den Betroffenen. Auch vor der Grundpflege ist es in solchen Fällen unverzichtbar, bedarfsbezogen Analgetika zu verabreichen!

Harnwegsinfekte: Nicht unwesentlich sind Beschwerden und starke Schmerzen durch Harnwegsinfekte bei Menschen mit Demenz. Viele von ihnen leiden an einem chronischen Harnwegsinfekt, der jedoch oft lange unbemerkt bleibt. Die Betroffenen werden mit ihren Forderungen nach häufigen Toilettengängen, dem nächtlichen Umherwandern oder anderen indirekten Schmerzzeichen meist verkannt! Zu lange wird das „Schmerz“-Verhalten als „herausforderndes Verhalten“ gedeutet und fälschlicherweise psychologisch oder demenziell begründet. Ein vorsorglicher Urinstatus ist bei oben genanntem Verhalten dringend zu empfehlen.

Mundhöhlen- und Zahnfleischerkrankungen: Hier soll auch erwähnt werden, dass zu den häufigsten Ursachen von Ablehnen von Essen und Trinken Zahn- und Mundhöhlenerkrankungen (z. B. Druckstellen in Folge von schlechtsitzenden Zahnprothesen oder Eiterherde an noch vereinzelt vorhandenen Zähnen) gehören. Deshalb sollte bei diesem Verhalten zuerst an derartige Beschwerden gedacht werden, da diese bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme Schmerzen verursachen können.

Neuropathische Krankheitsbilder: Dazu gehören z. B. die Gürtelrose (Herpes Zoster), die arterielle Verschlusserkrankung oder der Diabetes mellitus; sie können die Nervenbahnen so stark schädigen, dass neuropathische Schmerzen entstehen oder eine eigenständige Erkrankung, die Polyneuropathie, daraus folgt. Eine der schmerzhaftesten neuropathischen Erkrankungen ist die Trigeminusneuralgie (schmerzhafte Reizung des fünften Hirnnervs). Der Schmerz wird von Betroffenen als „vernichtend“ beschrieben und ist medikamentös schwer therapierbar. Trotzdem kann medikamentös Linderung verschafft werden. Für Begleiter ist es hilfreich zu wissen, dass dieser Schmerz durch Kauen, Sprechen, Schlucken, Zähneputzen, Berührung im Gesicht und kalten Luftzug ausgelöst werden. Alle diese Schmerzbilder erfordern also eine besondere medikamentöse Therapie!

Tumorerkrankungen: Schließlich sind noch die Tumorerkrankungen zu erwähnen, die im Alter zunehmen! Viele ältere Menschen leiden an malignen (bösartigen) Tumoren. Diese werden vielfach zu spät diagnostiziert, was oft massive Schmerzen zur Folge hat.

Abb. 2.2: Krankheitsbilder beim geriatrischen Patienten

Abschließend soll noch ein statistischer Überblick über solche Krankheitsbilder gegeben werden, die speziell chronische Schmerzen zur Folge haben. Insgesamt sind im Alter degenerative muskuloskelettale Erkrankungen mit einer Häufigkeit von 800/1000 Einwohner mit Abstand die beständigste chronische Erkrankung (Crombie 1999). So zeigt sich mit dem steigenden Lebensalter ein Anstieg von Gelenkschmerzen, mit Schwellung und Morgensteifheit, insbesondere der Kniegelenke. Bei mehr als 80% der Senioren über 65 Jahren ist die Arthrose dabei die...

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