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E-Book

Und die Vögel werden singen

Ich, der Pianist aus den Trümmern

AutorAeham Ahmad
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783104905105
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der »Pianist aus den Trümmern« erzählt seine Geschichte erstmals selbst: Aeham Ahmads Buch »Und die Vögel werden singen. Ich, der Pianist aus den Trümmern« ist ein zutiefst beeindruckendes Zeugnis von Widerstand und Zuversicht. Ein junger Mann spielt Klavier inmitten der Bombenkrater. Für seine Nachbarn, vor allem für die Kinder, um sie von den Schrecken des Krieges abzulenken. Über YouTube hat sein Spiel Menschen auf der ganzen Welt erreicht und bewegt. Nun erzählt Aeham Ahmad seine ganze Geschichte. Von seiner behüteten Kindheit in einem noch friedlichen Syrien, von seinem blinden Vater, dem Instrumentenbauer, von seinen Freunden Mahmoud und Meras, mit denen er durch die Straßen von Damaskus zieht. Doch er erzählt auch von den Anfängen der Rebellion, dem Beginn des schrecklichen Krieges und von seiner lebensgefährlichen Flucht nach Deutschland, das ihm zur neuen Heimat werden muss. Und immer wieder ist es seine Musik, die andere Menschen getröstet, ermutigt und ihm selbst buchstäblich das Leben gerettet hat.

Aeham Ahmad, geboren 1988 in Damaskus, wuchs auf in Yarmouk, einem Vorort von Damaskus. Bereits mit vier Jahren förderte sein Vater sein musikalisches Talent. Mit sieben erhielt er Klavierunterricht am Arabischen Institut in Damaskus. Später studierte er Musikpädagogik in Homs und arbeitete als Musiklehrer. 2015 floh er vor dem Krieg nach Deutschland. Heute lebt er mit seiner Familie in Wiesbaden und gibt Konzerte in ganz Europa. Im Dezember 2015 wurde Ahmad ausgezeichnet mit dem Internationalen Beethovenpreis für Menschenrechte.

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Leseprobe

Die drei Vögel


Bilder erzählen nie einen Anfang. Und sie verschweigen, was nach ihnen kommt. So auch jenes Foto von mir, auf dem ich am Klavier sitze und singe, inmitten der Ruinen meines Viertels. Zeitungen in aller Welt haben es gedruckt. Bis heute höre ich raunend sagen, dass es eines jener Fotos sei, die man vom syrischen Krieg erinnern werde. Weil es größer als der Krieg sei. Doch wenn ich an den Augenblick denke, an dem es entstand, schiebt sich ein Bild vor alle anderen: das Bild dreier Vögel. Aber auch das ist nicht der Anfang.

Es begann im Morgengrauen. Zusammen mit meinen beiden Freunden Marwan und Raed war ich mal wieder Wasser holen gewesen. Das bedeutete, in der Dämmerung aufzubrechen und einen dreirädrigen Karren mit einem 1000-Liter-Tank drauf zur nächsten Wasserstelle zu schleifen, zu einer der letzten Leitungen, die noch funktionierten, den Tank dort zu befüllen und das schwere Gefährt schwitzend zurückzuschieben.

Wir lebten in Yarmouk, einem Viertel von Damaskus. Assads Armee hatte uns von allem abgeschnitten. Von Wasser und Strom, von Brot und Reis. Über 100 Menschen waren verhungert.

Nachdem wir den Tank bei uns in der Straße abgestellt hatten, legte ich mich noch mal hin. Kurze Zeit später weckte mich mein Sohn Ahmad, er war fast zwei, brabbelte mir etwas ins Ohr und steckte mir verspielt sein Fingerchen ins Auge. Das tat höllisch weh. Ich sprang auf. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Auch Kaffee oder Tee gab es schon lange nicht mehr. Also hatte ich mir angewöhnt, mir morgens einen Trunk aus Zimt zu brühen. Zimt gab es reichlich, seit Bewaffnete ein Gewürzdepot gestürmt hatten. Eigentlich keine schlechte Beute. Doch wer brauchte schon Zimt, wenn es nicht mal Brot gab? So wurde er verkauft für einen Spottpreis. Da es auch keinen Zucker gab, waren manche dazu übergegangen, Enthaarungspaste zum Süßen zu nehmen, erbeutet von irgendeiner anderen Gruppe. Zimt-Kaffee mit Enthaarungspaste. So tief waren wir gesunken.

Einige Monate zuvor hatte ich begonnen, zusammen mit einigen Jungs aus dem Viertel auf der Straße zu singen. Wir hatten mein Klavier auf einen Transportwagen gehievt, es vor die Ruinen geschoben und gemeinsam gegen den Hunger angesungen. Auf YouTube bekamen wir viele Klicks. Aber die meisten Leute bei uns im Viertel interessierte das nur kurz. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Wer hungrig ist, hat andere Sorgen.

Nun hatte sich unser Chor aufgelöst. Die einen sagten, sie hätten keine Zeit, neben all dem Wasserholen und dem tagelangen Anstehen für ein paar Kilo Reis von der UN. Die anderen wollten, dass wir uns einen Sponsor suchten. Ich war strikt dagegen. Ich würde mich vor keinen Karren spannen lassen. Da sprangen auch die letzten ab. Übrig blieben nur Marwan und ich. Marwan, mein Nachbar und mein Freund, mit dem ich morgens immer Wasser holte.

An diesem Tag hatten wir beide uns mit einem Fotografen verabredet. Ich wollte allein vor den Ruinen singen. Ich hatte noch nie allein gesungen. Es musste sein. Ich wollte etwas tun.

Bei Marwan bin ich, trotz unserer Freundschaft, immer der »Prof«. Oder genauer: Geht es ums Wasserholen, heiße ich Aeham, aber wenn das Klavier ins Spiel kommt, bin ich der Prof. Ich habe ihm dreitausendmal gesagt, dass ich das komisch finde. Worauf er immer sagt: »Ach so, geht klar. Aeham!« Und fünf Minuten später nennt er mich wieder Prof.

Ich ging hinüber, ihn zu wecken. »Marwan! Komm, steh auf, wir sind verabredet!«, rief ich von unten herauf.

Und noch mal. »Na, Marwan? Wie sieht’s aus? Kommst du mit, das Klavier schieben?«

Normalerweise ist Marwan um jede Zeit bereit für mich. Das war das erste Mal, dass ich von ihm so etwas wie Unwillen hörte. »Na gut, ich komme«, brummte er aus dem Fenster.

Gemeinsam gingen wir zum Musikladen, hievten den Transportwagen mit dem 250 Kilo schweren Klavier über die Schwelle und schoben los zum Haus von Niraz, dem Fotografen.

Jeder in Yarmouk kannte ihn. Er trug Kinnbart und Nickelbrille und hatte seine langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, ein Künstlertyp mit einem Hammer-und-Sichel-Tattoo auf dem Handrücken. Große Agenturen veröffentlichten seine Bilder, bis nach Ramallah hatte er Ausstellungen gemacht.

Auch Niraz hatte keine Klingel, aber wir hatten ein Zeichen vereinbart: Wir würden ein Steinchen gegen sein Fenster werfen. Es durfte nicht zu groß sein, seine Scheiben gehörten zu den wenigen im Viertel, die noch heil waren. Vielleicht hatte er bis jetzt Glück gehabt, aber er war auch besonders vorsichtig: Sobald Bomben fielen, riss er die Fenster auf, damit sie nicht zersprangen.

Ganz sanft warf ich das erste Steinchen. Und noch eins. Und noch eins. Doch Niraz kam nicht. Da verlor Marwan die Geduld: »Wieso wacht denn der nicht auf? Dein Freund hier hält sich wohl für was Besseres!«

Vor der Revolution war Marwan Bodybuilder, er hat kurzrasierte Haare, ein rundes Gesicht und ziemlich breite Schultern. Schon griff er nach einem Betonbrocken und warf ihn gegen das Fenster. Klirrend fielen die Scherben ins Zimmer. Sekunden später stand Niraz fluchend am Fenster. Eine Tirade hagelte auf uns nieder nach dem Motto: »Verflixter Gott, der euch erschaffen hat, Himmelherrgottnochmal! Nicht mal was zu fressen haben wir, nix zu trinken …«, und so weiter – da war man schnell beim Propheten.

Schon stürmte Niraz aus der Haustür, um auf Marwan loszugehen. Der krempelte sich angriffslustig die Ärmel hoch. Ich warf mich dazwischen. »Challas, genug!«

»Ich bezahle dir dein blödes Fenster!«, rief Marwan.

»Als ob du Geld hättest!«, zischte Niraz zurück. Übellaunig ging er schließlich ins Haus, um seine Kameras zu holen.

Wir zogen los. Marwan und ich schoben den Wagen mit dem Klavier. Verdammt, war der schwer. Sonst hatten wir ihn immer zu sechst oder siebt über die kaputten Straßen befördert. Ich fühlte mich noch verlassener. Niraz ging derweil um uns herum und fotografierte. Marwan schnaubte wütend vor sich hin.

»Hilf uns gefälligst«, schnauzte er Niraz an, »du kannst noch genug fotografieren!« Doch der dachte gar nicht dran.

Niraz’ Wohnhaus lag am Rand von Yarmouk. Von da waren es nur wenige Minuten zur Front. Wir bogen in die Palästinastraße, die früher voller Geschäfte gewesen war und nun verlassen dalag. Bis Niraz stehenblieb und im Brustton der Überzeugung sagte: »Das ist es. Hier drehen wir.«

Die Zerstörung war hier besonders schlimm. Betongerippe ragten in den Himmel wie riesige Grabmale, das Innerste der Häuser war nach außen gekehrt. Kreuz und quer hingen Rohre, Kabel und Jalousien aus den Höhlen. Zwischen den Trümmerstücken, die auf der Straße herumlagen, wuchs Unkraut.

Ich setzte mich ans Klavier und überlegte, was ich singen sollte. In den vergangenen Monaten hatte ich Dutzende Lieder geschrieben. Die Musik war nur so aus mir herausgesprudelt. Mir fiel ein Gedicht ein, das mir vor einigen Tagen ein Mann gegeben hatte.

Er hieß Ziad al-Charraf und war einst der Honigverkäufer in unserem Viertel gewesen, ein wohlhabender, gebildeter Mann. Ich kannte ihn nur flüchtig. Ziad hatte einen Doktortitel, Honig verkaufte er aus Leidenschaft. Er machte Exkursionen zu Imkern in den Bergen oder reiste in ferne Länder wie den Jemen, um eine neue Honigmischung zu kosten. Damals. Vor dem Krieg.

Nun war er zu mir gekommen und hatte mir einen Zettel gereicht. Ziad sah schrecklich aus, er wirkte wehrlos und verloren. Seine Lider waren halb geschlossen, seine Augen müde und leer. Und ich Idiot las die Zeilen durch und bemerkte altklug: »Das ist wunderschön geschrieben, aber ich glaube nicht, dass sich das singen lässt. Ich könnte es vielleicht als Gedicht vortragen und dazu Klavier spielen, aber singen?« Es ging so:

Ich habe meinen Namen vergessen,

die Buchstaben und den Sinn,

Ich habe die Wörter vergessen,

aus denen ich Lieder zu formen pflegte.

Ich habe meine Stimme vergessen

und mein Bild,

meinen Ort.

Ich habe die Mühen des Wegs vergessen,

zum Himmel, zum Menschen,

zum Ruhm, der einmal war.

Palästinenser,

Palästinenser.

Und hier steht die Zeit still

vor einem Laib Brot,

vor einem Hilfsgüterkarton.

Oh, mein Ruhm.

Palästina.

Oh, meine Mutter.

Palästina.

»Bitte, versuch es, Aeham«, sagte Ziad matt. »Es ist für meine Frau.« Und dann erzählte er mir die Geschichte: Seine Frau war hochschwanger gewesen. Sie hatte einen Passierschein, um nach Damaskus zu gehen und dort das Kind zur Welt zu bringen. Doch als sie zum Checkpoint kam, ließen die Soldaten sie nicht durch. Irgendein Bürokrat hatte den Namen in ihrem Passierschein falsch geschrieben. Alle anderen Angaben stimmten. Bis auf diesen Buchstabendreher. Die Soldaten kannten kein Pardon.

Stundenlang wartete sie am Checkpoint, dass irgendwer den Passierschein korrigierte. Setzte sich. Stand wieder auf. Und brach irgendwann zusammen, fiel vornüber auf ihren Bauch. Sie starb auf dem Weg in die Klinik. Das Baby hatte überlebt. Niemand wusste, ob es gesund sein würde.

Ziad hatte seine Frau über alles geliebt. Das war keine arrangierte Ehe gewesen, sondern eine Liebesheirat. Seine Frau war seine beste Freundin. Sie hatten drei Töchter. Dieses war ihr erster Sohn.

Und nun stand Ziad vor mir mit diesen unendlich müden Augen, und ich stammelte: »Es tut mir leid. Bitte vergiss, was ich gesagt habe. Ich werde es vertonen. Ich werde ein Lied für deine Frau machen.« Abends setzte ich mich ans Klavier...

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