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Der Wiener Kongress

Das große Fest und die Neuordnung Europas

AutorEberhard Straub
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl255 Seiten
ISBN9783608106909
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Der Wiener Kongress markiert einen Wendepunkt in der Geschichte Europas. Dort gelang es, eine einzigartige dauerhafte Friedensordnung zu stiften, die erst mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges endete. Eberhard Straub zeichnet ein farbiges Sittengemälde einer ganzen Epoche, in der ein politisches Europa Wirklichkeit wurde. Der Wiener Kongress tanzte nicht nur, er arbeitete auch. Nach den Napoleonischen Kriegen, die Europa in vollständige Unordnung gestürzt hatten, bemühten sich Könige und Diplomaten, aus den Trümmern der alten Welt ein neues Europa der Sicherheit und Solidarität zu schaffen. Eberhard Straub porträtiert die großen Akteure (u. a. Metternich, Talleyrand, Hardenberg, Humboldt) und zeigt, wie sie die Grundlagen dafür legten, dass Europa sich noch einmal 100 Jahre souverän als Einheit in der Mannigfaltigkeit behaupten konnte. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg erlagen die Siegermächte nicht der Versuchung, den unterlegenen Feind zu dämonisieren und zu bestrafen. Noch einmal siegte die Vernunft der Nationen.

Eberhard Straub, geboren 1940, ist habilitierter Historiker, Journalist und Buchautor. Er war Feuilletonredakteur bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, dann Pressereferent des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft. Seit 2001 lebt er als freier Publizist in Berlin und ist als Biograph u.a. mit einer Geschichte der Familie Furtwängler hervorgetreten.

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Leseprobe

EINFÜHRUNG


Schöpferische Restauration aus dem Geist des alten Europa

Während der Julikrise 1914 endeten hundert Jahre Frieden in Europa, deren Grundlage auf dem Wiener Kongress 1814/15 gelegt worden war. Damals wurde das Konzert der fünf Großmächte – Russland, Preußen, Österreich, Frankreich und Großbritannien –, das europäische Staatensystem, wie es seit den Friedensschlüssen von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) bestand, abermals erneuert, nachdem die Französische Revolution und Napoleon Bonaparte es zerstört hatten. Der Ursprung dieses Staatensystems reicht noch weiter zurück, bis zum Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück 1648, an dem allerdings Russland noch nicht beteiligt war. Dem Wiener Friedenswerk gelang eine schöpferische Restauration, eine neue Ordnung Europas aus dem Geist der alten, vorrevolutionären Welt. Diese Ordnung löste sich im Großen Krieg oder im Ersten Weltkrieg, wie er in Deutschland genannt wird, auf. Europa geriet in seine größte Krise seit der Französischen Revolution. Außerdem konnten die europäischen Staaten 1919 zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht allein über ihre und die Zukunft Europas bestimmen. Unfähig, einen Frieden ohne Sieger und Besiegte zu finden, hatten die ratlosen Europäer die USA um Vermittlung und Hilfe gebeten. Sie zweifelten endgültig an ihrer herkömmlichen, in der Vergangenheit so oft bewährten Staatsvernunft, der sie allerdings schon im Jahrzehnt vor 1914 nicht mehr recht vertrauten hatten.

Das war 1814 noch ganz anders gewesen. Nichts fürchteten die in Wien versammelten Monarchen und Diplomaten so sehr wie die breiten, schwammigen Begriffe – Gerechtigkeit, Freiheit, Menschlichkeit, Selbstbestimmung und Menschenrechte –, in deren Namen französische Revolutionäre ein knappes Vierteljahrhundert zuvor den vollständigen Umsturz in Europa begonnen hatten, den Napoleon vollendete, indem er die Revolution erfolgreich erstickte. Das verschaffte ihm das Ansehen, trotz seiner imperialen Politik, die Europa vollständig veränderte, ein Mann der Ordnung zu sein, der zur Vernunft gebracht werden könne. Das Konzert der Mächte hatte Napoleon beiseite geschoben, aber Österreich gab es trotz vieler Demütigungen noch, Russland konnte er sich ebenso wenig zum Freund machen wie England die Seeherrschaft entreißen. Nach dem Einfall in Russland und der Vernichtung seiner »Großen Armee« 1812 war es zuerst der russische Kaiser Alexander I., der die Preußen zum Aufstand gegen Napoleon überredete. In Übereinstimmung mit ihm und Friedrich Wilhelm III. organisierte der österreichische Außenminister Klemens Wenzel Lothar von Metternich ohne Überstürzung einen Bund der Staaten und Monarchen, um Napoleons Kaiserreich auf die vernünftigen Grenzen eines französischen Königreichs zurückzustutzen und zu einer neuen Balance der Mächte zurückzufinden. Ohne ein starkes Frankreich konnte Europa, das von einem zu starken Frankreich vollständig durcheinander gebracht worden war, nicht wieder ins Gleichgewicht kommen.

Die Koalition aus den drei Kontinentalmächten Russland, Österreich und Preußen sowie Großbritannien, die sich 1813/14 erst formlos und dann verbindlich bildete, führte keinen Krieg gegen einen »Schurkenstaat«, wie man heute sagt, auch nicht gegen einen Verächter des Völkerrechts, der bestraft werden musste, wenn gar keine weiteren Sanktionen halfen. Vielmehr kämpfte sie gegen den legitimen Kaiser der Franzosen, den Störer der Ruhe Europas, hegte während der Feldzüge aber stets die Hoffnung, sich dennoch mit Napoleon über eine europäische Friedensordnung verständigen zu können, in der auch für ihn Platz wäre. Vor allem der angebliche Reaktionär Metternich, der Napoleon gründlich kannte und ihn mit viel Sympathie zu verstehen suchte, versprach sich von der Zusammenarbeit mit ihm sehr viel und von der Restauration der bourbonischen Könige in einem wünschenswerten neuen Europa sehr wenig. Doch Napoleon, der Sohn des Glücks, wurde zum Kummer Metternichs, aber auch des russischen Kaisers, nicht vernünftig. Dennoch behandelten die Sieger nach der Niederlage Napoleons Frankreich insgesamt glimpflich. Sie dachten nicht an die Vergangenheit mit ihren Schrecknissen, sondern an die Gegenwart und Zukunft. Ein nicht versöhntes Frankreich würde Europa nicht zur Ruhe kommen lassen und die Revision eines Vertrages planen, der seine Ehre und Würde als Großmacht empfindlich verletzte.

Deshalb musste Frankreich geschont werden und Gelegenheit erhalten, als gleichberechtigtes Mitglied im europäischen Konzert eine unentbehrliche Rolle zu spielen. Zaghafte Versuche englischer und preußischer Offiziere, französische Kriegsschuld und Kriegsverbrechen zur Sprache zu bringen, wurden von den andern Mächten abgewiesen, denn souveräne Staaten waren nach europäischen Rechtsvorstellungen niemandem verantwortlich und konnten keine Verbrechen begehen. Außerdem hatten sämtliche Souveräne während der Koalitionskriege in Napoleon den souveränen Herrscher und Repräsentanten seines Staates gesehen und im Umgang mit ihm weiterhin die formale Höflichkeit gewahrt, die er allerdings nicht immer gründlich beachtete. Im Übrigen waren die meisten Herrscher vorübergehend oder längere Zeit seine Verbündeten gewesen, einige gezwungenermaßen, andere freiwillig, und manche verdankten ihm ihre Kronen und Königreiche. Der Kaiser der Franzosen war, trotz allem, in einer Zeit wachsender Unübersichtlichkeit einer der ihren – kein Nero oder Domitian und nur zuweilen unbeherrscht oder schlecht beraten.

Die Geduld oder besser die Vernunft der Sieger wirkt heute nahezu fahrlässig, ungemein zynisch und vollkommen unmoralisch. Schließlich hatten Franzosen von Gibraltar bis Moskau aus der Geschichte eine Geografie in Bewegung gemacht und ganz Europa in Unordnung gebracht. Grenzen und Staaten wurden dauernd verschoben, die französischen Truppen plünderten oder erpressten übertriebene Kriegstribute, Handel und Wandel lagen darnieder, seit dem Dreißigjährigen Krieg hatte es nicht so viele Tote gegeben, vor allem unter der Zivilbevölkerung. Es war kein besonderes Glück, von den Franzosen befreit zu werden, um unter drastischer französischer Fürsorge überhaupt erst Mensch zu werden. Die Kriege ab Frühjahr 1792 wurden von den französischen Revolutionären als totale Kriege geführt, die ersten ihrer Art in der europäischen Geschichte. Die Revolutionäre kämpften nicht gegen einen gleichberechtigten Ehrenmann in einem Ehrenhändel, wie im Duell, zu dem der Krieg seit 1648 in den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts geworden war. Vielmehr sahen sie in ihrem Feind einen absoluten Feind, der die Freiheit, die Menschlichkeit, die Menschenrechte bedrohte, und stilisierten ihre militarisierte Republik zur humanistischen Wertegemeinschaft, unersetzlich im Krieg gegen den Terror von Fundamentalisten aller Art. Wer Frankreich daran hindern wollte, seine Werte anderen aufzuzwingen, machte sich antifranzösischer Umtriebe verdächtig und bedurfte dringend korrigierender Maßnahmen.

Gegen den absoluten Feind ist alles erlaubt, er vertritt eine böse Macht, er ist ein Ungerechter, der sich gegen den Guten und Gerechten empört und Strafe verdient. Bislang unbekannte Aufgaben wurden mit dem Krieg als Strafaktion verknüpft: vernichten, ausrotten, auslöschen, eliminieren. Die Besiegten folgten zumindest zeitweilig diesem neuen Vorbild im spanischen Guerillakrieg ab 1808 gegen die französische Besatzungsmacht, beim Aufstand der Tiroler 1809 oder im russischen Freiheitskrieg von 1812. Da taten sich tatsächlich Abgründe auf, und die elementarsten Ungeister wurden losgelassen, die Vergils Juno gegen Aeneas und die verhasste Brut der Phryger entfesseln wollte. Wenn nämlich die eigene Macht nicht hinreicht für die gerechte Sache, scheut die rachsüchtige Göttin sich nicht, die Hölle in Aufruhr zu versetzen. Ihr Acheronta movebo aus der Aeneis (VII, 312) wurde seitdem zum schrecklichen geflügelten Wort. Alteuropäische Errungenschaften gerieten in Vergessenheit: den Gegner wie einen Gleichen zu behandeln; in der Tradition des Westfälischen Friedens die Frage nach der Gerechtigkeit nicht weiter zu berühren; sowie streng zu unterscheiden zwischen Kombattanten und Zivilisten. Eine ungemeine Rechtsunsicherheit machte sich breit, mit der wachsenden Moralisierung, die eigene Sache für die gute und gerechte auszugeben, ging die Dämonisierung der Absichten des Feindes einher.

Die Europäer waren schockiert. Als aufgeklärte Humanisten entsetzte sie das Undenkbare, der Kulturbruch, wie es heute heißt. Sie machten die fürchterliche Erfahrung, dass zivilisierte Völker nicht weiter von der Barbarei entfernt sind als das glänzendste Eisen vom Rost, wie der Schriftsteller und Satiriker Antoine de Rivarol schon zu Beginn der Revolution angemerkt hatte. Diese Erfahrung machte die Monarchen und Sieger über Napoleon so klug, sich nicht von Hass oder Vergeltung leiten zu lassen. Auf dem Wiener Kongress enthielten sie sich jedes moralischen Urteils. Nach 23 Jahren Krieg, den bislang widerwärtigsten in der gesamten europäischen Geschichte, griffen sie zurück auf das alte Kriegs- und Völkerrecht, das ius publicum europaeum, das »europäische öffentliche Recht«, das von der Revolution und Napoleon für ungültig erklärt worden war. Diese Restauration reduzierte den absoluten Krieg wieder auf das Duell moralisch und rechtlich Gleicher und Gleichberechtigter. Der Krieg wurde wieder zum letzten Mittel der Politik, ganz gleich, ob es sich um einen Angriffs- oder Verteidigungskrieg handelte. Denn Angriff kann die beste Verteidigung...

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