„In dem größeren Kampf, dem globalen „eigentlichen Kampf“ zwischen Zivilisation und Barbarei sind es die großen Weltkulturen mit ihren großen Leistungen auf dem Gebiet der Religion, Kunst und Literatur, der Philosophie, Wissenschaft und Technik, der Moral und des Mitgefühls, die ebenfalls vereint marschieren müssen, da auch sie sonst getrennt geschlagen werden.“
Samuel Huntington1
Vorwort
Im Nahen Osten hat die Islamisierung der letzten Jahrzehnte zahllosen Menschen das Leben gekostet, ganze Staaten zerstört und millionenfaches Flüchtlingselend ausgelöst. Ängste vor einer Islamisierung in Europa können nur unter der Voraussetzung als unberechtigt gelten, dass der Nahe Osten und sein europäischer Westen kaum etwas miteinander zu tun haben.
Diese Annahme ist offenkundig absurd. Wer um die verheerenden Konsequenzen der Islamisierung im Nahen Osten weiß, kann sich über die verordnete und mit allen Mitteln der politischen Korrektheit vermittelten Angstverbote nur wundern. In der islamischen Welt ist der totalitäre Islamismus wie in Ägypten nur mit brachialer Gewalt im Zaum zu halten. Solche Mittel stehen den europäischen Demokratien nicht zur Verfügung.
Ausgehend vom Nahen Osten hat der Islamismus nach allen Seiten ausgegriffen, nach Afrika, Asien und Europa. Neben der großen Mehrheit friedlicher Muslime gibt es Abermillionen von totalitären Islamisten und Zehntausende gewaltdurstiger Dschihadisten, die keine Grenzen zwischen Nationen und Kulturen respektieren. Das Kalifat in der Levante enthauptet gemäßigte Muslime, Schiiten, Jessiden, Christen und westliche Geiseln.
Spätestens durch die Flüchtlingsströme, aber auch durch zurückkehrende Terrorpraktikanten ist der Nahe Osten den Europäern noch näher gerückt. Eine Verleugnung oder Unterschätzung der dschihadistischen Bedrohung hat sich für Journalisten und Juden in Paris als verhängnisvoll erwiesen. Es ist mehr als ein Risiko, Islamisten wieder aus Syrien einreisen zu lassen. Auch die Islamisierung des Nahen Ostens hatte mit den Rückkehrern aus Afghanistan eingesetzt.
Der Westen wird keine Ruhe finden, bevor das Feuer der Kulturkämpfe nicht unter Aufbietung aller zivilisierten Kräfte gelöscht ist. Die herkömmlichen politischen Konflikte über Demokratie und Diktatur und kulturellen Konflikte über Werteordnungen relativieren sich angesichts der gleichsam barbarischen Herausforderung der Zivilisation. Die Eindämmung des Islamismus ist die gebotene defensive Reaktion, die Zivilisierung von Kulturen die offensive Aufgabe des Westens.
Hinter den Kulturkriegen im Nahen Osten verbirgt sich nur eine Chance: Je schneller die Selbstzerstörung der alten politischen und religiösen Paradigmen voranschreitet, desto eher könnte das notwendige neue Paradigma einer Zivilisierung der Kulturen vorrücken. Der Weltgeist schreitet laut Hegel nicht linear, sondern über den Umweg der Selbstzerstörung des Alten voran. Die Europäer mussten den Dreißigjährigen Religionskrieg durchleiden, bevor Säkularität und Aufklärung ihren Siegeszug antreten konnten. Erst aus der Selbstzerstörung des Nationalismus im Zweiten Weltkrieg ging das postnationale Europa hervor.
Diese düstere Dialektik von Katastrophe und Veränderung könnte nur noch durch einen rechtzeitigen Generationenwechsel verhindert werden. Aber selbst diese Hoffnung beruht zunächst auf einer düsteren Tatsache. Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen im Nahen Osten einschließlich Nordafrikas wird bis zum Jahr 2020 auf 100 Millionen geschätzt. Von den 80 Millionen Ägyptern ist heute die Hälfte jünger als 25 Jahre; für jeden Arbeitsplatz gibt es fünf Anwärter. Was dies für Europa bedeutet, zeigen die Bilder aus Lampedusa.
Beim Kampf des Islamismus handelt es sich um einen Kampf von zornigen jungen Männern aus den überbevölkerten Staaten des Nahen Ostens gegen die erfolgreichere säkulare Zivilisation: ob sie westlich, russisch, indisch oder chinesisch geprägt ist, spielt dabei kaum eine Rolle. Der Westen ist allerdings durch seine Nähe und seine Dominanz so sehr mit dem Nahen Osten verstrickt, dass hier von „seinem Nahen Osten“ die Rede sein wird.
Ein Blick auf Herkunft und soziale Lage der meisten Dschihadisten im Nahen Osten oder in Europa zeigt, dass es sich um die Verlierer im globalen Wettbewerb handelt. Sie suchen ihre Zukunft in der Eroberung der Zivilisation. Ein religiös legitimierter Wahn dient der Motivation. Ihr Kampf wird auf Dauer nur mit Hilfe einer „posthistorischen Dedramatisierung“ (Peter Sloterdijk) zu bewältigen sein.2 Zornige junge Männer lassen sich nicht mit interkulturellen Dialogen besänftigen. Sie brauchen individuelle Existenzmöglichkeiten. Damit könnten sie sowohl aus der Verabsolutierung kollektiver Identitäten herausfinden als auch die wichtigsten Existenzbedürfnisse befriedigen. Ausbildung und Bildung, Wissenschaft und Technik, Arbeit und Wachstum, diese durchweg profanen Funktionssysteme wären wichtiger als der Streit um heilige Orte und sind die wichtigsten Wege zur Umwandlung des Kampfes der Kulturen in einen Kampf um die Zivilisation.
Parallel zur zunehmenden Islamisierung nehmen heute auch die individuellen Freiheiten durch Migrationsprozesse und Kommunikation zu. Der Paradigmenwandel zeichnet sich an vielen Stellen im Übergang zu einem individualistischeren Lebensgefühl ab. Individualisierung und Zivilisierung bedingen einander und sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ausdifferenzierung moderner Funktionssysteme. Solange sich Wissenschaft und Wirtschaft religiösen Imperativen unterwerfen, werden sie es nicht weit bringen.
Der Kampf der Paradigmen von Identität und Interesse, von Kultur und Zivilisation durchzieht den ganzen Nahen Osten. Er verbindet sich mit einem Generationenkonflikt. Unvergesslich ist mir das Gespräch mit jenem jordanisch-palästinensischen Kollegen, der „seine Heimat Jaffa“ lieber atomar verstrahlt als weiter in der Hand der Israeli sähe. Vietnam und Afghanistan zeigten zudem, dass angesichts einer Motivation, die über den eigenen Tod hinausreicht, Waffen auf Dauer irrelevant sind. Angesichts solcher durchaus repräsentativen Ausfälle kann man diese Generation wohl vergessen.
Der Wandel ist die Sache einer neuen Generation. Die Hauptaufgabe des Westens liegt im Nahen Osten darin, destruktive alte Paradigmen zu sanktionieren und neue Paradigmen zu fördern. In west-östlichen Hörsälen müssen neue Narrative diskutiert werden. Der Begriff Zivilisation entstammt dem lateinischen „Civis“. Es wird letztlich auf das Denken und Handeln der Bürger ankommen.
In Gesprächen mit Studenten an Universitäten in Ghom, Amman und Bethlehem hörte ich neue Narrative anklingen. Während die Kollegen uns in die ewig gleichen religionspolitischen Debatten verstrickten, ging es vielen dieser Studenten primär um ihre individuellen Sorgen. Für sie ist der wichtigste Produktionsfaktor nicht das staatliche Territorium, sondern das Know-how, wer auch immer es bereitstellt. Es geht ihnen weniger darum, wem der Boden gehört als was auf ihm geschieht. Auffallend ist die überall wachsende Zahl von Studentinnen, die sich über Bildung ihre Emanzipation erkämpfen.
Auf meine Frage, welcher Religion sie angehöre, antwortete mir Selina an der Philadelphia Universität in Amman, dass sie „von Herkunft Muslima“ sei, aber alle Religionen praktiziere, je nach Stimmung, Ort und Umfeld. Ihr Hauptziel ist ein Stipendium für eine westliche Universität. Nach dem Studium will sie entscheiden, wo sie leben möchte.
Jumana entzog sich bei ihrem Besuch in Köln der Leitmelodie über „westliche Dekadenz“. Sie wollte nicht endlos über religiöse und nationale Konflikte diskutieren, sondern lieber über die Möglichkeiten der Freiheit. Mit Hilfe eines Stipendiums studierte sie später in Oxford, bevor sie an die Universität Bethlehem zurückkehrte.
Rafik ist Christ und wurde in Haifa geboren. Er besitzt einen israelischen Pass, wohnt in Ostjerusalem, studiert in Bethlehem und will nach dem Examen ein arabisches Speiselokal in Österreich eröffnen. Auf meine Frage, ob er sich als Israeli, als Palästinenser oder bald als Österreicher verstehe, antwortete er mir nur lapidar: „I hate politics“.
Abdallah ist Muslim. Bei den üblichen Diskussionen über etwaige Staatenlösungen eröffnete er mir, dass er keinen Staat, sondern einen Arbeitsplatz brauche, egal wo. Heute arbeitet er in Jerusalem beim Middle Eastern Institute for Education and Technology, welches hochbegabten Schülern aus dem Westjordanland und Israel Informatikkurse anbietet. Über Politik und Religion wird dort grundsätzlich nicht geredet. Die Schüler hätten Wichtigeres zu tun, als sich in hoffnungslose Konflikte zu verstricken.
Dieses Buch ist Selina, Jumana, Rafik, Abdallah und all den anderen gewidmet, die aus dem Gefängnis ihrer...