„Das Thema ist so grenzenlos wie die Wüste selbst“ heißt es in dem Aufsatz „Symbolik der Wüste“ von Stefan Deeg, Michel Hermann und Levin Goldschmidt.[50] Dennoch begeben sich die Autoren auf den Weg und vollziehen, über die Quellen der drei großen Schriftreligionen[51], die semantische Aufladung des Wüstenbegriffs in einem religiös-philosophischen Kontext nach, in dem die Wüstenbilder noch eng mit ihrem topografischen Referenten[52] verknüpft sind. Unter der Prämisse eines Raumbegriffes, der das Raumerleben als eine psycho-physische Grundgegebenheit ansieht und somit den „erlebten Raum“[53] in den Vordergrund der Betrachtung stellt, bieten sie eine erste Definition: „Die Wüste wird als undifferenzierter Raum erfahren: weglos, umrißlos, man verliert die Orientierung, verirrt sich; die Wüste ist still, öd und leer. Sie ist unfruchtbar, lebensfeindlich“.[54] In der amorphen Struktur des Ortes sehen die Autoren den Anreiz zur symbolischen Aufladung begründet:
Sie kann der Ort des Verderbens sein. Wegen ihrer Leere wirft sie den Menschen auf sich selbst zurück, der seine Phantasmagorien in sie hineinprojiziert; das kann glückbringend wie schauerlich ausfallen. Und sie kann zum Ort der Begegnung mit dem Höchsten werden. [...] Auch liegt der Gedanke nahe, dass die Preisgabe in einem sozial leeren Raum die Individuation fördert.[55]
Über die Auswertung der Referenztexte erarbeiten die Autoren fünf Facetten des Wüstenbegriffs, die einen Einblick in die Mehrdeutigkeit des Gegenstandes verschaffen.
Die Nähe zu Gott ist eines der Potentiale der Wüste. Dieses kann sich im Positiven in einer Begegnung mit Gott ausdrücken, im Negativen aber auch in der Bestrafung Gottes, was die Wüste schließlich zum Ort der Buße, der Erprobung oder der Bewährung werden lässt. Ein zweites Thema ist die Wüste als Ort der Askese, wie sie von den Anachoreten, Eremiten oder Wüstenvätern praktiziert wurde. Als Gegenentwurf zur Gesetzmäßigkeit der Städte wird eine Facette der Wüste aufgezeigt, die sie zum Zufluchtsort von Aufständischen oder Verfolgten macht. Nicht zuletzt ist das Bildnis der Begegnung mit den Dämonen ein wiederkehrendes Element der Wüstensymbolik, gefolgt von der Vorstellung von Wüste als Zeichen innerer Ungebundenheit.[56]
Der Literaturwissenschaftler Uwe Lindemann[57] nähert sich ebenso wie die Autoren Deeg, Hermann und Goldschmidt dem Wüsten-Topos über seinen diskursiven Gebrauch. Seine Analyse legt jedoch den umfassenden Korpus der Kultur- und Literaturhistorie des Abendlandes, von der Antike bis zur Gegenwart zugrunde. Er konstatiert: „Seit den Anfängen der Literatur gehört die Wüste zu den Schauplätzen schriftstellerischer Einbildungskraft.“[58] Auffällig ist dabei die zweifache Semantik die der Wüsten-Topos aufweist. Einerseits skizziert er wörtlich genommen einen „Ort mit irregulären phänomenalen Strukturen, der sich mit nur wenigen anderen Orten bzw. Landschaften der Erde vergleichen läßt.“[59] Andererseits vereint er in seiner Komplexität „typisierte Vorstellungen“, die sich in Schlagwörtern wie „Sand, Dünen, Beduinen, Hitze und Durst“ ausdrücken, ebenso wie in sich verwobenen Bedeutungsebenen, die eine Vielzahl von Überschneidungen mit anderen Themenbereichen aufrufen.[60]
Lindemanns Untersuchung geht über die Beschäftigung mit rein religiös konnotierten Wüstenbildern hinaus und schließt profane literarische Texte ein, wodurch insbesondere die Loslösung des Wüstenbegriffs von seinem ursprünglichen topografischen Referenten nachvollziehbar wird und speziell der metaphorisierte Wüstenbegriff Anreiz zur kreativen Auseinandersetzung gibt:
Beim literarischen Topos Wüste handelt es sich um einen Topos, der sich, gerade aufgrund der ihm eingeschriebenen Polyvalenz, für viele Schriftsteller zur Entfaltung ihrer poetologische-ästhetischen Programme besonders eignet und an dem daher die jeweiligen Programme außerordentlich gut nachvollzogen werden können.[61]
Die zentralen Themen, die Lindemann im Wüsten-Topos verhandelt sieht, lassen sich ebenfalls in Kategorien zusammenfassen. Neben religiös mythischen Diskursen und dem Thema Einsamkeit; der Konfrontation des Eigenen mit dem Fremden; Erhabenheits- oder Melancholieproblematiken und Aspekten der Verwüstung, stellt Lindemann fest, das die Bedeutung der Wüste als Gegenentwurf bzw. Gegenort zur Stadt, zur Zivilisation, zum Kollektiv oder zur Fülle insbesondere im Zuge der Metaphorisierung wächst.[62] Mittlerweile ist es nicht mehr entscheidend, ob es sich beim Wüsten-Topos um eine geografische Wüste, das Sinnbild oder die Metapher handelt. Der relationale Charakter wohnt dem Wüsten-Topos als solchem inne und ist ausschlaggebend für seine interpretatorische Polyvalenz, die ihn zum Untersuchungsgegenstand diverser Disziplinen macht.[63] Auch im Medium des Films ist die Wüste vielfach anzutreffen. Wie sie in der filmischen Bearbeitung verortet wird und welche spezielle Herangehensweise Wüstenfilme per definitionem auszeichnet, soll im Folgenden kurz dargestellt werden.
Ab den späten 1960er Jahren trugen einige Ereignisse zu einer Neubelebung des Wüsten-Topos bei. Mit dem ersten Mann auf dem Mond gelangen Bilder der öden Mondfläche und damit einer außerirdischen Wüste auf die Erde, das Bildarchiv der Gegenwartskultur wurde bereichert durch die Werke von Landart-Künstlern, die in die Wüsten von Kalifornien, Nevada oder Utah aufbrachen, und Rockmusiker wie Jim Morrison verließen die Bühne, um in die Wüste zu ziehen.[64] Das Kino ist zu der Zeit der „kulturelle Ort an dem Wüstenbilder förmlich explodierten.“[65] Die Wüste wurde zum zentralen Gegenstand in amerikanischen Biker- und Roadmovies, Science-Fiction-Filmen und surrealistischen Filmwerken, die Polyvalenz des Wüsten-Topos entlud sich in all ihren Facetten: „Einmal mehr operiert die Wüste als semantisch vieldeutiges Heterotop der Leere, des Todes, der Versuchung, der Offenbarung, aber auch des Ursprungs, der Reinheit, der Läuterung“.[66]
Dass die geografischen Beschaffenheiten und das interpretatorische Potential der Wüsten der Welt immer wieder das Interesse von Filmemachern wecken und die verschiedenen Register der Wüstenmetaphorik in der Filmgeschichte einen festen Platz einnehmen, dokumentieren zahlreiche Spiel- und auch Dokumentarfilme[67]. Im fiktionalen Genre sind folgende Filme hervorzuheben, die jeweils auf ihre ganz eigene Art der Wüste begegnen. Zu nennen wäre etwa der filmische Umgang Michelangelo Antonionis in Zabriskie Point (1970) in dem die Wüste die „Entfremdung und Kommunikationslosigkeit des Menschen der modernen Industriegesellschaft“ symbolisiert. Die Inszenierung der vegetationslosen Einöde als Rückzugsort des Hauptdarstellers und Spiegelbild seiner „zerrütteten und förmlich ausgetrockneten Seele“, ist zu sehen in Wim Wenders Paris, Texas (1984). Oder die Inszenierung der Wüste in Gus van Sants Gerry (2002) als „existenzieller Ort, in dem der Mensch aufgrund des Fehlens aller Kulturgüter und Verlockungen der Konsumgesellschaft auf seine nackte Existenz zurückgeworfen wird“. Im klassischen amerikanischen Western wie Westward the Women (1951) oder The Three Godfathers (1948) fungiert die Wüste meist als Ort der Bewährung, den es zu durchqueren gilt, im Abenteuerfilm The Flight of the Phoenix (1965) dagegen nimmt sie die Rolle eines natürlichen Gefängnisses ein. Als Ort der Selbstfindung fungiert die große Leere in Lawrence of Arabia (1962) oder The Sheltering Sky (1990).[68]
Der Kulturwissenschaftler Ekkehard Knörer unterscheidet den Wüstenfilm per definitionem von Filmen, in denen die Wüste nur als Motiv funktioniert. Die Unterscheidung erfolgt über den Begriff der Landschaft und dem Verhältnis der Figuren zu dieser. Die Landschaft im Sinne des klassischen Kinos nimmt die Funktion eines Hintergrundes ein, vor dem sich die Figurenkonstellationen und die Handlungen vollziehen. Die räumliche Einbindung der Figuren erfolgt über die Rahmung, der Einsatz der Natur erschafft einen Stimmungsraum.[69]
Im Wüstenfilm hingegen wird die Wüste nicht als Landschaft im Sinne des klassischen Kinos umgesetzt. Motiviert durch die geografische Beschaffenheit, die endlose Weite, droht die Rahmung sich aufzulösen, die Landschaftlichkeit der Natur stößt an eine Grenze und die Wüste ist folglich der Ort, „an dem die Kadrierung ihren Halt an den...