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E-Book

Komplizen des Erkennungsdienstes

Das Selbst in der digitalen Kultur

AutorAndreas Bernard
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783104904443
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
In seinem Buch »Komplizen des Erkennungsdienstes« geht es Andreas Bernard um das Selbst in der digitalen Kultur. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass auffällig viele Verfahren der Selbstpräsentation und Selbsterkenntnis in der digitalen Kultur auf Methoden zurückgehen, die in der Kriminologie, Psychologie und Psychiatrie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erdacht wurden: Das Format des »Profils«, in den Sozialen Netzwerken heute unbestrittener Ort der Selbstdarstellung, entstand als »psychiatrisches Profil« von Internierten oder als »Täterprofil« von Serienmördern. Die Selbstortung auf dem Smartphone, ohne die kein Pokémon-Go-Spiel und keine Registrierung bei Uber, Yelp oder Lieferando möglich wäre, nutzt eine Technologie, die bis vor zehn Jahren hauptsächlich im Zusammenhang mit der elektronischen Fußfessel bekannt war. Und die Vermessungen der »Quantified Self«-Bewegung zeichnen Körperströme auf, die einst die Entwicklung des Lügendetektors voranbrachten. Andreas Bernard fördert die wissensgeschichtlichen Zusammenhänge zutage und geht der irritierenden Frage nach, warum Geräte und Verfahren, die bis vor kurzem Verbrecher und Wahnsinnige dingfest machen sollten, heute als Vehikel der Selbstermächtigung gelten.

Andreas Bernard, geboren 1969 in München, ist Professor für Kulturwissenschaften am »Centre for Digital Cultures« der Leuphana-Universität Lüneburg. Von 1995 bis 2014 war er Autor und Redakteur der »Süddeutschen Zeitung«. Derzeit schreibt er für das »ZEIT Magazin« die Rubrik »Laufende Ermittlungen - Notizen aus dem Alltag« sowie für das Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«. In den Fischer Verlagen ist erschienen: »Die Geschichte des Fahrstuhls: Über einen beweglichen Ort der Moderne« (2006), »Kinder machen: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie« (2014), »Komplizen des Erkennungsdienstes: Das Selbst in der digitalen Kultur« (2017) und zuletzt »Das Diktat des Hashtags. Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung« (2018).

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Leseprobe

Begriffsgeschichte des ›Profils‹ im 20. Jahrhundert


Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Kategorie des ›Profils‹. Für den Austausch innerhalb der Sozialen Netzwerke spielt dieses Element bekanntlich die zentrale Rolle. Das Profil der Mitglieder von LinkedIn, Instagram oder Facebook – der Ort, an dem sie ihre Selbstbeschreibung verfassen, an dem persönliche Daten, Texte, Fotos und Videos versammelt sind – ist der Knotenpunkt der Interaktion. Bereits die frühesten Forschungen über Soziale Medien haben das ›Profil‹ deshalb in den Mittelpunkt der Analyse gestellt. Danah Boyd etwa geht in ihren einflussreichen, ab dem Jahr 2002 veröffentlichten Aufsätzen über Friendster (das erste dauerhaft erfolgreiche Soziale Netzwerk) immer wieder von diesem Element aus. Im ersten Satz eines Beitrags von 2006 heißt es etwa: »Profile sind das vorherrschende Format geworden, um die eigene Identität online darzustellen.«[2] Den Autoren eines Profils – die gleichzeitig dessen Gegenstand sind – wird von Boyd dabei ein hohes Maß an Souveränität zugesprochen. Sie haben volle Autonomie in der öffentlichen Darstellung ihres Selbst, und je origineller und aufwendiger das Format gestaltet ist, desto stärker wird die Reaktion der anderen Nutzer des Sozialen Netzwerks ausfallen: »Wer die Mühen auf sich nimmt, ein interessantes Profil zu kreieren«, so Danah Boyd und Judith Donath im Jahr 2004 über Friendster, »wird auch mehr Verbindungen herstellen.«[3] Boyd bezeichnet die Praxis der Selbstgestaltung in ihren Aufsätzen häufig als »Identitätsperformance«, und sie betont, dass diese schöpferische, produktive Bewegung »das Profil von einer statischen Repräsentation des Selbst in ein kommunikatives Instrument verwandelt hat«.[4] Das ist also das Versprechen des Formats: ein freier, selbstbestimmter Raum, in dem die Verfasserinnen und Verfasser eine wünschenswerte, mehr oder weniger aufrichtige, mehr oder weniger geschönte öffentliche Persona in Szene setzen können.

Und doch darf man bei alldem nicht vergessen: Bis vor 20 oder 25 Jahren waren nur Serienmörder oder Wahnsinnige Gegenstand eines ›Profils‹. Diese Wissensform, dieses Raster der Menschenbeschreibung hat im letzten Vierteljahrhundert eine so rasante wie tiefgreifende Umwandlung erlebt. Vor dem Hintergrund seines heutigen Gebrauchs ist es daher aufschlussreich, sich mit der historischen Semantik des Begriffs auseinanderzusetzen. In welchen Zusammenhängen und zu welchem Zeitpunkt taucht das schriftliche ›Profil‹ auf? Wer ist sein Autor, wer sein Gegenstand, und warum wird es erstellt? In seiner Bedeutung als »kurze, anschauliche Biographie, die die wichtigsten Charaktermerkmale eines Subjekts umreißt«,[5] wie es das Webster Dictionary von der 1968er-Auflage an definiert, hat die Bezeichnung eine verhältnismäßig junge Geschichte (deutschsprachige Enzyklopädien nehmen diese Definition noch später auf). Das Wort ›Profil‹ wird ab der Frühen Neuzeit zunächst im architektonischen und geologischen Kontext gebraucht und meint den Umriss von Gebäuden oder Gebirgen; im 18. Jahrhundert etabliert sich dann auch die Bedeutung als Seitenansicht des Gesichts. Das ›Profil‹ im Sinne eines tabellarischen oder schematischen Abrisses, der Auskunft über einen Menschen gibt, scheint bis ins frühe 20. Jahrhundert unbekannt zu sein.

Wenn der Eindruck nicht täuscht, kommt das Wort in den Humanwissenschaften zum ersten Mal als Fachbegriff der Psychotechnik auf, in den Untersuchungen des russischen Psychiaters Grigorij Rossolimo, der im Jahr 1910 eine Abhandlung mit dem Titel Das psychologische Profil veröffentlicht. Rossolimo entwirft in dieser Studie, die nach dem Krieg auch auf Deutsch erscheint und in den zwanziger Jahren von Fachkollegen wie Karl Bartsch oder Fritz Giese aufgegriffen wird, ein Testverfahren für Kinder ab sieben Jahren, um verschiedene Begabungen – Konzentrationsspanne, Gedächtnisleistung oder Assoziationsvermögen – auf einer Skala von eins bis zehn zu messen. Am Ende dieser Testverfahren, so Rossolimo, können alle »Punkte der Tabelle miteinander verbunden werden, wodurch man eine Kurve der Entwicklungshöhe aller einzelnen Vorgänge enthält, nämlich ein detailliertes psychologisches Profil«.[6] Diese Messwerte werden in Russland vor allem dazu benutzt, um verhaltensauffällige Kinder einer adäquaten Schulart zuzuweisen. Wie Karl Bartsch in seiner Adaption der Methode sagt: »Das psychologische Profil ermöglicht es, die Funktionen der kindlichen Seele zu zergliedern und klarzulegen, und zeigt Wege zu rechten heilpädagogischen Behandlungen vorgefundener Störungen.«[7]

Das Erkenntnisinteresse des ›Profils‹ besteht also von Anfang an darin, einer prüfenden, wertenden Instanz Aufschluss über die Identität und das Verhalten abweichender Subjekte zu geben. Karl Bartsch, der die Interpretationen der Messverfahren Rossolimos zuspitzt und den Kreis seiner jungen Untersuchungspersonen »Psychopathen« nennt, schreibt über einen schwererziehbaren Schüler mit langer Problembiographie: »Wer kann ihn verstehen, ohne sein psychologisches Profil zu kennen?« Der Leipziger Heilpädagoge stellt auch eine kalkulierbare Beziehung zwischen ›Profilkurve‹ und institutioneller Reaktion her: »Alle Kinder, die im Alter von 78 Jahren und darüber hinaus eine Profilhöhe von 4 nicht erreichen«, so Bartschs Empfehlung, »sind der Hilfsschule zuzuführen.« Wo ein Profil erstellt, wo »eine Art seelenkundlichen Querschnitts durch den Menschen«[8] gezogen wird, wie es der Psychotechniker Fritz Giese 1923 nennt, steht also immer schon die Normalität und Gesundheit der analysierten Probanden auf dem Spiel.

Um 1930 verliert sich zunächst die Spur des ›psychologischen Profils‹ im Sinne der Psychotechnik, doch der Begriff taucht bald darauf in einem neuen Wissenskontext auf, der ihm dann im späten 20. Jahrhundert umfassende Popularität verschaffen wird. Um die Aufklärung ungelöster Kriminalfälle voranzutreiben – vor allem solcher, hinter denen man einen Wiederholungstäter vermutet –, kommt es nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA zunehmend zu Kooperationen zwischen Kriminalisten und Psychoanalytikern. So wie die konventionelle Polizeiarbeit materielle Spuren am Tatort auswertet, um sich über Fingerabdrücke oder verstreute Projektile der Identität des Täters zu nähern, beginnt sich die kriminalpsychologische Perspektive auch auf die immateriellen, affektiven Spuren zu konzentrieren, die er hinterlässt, auf die Frage, wie sich Hass, Angst, Zorn, Liebesbedürftigkeit oder andere Eruptionen seines Innenlebens in den Schauplatz des Verbrechens einzeichnen. Dieser Persönlichkeitsabdruck, diese kriminalpsychologische Ballistik hat schon in den fünfziger Jahren Anteil an der Aufklärung spektakulärer Serienverbrechen (etwa im Fall des New Yorker ›Mad Bombers‹ George Metesky), doch als ›psychiatrisches Profil‹ wird die Methode offenbar erst 1962, in einem Aufsatz des Psychoanalytikers Louis Gold über notorische Brandstifter, zum ersten Mal bezeichnet.[9]

Eine große Differenz kennzeichnet das ›psychiatrische Profil‹ der Kriminalistik im Vergleich zum früheren Gebrauch des Begriffs in der angewandten Psychologie: Nun sind es unbekannte Personen, die mit Hilfe dieses Wissensformats identifiziert werden sollen; an die Stelle der Prüfung tritt die Fahndung, an die Stelle der quantifizierbaren wissenschaftlichen Aussage die Hypothese. In ihrer Frühphase vertraut die neue Ermittlungstechnik noch auf die charismatischen, ins Schamanenhafte gehenden Intuitionen einzelner Kriminalpsychologen wie James Brussel. Erst am Ende der 1970er Jahre wird die Erstellung von ›Täterprofilen‹, wie sie nun heißen, mit programmatischer Sorgfalt entwickelt, und zwar im Umfeld einer neugegründeten Abteilung des FBI mit dem Namen ›Behavioral Science Unit‹. Psychologen und Kriminalisten erproben in dieser Abteilung neue Methoden, um auf die steigende Verbrechensrate in den USA zu reagieren. Seit den 1960er Jahren ist laut FBI nicht nur die Zahl der ungeklärten Tötungsdelikte stark angewachsen; auch die Fälle, bei denen das Opfer den Täter nicht kannte, hat sich, wie die Statistik überführter Mörder ausweist, von etwa zehn auf dreißig Prozent erhöht. »Wenn die Verbrecher immer raffinierter vorgehen«, so schreiben Richard Ault und James Reese in ihrem grundlegenden Aufsatz über die neue Methode in der hauseigenen Monatszeitschrift FBI Law Enforcement Bulletin, »muss Gleiches auch für die Ermittlungswerkzeuge des Polizeibeamten gelten. Eines dieser Werkzeuge ist die psychologische Analyse des Verbrechers – das Profiling.«[10]

Der Erkenntnisauftrag des ›Profils‹ liegt Ault und Reese zufolge darin, an den verheerenden Schauplätzen ungeklärter Sexualmorde oder Brandstiftungen bestimmte Verhaltensmuster und Motive des Täters zu entziffern. Einer der Leiter der ›Behavioral Science Unit‹ bezeichnet diese Strategie an anderer Stelle als den Versuch, »über das ›Warum‹ zum ›Wer‹ zu finden«.[11] Vom Zustand des Tatorts schließen die Ermittler auf eine eher organisierte oder desorganisierte...

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