KAPITEL 1
Der Umgang mit der Angst vor dem Tod
Die Wiege schaukelt über einem Abgrund,
und der platte Menschenverstand sagt uns, daß unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.5
Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich
Am Weihnachtsabend 1971 überflogen die siebzehnjährige Juliane Koepcke6 und ihre Mutter, die deutsche Ornithologin Maria Koepcke, zusammen mit neunzig weiteren Passagieren die Regenwälder am Amazonas. Sie kamen aus Lima und waren auf dem Weg nach Pucallpa, um zusammen mit Julianes Vater, dem großen Zoologen Hans-Wilhelm Koepcke, Weihnachten zu feiern. Plötzlich schlug ein Blitz in den Treibstofftank des Flugzeugs ein. Die Maschine zerbarst zwei Meilen über dem dünn besiedelten Waldgebiet und ging in Rauch und Asche auf.
Juliane wurde aus der Maschine ins Freie katapultiert. Es herrschte gespenstische Stille. Noch immer auf ihrem Sitz festgeschnallt, trudelte sie durch die Luft, sah das Blätterdach des Urwalds rotierend näher kommen, die letzte Hürde vor ihrem, wie es schien, sicheren Tod. Das dichte Blattwerk bremste ihren Sturz. Sie fiel in Ohnmacht.
Als sie erwachte, schnallte sie sich vom Sitz los und tastete um sich. Ein Schuh fehlte, ebenso ihre Brille. Sie befühlte ihr Schlüsselbein, es war gebrochen. Sie entdeckte eine tiefe Schnittwunde am Bein, eine weitere am Arm. Eines ihrer Augen war komplett zugeschwollen, das andere ließ nur noch einen kleinen Schlitz zum Sehen. Ihr war schwindlig von einem schweren Schädel-Hirn-Trauma. Aber da sie unter Schock stand, spürte sie keinen Schmerz. Sie rief und rief und rief nach ihrer Mutter. Keine Antwort. Sie stellte fest, dass sie laufen konnte. Also lief sie los.
Elf Tage lang irrte Juliane durch den Dschungel – Heimstatt von Kaimanen, Taranteln, giftigen Fröschen, Zitteraalen und Stachelrochen. Sie erduldete sintflutartig Regengüsse, tückische Sümpfe, mörderische Hitze und die unablässigen Angriffe stechender Insekten. Endlich fand sie einen kleinen Bach. Sie dachte an das, was ihr Vater sie einst gelehrt hatte – dass nämlich die meisten Menschen in Wassernähe leben –, und folgte dem kleinen Wasserlauf bis zu einem größeren. Sie watete in das von Piranhas und Stachelrochen bevölkerte Wasser und begann langsam zu schwimmen und sich flussabwärts treiben zu lassen.
Ihr Schockzustand rettete sie. Sie war nicht hungrig und hatte das Gefühl, von einer dicken Watteschicht umhüllt zu sein. Aber die Wolken aus beißenden und stechenden Insekten plagten sie. Sie versuchte, sich unter Bäumen auszuruhen, doch an Schlaf war so gut wie nicht zu denken. Ihre Wunden wurden von Maden besiedelt. Beim Treiben auf dem Wasser verbrannte die Sonne sie so, dass ihre Haut zu bluten begann. Aber sie machte benommen weiter.
Schließlich stieß sie auf ein Motorboot. Sie besaß die Geistesgegenwart, Benzin auf die Maden zu gießen, um diese abzutöten. Nach ein paar Tagen fanden die Besitzer des Bootes sie in der Nähe ihrer kleinen Hütte und brachten sie in die nächste, sieben Stunden entfernte Stadt.
Sie war die einzige Überlebende des Unglücks.
Wir alle kennen erstaunliche Geschichten von Menschen, die allen Widrigkeiten zum Trotz dem Tod entgangen sind: die Überlebenden der Titanic und jenes legendären Siedlertrecks in der Sierra Nevada, der als Donner Party in die Geschichte eingegangen ist, oder diejenigen, die von den Bomben auf Dresden, Hiroshima und Nagasaki verschont geblieben sind. In solchen Geschichten spiegelt sich die Tatsache, dass alle Lebewesen mit einer biologischen Ausstattung zur Welt kommen, die auf Selbsterhaltung geeicht ist. Über Milliarden Jahre hat sich auf unserem Planeten eine Fülle an komplexen Lebensformen entwickelt, jede einzelne davon programmiert, lange genug zu überleben, um ihre Gene an kommende Generationen weitergeben zu können. Fische haben Kiemen, Rosen Dornen. Eichhörnchen vergraben Nüsse und buddeln sie Monate später wieder aus, Termiten fressen Holz. Der phantastischen Vielfalt an Strategien, mit denen Angehörige aller möglichen Arten ihrem fundamentalen biologischen Auftrag nachzukommen versuchen, der da lautet: Bleib am Leben, scheint keine Grenzen gesetzt.
Wenn Sie in Ihrem Speicher eine umherflatternde Fledermaus entdeckten und das Dunkel mit einem Tennisschläger in der Hand betreten würden, um sie zu vernichten, müssten Sie sich auf ein erbittertes Gefecht gefasst machen, denn sie wird um ihr Leben kämpfen. Sogar Regenwürmer wehren sich heftig gegen das Sterben, wie jeder bezeugen kann, der schon einmal versucht hat, einen Angelhaken zu bestücken. Sie teilen ihn in der Mitte durch – er bleibt am Leben. Sie versuchen ihn aufzuspießen – er wird sich winden, was das Zeug hält. Haben Sie ihn auf dem Haken, kotet er Ihnen auf die Hand.
Im Unterschied zu Fledermäusen und Würmern aber wissen wir Menschen, dass wir, egal, was wir auch tun, den Kampf gegen den Tod am Ende verlieren werden. Das ist ein zutiefst beunruhigender Gedanke. Wir glauben vielleicht, Angst vorm Sterben zu haben, weil unser Körper verwesen, nach Fäulnis riechen und letztlich zu Staub zerfallen wird, weil wir unsere Lieben zurücklassen, weil wichtige Dinge unerledigt bleiben oder weil wir den heimlichen Verdacht hegen, dass uns doch kein liebender Gott erwartet, um uns in die Arme zu schließen. Aber tief in uns steckt hinter all diesen Sorgen jener fundamentale biologische Auftrag. Wie Juliane Koepcke und andere Überlebende von Katastrophen bezeugen, tun wir so gut wie alles, um am Leben zu bleiben. Dennoch leben wir mit dem Wissen, dass diesem Wunsch letztlich die Erfüllung unausweichlich versagt bleiben wird.
Wie sind wir in diese Zwickmühle geraten? Obwohl wir Menschen wie alle anderen Lebensformen den elementaren biologischen Auftrag zu überleben ererbt haben, unterscheiden wir uns in mehreren entscheidenden Aspekten von allen anderen. Rein physisch gesehen beeindrucken wir nicht übermäßig. Wir sind nicht sonderlich groß, auch sind unsere Sinne nicht besonders geschärft. Wir bewegen uns viel langsamer als Geparden, Wölfe oder Pferde. Unsere Klauen sind nichts weiter als dünne, armselige Fingernägel, unsere Zähne nicht dafür gemacht, mehr als ein durchgegartes Steak zu verzehren.
Aber die kleine Gruppe afrikanischer Hominiden, von der wir alle abstammen, war hoch sozial, und dank der Evolution einer Großhirnrinde von respektabler Größe wurde unsere Art extrem intelligent. Diese Entwicklung begünstigte Kooperation und Arbeitsteilung und ließ unsere Vorfahren schließlich Werkzeuge, Ackerbau, Häuser, das Kochen und einen Haufen anderer praktischer Dinge erfinden. Wir, ihre Nachfahren, gediehen und vermehrten uns, unsere Zivilisationen schlugen in der ganzen Welt Wurzeln.
Die Evolution des menschlichen Gehirns stattete uns Menschen mit zwei besonders wichtigen intellektuellen Fähigkeiten aus: einem hohen Grad an Selbst-Bewusstsein und der Fähigkeit, in zeitlichen Dimensionen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu denken. Nur wir Menschen sind, soweit wir wissen, uns unserer selbst als Wesen bewusst, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort existieren. Das ist ein wichtiges Kriterium. Im Unterschied zu Gänsen, Affen und Wombats können wir unsere gegenwärtige Situation im Licht sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft sorgsam überdenken, bevor wir uns für ein bestimmtes Handeln entscheiden.
Dieses Bewusstsein für unsere eigene Existenz verleiht uns ein hohes Maß an Verhaltensflexibilität, die uns hilft, am Leben zu bleiben. Einfachere Lebensformen reagieren auf ihre Umwelt starr und unflexibel. Falter beispielsweise fliegen stets zum Licht. Auch wenn ihr Verhalten im Allgemeinen nützlich sein mag, wenn es gilt, den Weg zu finden oder einem Räuber zu entgehen, kann es tödlich sein, wenn die Lichtquelle eine Kerze oder ein Lagerfeuer ist. Im Unterschied zu Schmetterlingen können wir Menschen unsere Aufmerksamkeit vom nie endenden Strom unserer sensorischen Wahrnehmung weglenken. Wir werden nicht unausweichlich von der Flamme angezogen. Wir können beschließen, ganz anders zu handeln, und das hängt nicht nur von unseren Instinkten ab, sondern auch von unserer Fähigkeit zu lernen und zu denken. Wir können alternative Reaktionen auf gegebene Situationen und deren Konsequenzen abwägen und uns neue Möglichkeiten vorstellen.
Unsere Selbstwahrnehmung hat uns im Allgemeinen gute Dienste geleistet. Sie hat unsere Fähigkeit, zu überleben, uns fortzupflanzen und unsere Gene an künftige Generationen weiterzugeben, gemehrt. Wir können über den Umstand nachdenken, dass jeder von uns, um es mit Otto Ranks wunderbaren Worten zu sagen, »der zeitliche Repräsentant der kosmischen Urkraft«7 ist. Wir stammen alle von den allerersten lebenden Organismen ab und sind folglich mit diesen verwandt, ebenso mit jeder anderen erdbewohnenden Kreatur, die seither gelebt hat oder in Zukunft leben wird. Was für ein phantastisches Glück, am Leben zu sein und gleichzeitig darum zu wissen!
Weil wir Menschen wissen, dass wir existieren, wissen wir allerdings auch, dass wir eines Tages nicht mehr existieren werden. Der Tod kann uns jederzeit ereilen, wir können ihn weder vorhersagen noch steuern. Das ist eine entschieden unliebsame Nachricht. Auch wenn das Glück es will, dass wir den Angriffen giftiger Insekten und bissiger Wildtiere, Messern, Geschossen, Flugzeugabstürzen, Autounfällen, Krebserkrankungen und Erdbeben entkommen, wissen wir doch, dass wir nicht ewig weitermachen können.
Dieses Bewusstsein ist die Schattenseite menschlicher Intelligenz. Wenn Sie einen Augenblick...