VORWORT (2010)
Mein Sohn kam in Wien zur Welt. Es war eine schwierige Geburt, und die erste Sorge des österreichischen Geburtshelfers und der polnischen Hebamme galt dem Neugeborenen. Er atmete, seine Mutter hielt ihn für einen kurzen Moment in den Armen, dann wurde sie in einen Operationssaal gebracht. Ewa, die Hebamme, gab mir das Kind. Mein Sohn und ich fühlten uns in dem nun folgenden Geschehen ein wenig hilflos. Aber wir hielten zusammen. Er schaute zu mir auf mit seinen veilchenblauen Augen, die noch nicht fokussieren konnten, während Ärzte im Sprint an uns vorbeirannten. Schritte, das schnappende Geräusch von Masken, ein verschwommenes Bild grüner OP-Kittel. Am nächsten Tag hatte sich alles zum Guten gewendet. Die Krankenschwestern gaben mir zu verstehen, ich solle mich wie üblich ab fünf Uhr nachmittags nicht mehr in der Station aufhalten, sondern Mutter und Kind bis zum Morgen ihrer Fürsorge überlassen. So konnte ich nun, ein wenig verspätet, per Mail eine Geburtsanzeige verschicken. Einige Freunde erhielten die frohe Nachricht gerade in dem Moment, in dem sie von einer Katastrophe erfuhren, die andere das Leben kostete. Einer dieser Freunde, ein Kollege, den ich noch im alten Jahrhundert in Wien kennengelernt hatte, war in Warschau in aller Eile ins Flugzeug gestiegen. Meine Nachricht ging fast in Lichtgeschwindigkeit hinaus, und doch erreichte sie ihn nicht mehr.
DAS JAHR 2010 war eine Zeit der Reflexion. Zwei Jahre zuvor hatte die Finanzkrise einen beträchtlichen Teil des Reichtums der Welt vernichtet, der zögerliche Aufschwung begünstigte die Reichen. Ein Afroamerikaner war Präsident der USA. Das große Wagnis Europas im ersten Jahrzehnt nach 2000, die Osterweiterung der Europäischen Union, schien vollendet. Nach den ersten zehn Jahren im neuen Jahrtausend, zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus in Europa, sieben Jahrzehnte nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs schien 2010 das Jahr zu sein, um Bilanz zu ziehen.
In jenem Jahr arbeitete ich an einer solchen Bilanz, gemeinsam mit einem Historiker, der im Sterben lag. Ich schätzte Tony Judt sehr, vor allem wegen seiner Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, die 2005 erschienen war. Das Buch erzählt die fantastische Erfolgsgeschichte der Europäischen Union. Sie hatte die Fragmente der ehemaligen Weltreiche neu zusammengefügt, so dass daraus der größte Wirtschaftsraum und die wichtigste demokratische Region der Welt entstanden. Der letzte Absatz des Buches gilt dem Gedenken an den Holocaust. Im 21. Jahrhundert, schrieb er, würde das übliche Prozedere bzw. Geld nicht ausreichen. Der politische Anstand gebiete, dass eine Geschichte der Gräuel geschrieben werde.
2008 hatte man bei Tony Judt amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert, eine nicht heilbare Krankheit des Nervensystems. Es stand fest, dass er daran sterben würde. Er war in einem Körper gefangen, der seinem Geist den Dienst versagte. Als seine Hände schon gelähmt waren, machten wir Mitschnitte unserer Diskussionen zu Themen des 20. Jahrhunderts. 2009 sprachen wir über die amerikanischen Axiome, dass der Kapitalismus alternativlos und die Demokratie unvermeidlich seien. Beide waren wir besorgt. Tony hatte über die verantwortungslosen Intellektuellen geschrieben, die im 20. Jahrhundert den Totalitarismus unterstützt hatten. Jetzt beschäftigte ihn eine neue Form der Verantwortungslosigkeit im 21. Jahrhundert: eine totale Abkehr von Ideen, die Diskussionen verflachen lässt, Politik ihrer Möglichkeiten beraubt und Ungleichheit als normal hinnimmt.
Zur gleichen Zeit schrieb ich an einer Geschichte der politischen Massenmorde, die das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion in den 1930er und 1940er Jahren in Europa begangen hatten. Das Buch begann mit den Menschen und ihrer Heimat. Im Besonderen ging es um die Juden, Weißrussen, Ukrainer, Russen, Balten und Polen, die beide Regime erlebt hatten, in den Regionen, wo sich die nationalsozialistischen und die sowjetischen Machtbereiche überschnitten. Obwohl in diesen Kapiteln Entsetzliches dargestellt wurde, geplanter Hungertod, Todesgruben und Gaskammern, war die Grundannahme optimistisch: Die Ursachen für den Massenmord konnten bestimmt werden, die Worte der Toten blieben lebendig. Die Wahrheit konnte ausgesprochen werden, ein Lernprozess war möglich.
Ein Kapitel des Buches beschäftigte sich mit einem Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts: dem deutsch-sowjetischen Bündnis, mit dem der Zweite Weltkrieg in Europa begann. Im September 1939 überfielen Deutschland und die Sowjetunion Polen, beide mit dem Ziel, den polnischen Staat und die politische Klasse Polens zu vernichten. Im April 1940 ermordete die sowjetische Geheimpolizei 21.892 polnische Kriegsgefangene, die meisten waren Reserveoffiziere mit Hochschulabschluss. Diese Männer und eine Frau wurden an fünf Hinrichtungsorten durch Genickschuss getötet. Einer von diesen Orten war der Wald bei Katyn in der Nähe von Smolensk in der Russischen Republik der Sowjetunion. Für die Polen wurde das Massaker von Katyn zum Sinnbild für die Repression der Sowjetunion im Allgemeinen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Polen eine kommunistische Regierung. Polen war ein sowjetischer Satellitenstaat, und Katyn durfte nicht zur Sprache gebracht werden. Erst 1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, konnten Historiker aufdecken, was geschehen war. Die sowjetischen Dokumente ließen keinen Zweifel, dass der Massenmord politisch geplant und von Stalin persönlich befürwortet worden war. Seit dem Ende der Sowjetunion hatte die neue Russische Föderation mit der Frage gerungen, ob das Erbe des stalinistischen Terrors thematisiert werden sollte. Kurz vor der Beendigung meines Buches machte am 3. Februar 2010 der russische Ministerpräsident seinem polnischen Kollegen einen überraschenden Vorschlag: eine gemeinsame Veranstaltung zum Gedenken an Katyn, im April, am 70. Jahrestag des Verbrechens. Am 1. April, dem voraussichtlichen Geburtstermin meines Sohnes, schickte ich um Mitternacht mein Manuskript an den Verlag. Am 7. April kam der polnische Premierminister mit einer Delegation der polnischen Regierung in Russland an. Am nächsten Tag wurde mein Sohn geboren.
Zwei Tage später machte sich eine zweite polnische Delegation auf den Weg nach Russland. Darunter waren der polnische Präsident mit seiner Frau, Befehlshaber der polnischen Streitkräfte, Parlamentsabgeordnete, Aktivisten der Zivilgesellschaft, Priester und Angehörige derjenigen, die 1940 in Katyn ermordet worden waren. Ein Mitglied der Delegation war mein Freund Tomek Merta, ein hochangesehener Spezialist für politische Theorie, zugleich stellvertretender Kulturminister und für Gedenkfeiern zuständig. Am Samstag, den 10. April 2010, ging Tomek in den frühen Morgenstunden an Bord. Um 8.41 Uhr stürzte das Flugzeug kurz vor der Landebahn des russischen Militärflughafens von Smolensk ab. Es gab keine Überlebenden. In einer Entbindungsstation in Wien klingelte ein Mobiltelefon, und eine Frau, die erst vor kurzem Mutter geworden war, rief etwas, laut und auf Polnisch.
Am nächsten Abend las ich die Antworten auf meine Geburtsanzeige. Ein Freund fragte sich, ob ich die Tragödie angesichts meiner Glücksgefühle überhaupt begreifen könne: «Damit du nicht in eine schwierige Situation gerätst, muss ich dir mitteilen, dass Tomek Merta tot ist.» Ein anderer Freund, dessen Name auf der Passagierliste stand, schrieb, er wolle mich informieren, dass er seine Meinung geändert habe und zu Hause geblieben sei. Seine Frau sollte in ein paar Wochen ihr Kind zur Welt bringen.
Seine Schlussworte waren: «Von jetzt an wird alles anders sein.»
IN ÖSTERREICH bleiben die Mütter vier Tage lang in der Entbindungsstation, damit die Schwestern ihnen alles über das Füttern, Baden und Pflegen beibringen können. Die Familien haben Zeit, einander kennenzulernen. Man erfährt, wer welche Sprache spricht, und kommt ins Gespräch. Die polnischen Gespräche drehten sich tags darauf um Verschwörung. Die Gerüchte verdichteten sich: Die Russen hätten das Flugzeug abgeschossen, die polnische Regierung sei eingeweiht gewesen und habe den Präsidenten töten wollen, der einer anderen Partei angehörte als der Premierminister. Eine Mutter fragte mich nach meiner Meinung. Ich erwiderte, dies sei alles sehr unwahrscheinlich.
Tags darauf durfte meine Familie nach Hause gehen. Während das Baby in seinem Körbchen schlief, schrieb ich zwei Artikel über Tomek: einen Nachruf auf Polnisch und einen Bericht über das Unglück auf Englisch, dem ich einen hoffnungsvollen Gedanken über Russland als Schlussformulierung anfügte. Ein polnischer Präsident war auf dem Weg zur Gedenkfeier eines...