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Der verschwundene Velázquez

Ein besessener Sammler, ein verschollenes Gemälde und der größte Maler aller Zeiten

AutorLaura Cumming
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783104904399
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
»So muss man schreiben über die Kunst und die Vergangenheit«, so Florian Illies über Laura Cummings meisterhaft geschriebene, literarische Biographie »Der verschwundene Velázquez. Ein besessener Sammler, ein verschollenes Gemälde und der größte Maler aller Zeiten«. Velázquez gilt als der größte Maler aller Zeiten. Über sein Leben wissen wir bisher aber kaum etwas. Mittels der eigentümlichen Geschichte seines leidenschaftlichsten Verehrers, des viktorianischen Buchhändlers John Snare, befördert die Kunstkritikerin Laura Cumming in ihrer fesselnden Doppelbiographie Erstaunliches über den großen Spanischen Meister zutage. Bei einer Auktion kauft John Snare das verstaubte Porträt eines Prinzen und versucht für den Rest seines Lebens zu beweisen, dass es sich bei dem Gemälde um einen echten Velázquez handelt. Wie besessen spürt er dem Geheimnis um die Herkunft des Kunstwerks hinterher. Cumming verwebt diese Geschichte geschickt und eindrücklich mit Betrachtungen der Gemälde des spanischen Hofmalers und lässt uns sein Werk neu entdecken. »So muss man schreiben über die Kunst und die Vergangenheit - denn dann fühlt sie sich an wie unmittelbare Gegenwart. Man lässt sich von der ersten Seite an von Laura Cumming so mitreißen wie ihr Held von der Schönheit seines Velázquez.« Florian Illies »Fesselnder Detektivroman, brillante Darstellung einer Kunstkontroverse und zugleich eine Hommage an die Malerei von Velázquez.« Colm Tóibín »Wundervoll ... Eine Seltenheit: ein Kunstbuch, in dem der Text einen so fesselt, dass die Bilder beinahe stören.« Julian Barnes zu Laura Cummings »A Face to the World«

Laura Cumming, geboren 1961, ist seit 1999 Kunstkritikerin beim »Observer«. Zuvor war sie als Journalistin für verschiedene Radiosender, u. a. den BBC World Service, sowie als Kunstredakteurin beim »New Statesman« tätig. Ihr vorheriges Buch über Selbstporträts »A Face to the World« wurde von der Presse hochgelobt.

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Leseprobe

2 Das Gemälde


Alles begann im Herbst 1845 mit fünf Zentimetern dichtgedrucktem schwarzen Text im Reading Mercury. Die schicksalhafte Anzeige kündigte eine bevorstehende Auktion in Radley Hall bei Oxford an, dem Sitz von Benjamin Kents Academy for Boys. Das Internat wurde geschlossen, die Schüler waren bereits fort, und alles stand zum Verkauf. Der Mercury erwähnte Kissen und Bettgestelle, Wörterbücher und lateinische Grammatiken, doch da war noch etwas. Mr Kent verkaufte seine Kunst.

Die Anzeige war zwischen Werbung für Zylinderhüte und Wundermittel für überlastete Mütter versteckt, doch John Snare entging sie nicht. Der Buchhändler verspürte eine plötzliche Erregung, als er sie sah. Er war einmal mit einem Freund, der den Schulleiter kannte, in Radley Hall gewesen und hatte die Gemälde gesehen, die jetzt im Mercury erwähnt wurden – niederländische Landschaften, Porträts mittelalterlicher Bischöfe, ein sehr altes Gemälde einer Äbtissin und eines Papstes. Doch das, was ihn am meisten fasziniert hatte, zu schlecht beleuchtet und zu weit oben an der Wand angebracht, um es richtig betrachten zu können, war das, was in der Anzeige als etwas Besonderes genannt wurde: ›Ein Brustbild von Charles dem Ersten (vermutlich Van-dyke)‹.

Für einen Provinzgeschäftsmann waren Auktionen ein Segen. In Reading gab es keine Kunsthandlungen, und dies war noch zu Beginn des Museumszeitalters, einer Zeit also, in der die meisten Menschen Gemälde, wenn überhaupt, nur in Wanderausstellungen oder sonntags in der Kirche zu sehen bekamen. Die Privatsammlungen in Landhäusern waren in der Regel allen verschlossen, die nicht über hervorragende soziale Kontakte verfügten, doch Auktionen standen jedem offen, egal, wie wertvoll die Gemälde waren. Selbst eiligst angesetzte Konkursverkäufe sahen mehrere Besichtigungstermine vor, auf denen Besucher sich als potentielle Käufer ausgeben und in aller Ruhe die Gemälde betrachten konnten, eine uralte Tradition. Auf diese Weise sah und skizzierte Rembrandt Raffaels berühmtes Porträt von Baldessare Castiglione, als es 1639 bei einer Auktion in Amsterdam gezeigt wurde, und gab ihm eine etwas knollenförmige Nase, die seiner eigenen ähnlicher war; dies blieb für die meisten Menschen noch jahrhundertelang die einzige Möglichkeit, Rembrandts eigene Werke sehen zu können.

Der Reading Mercury wurde in Snares Geschäft in der Minster Street verkauft, einem hübschen Ladenlokal mit zwei großen Erkerfenstern, kunstvollen Friesen und genügend Regalen, um eine gewaltige und ständig wachsende Sammlung von Veröffentlichungen aufzunehmen, von The Lancet und Punch bis zu den neuesten Romanen von Dickens und Thackeray, Ratgebern zu Bienenhaltung und Tierpräparation und Reiseführern für die entlegensten Inseln des Südpazifiks. Werbeanzeigen im Mercury selbst offenbaren die stolze Vielfalt des Bestands. Bei Snare konnten Kunden alles kaufen, von Das Verlorene Paradies bis zur Bibel, Shakespeare genauso wie Bilderbücher, Ölfarben und Radiergummis, Löschpapier und farbige Tinte. Snare verkaufte sogar Drucke von berühmten Gemälden; in jenem Herbst 1845 hatte er Jacques-Louis Davids verstörendes Porträt des in seiner Badewanne erstochenen Marat im Angebot. Denn Kunst war seine Leidenschaft; Snare war ein ›Amateur der Bilder‹, wie man sie nannte: einer, der Gemälde liebte.

Wie alt er damals war, ist unklar, denn über sein Leben bis dahin ist nichts überliefert. Er könnte 1808 geboren sein, vielleicht auch 1810, doch seine Geburtsurkunde ist verschwunden, und später äußerte sich Snare nicht eindeutig über sein Alter. Sein Vater war Eisenwarenhändler in der 21 Minster Street, verkaufte Hämmer, Schrauben und Eimer aus Metall; sein Onkel war der Gründer des Geschäfts in der Hausnummer 16, das sich ursprünglich auf Gesangbücher und fromme Lyrik für Sonntagnachmittage spezialisierte. Falls Snare über seinen zehnten Geburtstag hinaus – das damalige Schulaustrittsalter in Reading – irgendeine Ausbildung genossen hatte, dann ist das nicht dokumentiert, doch Dokumente sind so oder so weniger aufschlussreich als die Lokalzeitungen der Stadt – drei gab es, für eine Bevölkerung von kaum 20000 Menschen –, in denen man den Buchhändler in seinem Geschäft und in der Stadt wiederfinden und die wichtigen Ereignisse seines Lebens wie durch ein Vergrößerungsglas verfolgen kann.

›Snare and Nephew‹ steht auf dem neuen Schild über der Tür, als er die Lehre bei seinem Onkel antritt, der sein Geschäft inzwischen um eine kleine Druckerei erweitert hat. Der junge John lernt, die kniffligen Reihen von Buchstaben in ihre Holzrahmen zu setzen, Tinte auf Platten aufzutragen und Ledereinbände mit Gold zu prägen. Er wird einmal für die ästhetische Schönheit seiner Drucke bekannt sein, und für seine Experimente mit frühen Fotogravurtechniken; doch zunächst einmal produzieren die beiden Snares im Hinterzimmer Visitenkarten, Wahlplakate und Theaterhandzettel, während sich das Buchgeschäft vorne im Laden weiterentwickelt. Nachts, wenn die Druckpressen stillstehen, liest sich Snare unermüdlich durch den Buchbestand, um einen eigenen Schreibstil zu entwickeln. Dieser findet sich erstmals in den lyrischen Passagen wieder, die er zu einem illustrierten Reiseführer für Berkshire beisteuert, der in der Minster Street gedruckt wird. 1838 erbt er das Geschäft und geht im selben Jahr, inzwischen ein recht reifer Junggeselle, die Ehe mit Isabella Williams ein, deren Familie an der örtlichen Bank beteiligt ist. Als Mann mit Ambitionen eröffnet er eine kleine Leihbibliothek und fängt an, ein Adressverzeichnis für Reading zusammenzutragen, für das er die Namen seiner Nachbarn in eleganter Schrift setzt. Sein eigener Name erscheint in der Ausgabe von 1845, als er mit Isabella und den drei kleinen Kindern über dem Geschäft in der Nummer 16 lebt. Hier las er auch die Anzeige im Mercury, mit dem Versprechen eines mutmaßlichen Van Dyck. Vor der Auktion sollte es drei Besichtigungen geben. Er würde gerade rechtzeitig zur letzten kommen.

Viktorianische Auktionen waren wie Ausstellungen organisiert, mit Kartenvorverkauf und gedruckten Katalogen, auch wenn diese in der Regel krude und wenig hilfreich waren. Aus ihnen ging meist nur hervor, dass das Gemälde eines unbekannten Gentleman zum Verkauf stand, oder eines Fisches, oder zweier Kühe, die an einem Fluss tranken. Möglicherweise niederländisch. So war es auch in Radley Hall, einem georgianischen Herrenhaus inmitten eines von Capability Brown gestalteten Anwesens, auf dem man genauso sehr mit Königen rechnen konnte wie mit Kühen, dem knappen Katalog nach, den die Auktionatoren veröffentlichten, Belcher and Harris. ›Die gesamte Sammlung umfasst 180 Posten, die im Einzelnen nur schwer zu beschreiben wären‹, geben sie achselzuckend an und versuchen gar nicht erst, die Kunst anzupreisen, abgesehen von einigen wenigen versuchten Zuordnungen zu Malern oder Herkunftsland; nicht, dass diese oft absurd falschen Mutmaßungen ein allzu großes Risiko geborgen hätten, denn schon damals galt caveat emptor als unausgesprochener Grundsatz jeder Auktion: Das Risiko trägt der Käufer.

Snare war kein Käufer, zumindest jetzt noch nicht; er wollte ein historisches Gemälde eines berühmten Königs betrachten, solange sich der Allgemeinheit für kurze Zeit die Gelegenheit dazu bot. Doch er scheint einen sechsten Sinn gehabt zu haben, was das Gemälde betraf, denn er nahm einen anderen Kunstfreund mit, einen Mr Keavin, um eine zweite Meinung zu dem Porträt von Charles und der aufreizenden Nennung Van Dycks zu haben, dem größten seiner Hofmaler; wer weiß, vielleicht würde das Bild ja ein Vermögen wert sein.

Die Reise mit einer der neuen Dampflokomotiven, die an jedem kleinen Bahnhof anhielt, verlief so langsam, dass es bereits dunkel wurde, als sie Radley Hall erreichten. Doch diesmal war Snare vorbereitet. Er wartete, bis die anderen Besucher gegangen waren, und schleppte dann eine Leiter aus der Bibliothek in den Salon, wo das große Gemälde weit oben an der Wand hing, vom Alter so dunkel geworden, dass die Details kaum zu erkennen waren. Snare stieg die Leiter hinauf, bis er auf Augenhöhe mit Charles war, befeuchtete einen Finger und rieb wie ein Fensterputzer über die Oberfläche. ›Ich werde nie vergessen‹, schrieb er, ›wie die Farben wie durch Magie lebendig wurden.‹ Vor ihm erschien das Gesicht eines jungen Mannes, bärtig, dunkeläugig, einsam, ein paar Schweißperlen auf der Stirn, blass und ganz nah in der Finsternis, ein Monarch, dazu bestimmt, auf dem Schafott zu sterben.

Je länger er das Gemälde staunend anstarrte, desto mehr hatte John Snare das Gefühl, dass der Katalog sich irren musste. Das Porträt zeigte eindeutig Charles in Rüstung, doch er war zu jung, um König zu sein; dies musste Charles als Prinz sein. Doch wenn es ein Porträt von Prince Charles war, konnte es unmöglich von Van Dyck stammen, denn der flämische Maler kam erst 1632 nach England, acht Jahre, nachdem Charles König geworden war, und damals sah er bereits deutlich älter aus. Es schien, als könnte ›Charles der Erste (vermutlich Van-dyke)‹ nicht ganz stimmen.

Snare, der Autodidakt, der Auktionsgänger, der genaue Betrachter von Stichen und sämtlicher Drucke von Königen, die er hatte sammeln oder in den vielen Büchern in seinem Geschäft finden können, erkannte den...

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