Der Jungschen Psychologie liegt ein tiefenpsychologisches Persönlichkeitsmodell zu Grunde, d.h. sie geht davon aus, dass die Seele aus bewussten und unbewussten Anteilen besteht. Die gesamte Psyche, also das Ganze des menschlichen Wesens, das sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste umfasst, nennt Jung „das Selbst“. Den Vorgang, unbewusste Vorgänge, in Form von Phantasien oder Träumen allmählich ins Bewusstsein übertreten zu lassen, nennt Jung „Individuationsprozess“.[24] In dessen Verlauf werden bestimmte archetypische Vorstellungen und Erlebniskomplexe, die zunächst entweder im Unbewussten ruhen oder in die Außenwelt projiziert sind, vom Ich-Bewusstsein als Anteile der eigenen Psyche anerkannt („assimiliert“), wodurch ein höherer Grad an innerer Ganzheit realisiert wird.[25]
Im Zusammenhang mit dem Bewussten erwähnt Jung „das Ich“ und „die Persona“. Das Ich ist „das Subjekt aller persönlichen Bewusstseinsakte“[26], in anderen Worten, das Ich ist das Zentrum des Bewussteins. Jung betont jedoch, dass das Ich trotz seiner bedeutenden Stellung „nicht mehr und nicht weniger als das Bewusstsein“[27] ist, während das Gesamtbild der Persönlichkeit auch das Unbewusste einschließt.
Die Persona ist „die Maske, die wir der Welt zeigen“[28], also ein Bild, das wir unserer Umwelt präsentieren (möchten). Sie entspricht einerseits unserem Ideal von uns selbst, andererseits unserer Vorstellung davon, wie unsere Umwelt uns sehen will. Die Persona, so persönlich sie auch zu sein scheint, ist zum überwiegenden Teil von der Gesellschaft und ihren Normen geschaffen. Die Gefahr sieht Jung darin, dass man „mit der Persona identisch wird“[29], d.h. dass man sich allzu intensiv in seine Rolle einlebt und seine eigene Natur vergisst:
Je zivilisierter, das heißt je bewusster und komplizierter der Mensch aber ist, desto weniger vermag er dem Instinkte zu folgen. Seine komplizierten Lebensumstände und der Einfluss der Umgebung sind so laut, daß sie die leise Stimme der Natur übertönen. Dann treten Meinungen und Überzeugungen, Theorien und Kollektivtendenzen an deren Stelle und unterstützen alle Abwegigkeiten des Bewußtseins.[30]
Das was außerhalb des Ichs und der Persona steht, ist das „unbekannte“ Unbewusste, „der Zustand verdrängter oder vergessener Inhalte“[31]. Das Unbewusste kann laut Jung in „das persönliche Unbewusste“ und das „kollektive Unbewusste“ eingeteilt werden. Die erste Gruppe betrifft Inhalte, welche integrierende Bestandteile der individuellen Persönlichkeit darstellen und daher ebenso gut auch bewusst sein könnten; diese ruhen aber auf einer tieferen Schicht, dem „kollektiven Unbewussten“, welches nicht mehr individueller, sondern allgemeiner Natur ist, d.h. „überall und in allen Individuen cum grano salis [das] gleiche ist“[32]. Somit bildet das kollektive Unbewusste die in jedem Menschen vorhandene, allgemeine seelische Grundlage überpersönlicher Natur, unabhängig von verschiedenen kulturellen und geographischen Voraussetzungen. Die Inhalte des kollektiven Unbewussten sind die sogenannten Archetypen – Urbilder, die in symbolischen Bildern, Träumen, Mythen und Märchen erfahrbar sind. Die Ähnlichkeit zwischen den Mythen und Märchen unterschiedlichster Völker ist somit darauf zurückzuführen, dass sie psychische Manifestationen der „allgemeinen“ Seele sind.[33] Diese beeinflussen oft unser Tun, ohne dass es uns bewusst ist. Unbewusste Phänomene werden vom Bewusstsein verdrängt, weil sie „die schlimmen Blutgeister, raschen Zorn und sinnliche Schwäche“[34] enthalten:
Wer in den Spiegel des Wasser [="das" Unbewusste] blickt, sieht allerdings zunächst sein eigenes Bild. Wer zu sich selber geht, riskiert die Begegnung mit sich selbst. Der Spiegel schmeichelt nicht, er zeigt getreu, was in ihn hineinschaut, nämlich jenes Gesicht, das wir der Welt nicht zeigen, weil wir es durch die Persona, die Maske des Schauspielers, verhüllen. Der Spiegel aber liegt hinter der Maske und zeigt das wahre Gesicht.[35]
Die Archetypen, die am meisten unser Tun beeinflussen und oft das Ich „stören“ sind der Schatten, Anima und Animus.
Das Gegenteil der Persona ist der Schatten. Der Schatten drückt alle Eigenschaften aus, die zur Persönlichkeit eines Menschen gehören, die von seiner bewussten Seite aber verdrängt werden. Der Schatten aber ist ein lebendiger Teil der Persönlichkeit und will darum in irgendeiner Form mitleben. Zu Begegnungen mit dem eigenen Schatten kommt es also, weil das Unbewusste die Tendenz hat, nach Ganzheit zu streben, also alle Anteile – und auch den Schatten – mit einzubeziehen. Die negative Bewertung des Schattens findet nur durch den Menschen statt, der die ungeliebten Inhalte am liebsten verbannen möchte. Für Jung ist die Anerkennung der dunklen Aspekte der Persönlichkeit jedoch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Selbsterkenntnis.[36]
Anima ist ein Archetyp weiblicher Art und weiblicher Form, d.h. er beschwört archetypische Bilder des Weiblichen im Unbewussten eines Mannes. Anima tritt in Träumen, Visionen und Phantasien personifiziert auf und ist, so Jung, „keine Erfindung des Bewußtseins, sondern eine Spontanproduktion des Unbewußten“.[37] Die Anima entspringt dem Eros und
ist ein Faktor von höchster Wichtigkeit in der Psychologie des Mannes, wo immer Emotionen und Affekte am Werke sind. Sie verstärkt, übertreibt, verfälscht und mythologisiert alle emotionalen Beziehungen zu Beruf und Menschen beiderlei Geschlechts. Die darunter liegenden Phantasiegespinste sind ihr Werk. Wenn die Anima in stärkerem Maße konstelliert ist, so verweichlicht sie den Charakter des Mannes und macht ihn empfindlich, reizbar, launisch, eifersüchtig, eitel und unangepaßt. Er ist im Zustande des „Unbehagens“ und verbreitet Unbehagen im weitesten Umkreis.[38]
Wie das Unbewusste eines Mannes durch die weibliche Anima kompensiert wird, so wird das Unbewusste einer Frau durch das Männliche – den Animus – kompensiert. Während die Anima dem mütterlichen Eros entspricht, entspricht der Animus dem väterlichen Logos. Beide, Anima und Animus, so Jung, sind als Personifikationen des Unbewussten zu betrachten aber auch als Vermittler zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein. Beide haben eine gleich starke Wirkung auf das Ich, jedoch auf unterschiedliche Art; während die Anima dem Eros entspricht und somit dem männlichen Bewusstsein Sinnliches beibringt, verleiht der Animus, der dem Logos entspricht, dem weiblichen Bewusstsein Erkenntnis und Nachdenklichkeit.[39] Beide Archetypen wurden in der Vorzeit als Götter, die ja für unbewusste Mächte stehen, aufgefasst, oft als Götterpaar (z.B. als Shiva und Parvati im Hinduismus oder als Christus und Maria im Christentum).
Die Anima und der Animus treten häufig als Mittler zum komplexesten und bewusstseinsfernsten aller Archetypen, nämlich zum Selbst, auf. Das Selbst ist nach Jung am tiefsten im kollektiven Unbewussten vergraben und manifestiert sich deshalb erst nach der Auseinandersetzung mit den übrigen Archetypen. Die Integration des Selbst wird vom Ich-Bewusstsein meist als Wiedergeburtserlebnis oder eine Gotteserfahrung erlebt.[40]
Was Hinduismus von den anderen Weltreligionen unterscheidet, ist, dass er keine fest umrissene Dogmatik besitzt, d.h. es gibt keine allgemein verbindlichen Theorien über die Entstehung der Welt oder den Glauben an einen überweltlichen Gott. Die Hindus glauben an die Ewigkeit der sich immer wieder erneuernden Welt, weswegen sie keinen Weltanfang, keinen Schöpfungsmythos und keinen einmaligen geschichtlichen Weltprozess kennen. Der Hinduismus geht jedoch davon aus, dass alle Vielfalt aus einer ursprünglichen Einheit, Brahman genannt, hervorgegangen ist, die den Urgrund von allem existierenden bildet und in allem verborgen ist (diese Anschauung ist mit der platonischen Ideenlehre vergleichbar). In den Upanishaden („Geheimlehren“) finden wir den Gedanken, dass das Brahma, das göttliche All-Eine, mit dem „Atman“, dem „Selbst“, als innerstem Kern jedes Einzelwesens identisch ist, weil jedes Einzelwesen aus dem Allwesen hervorging.[41] Atman ist also auch der Kern des Menschen, was als der Gott im Menschen oder die Identifikation der Einzelseele mit Gott verstanden werden kann (Atman und Brahman bedeuten somit das gleiche). Dieses integrale Verständnis menschlicher Existenz wohl am deutlichsten in der upanishadischen Identitätsformel tat tvam asi („Das bist du“) zum Ausdruck gebracht.
Im Gegensatz zum Brahman ist das Selbst nicht ewig frei, sondern durch die Materie (also den Verstand-Sinne-Leib-Komplex) gebunden. Die Ursache dieser Gebundenheit ist nicht die bloße Anwesenheit der Materie, sondern die falsche Identifikation mit ihr, die aufgrund der Unwissenheit besteht. Wenn das...