Schützengräben im Zoo
Diese Zukunft, von der Lutz Heck gesprochen hat, das wird allmählich klar, wird es nicht geben. Einige Unbelehrbare, die noch an den Endsieg glauben, versuchen, die vorrückende Rote Armee vom Zoo-Bunker aus mit Flakgeschützen in Schach zu halten – der riesige Turm des Hochbunkers ist ein dankbares Ziel. Zahlreiche Geschosse, die auf ihn abgefeuert werden, explodieren im angrenzenden Zoo. Einige sowjetische Panzer haben sich bereits bis zu dessen Mauern durchgekämpft. Lutz Heck hat seine Frau und seine Söhne evakuieren lassen und in Richtung Westen geschickt. Auch Katharina Heinroth überlegt, sich und ihren Mann in Sicherheit zu bringen. Doch Oskar ist zu schwach, er kann nicht mehr laufen. Und selbst wenn er fliehen könnte, würde es ihm nicht in den Sinn kommen, den Zoo und vor allem sein Aquarium zu verlassen. Mehr als 30 Jahre lang hat er es geleitet, nun liegt es wie ausgehöhlt da. »Lass uns doch hierbleiben«, bittet er sie leise, »lieber möchte ich mit allem untergehen.«
In den letzten Apriltagen verläuft die Ostfront mitten durch den Zoo. Die verbliebenen Tierpfleger sind zum Volkssturm verdonnert worden und müssen auf dem Zoogelände Schützengräben ausheben. In den Gefechtspausen versorgen sie die wenigen Tiere, die noch am Leben sind.
Am späten Abend des 30. April 1945 deutet alles darauf hin, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Rote Armee den Zoo stürmen wird. Bevor es Gewissheit wird, setzt sich Lutz Heck ab. Er ahnt, was ihn erwartet; die Russen suchen ihn, weil er Tiere aus osteuropäischen Zoos beschlagnahmt haben soll. Zudem soll er eine Herde Wildpferde aus der Ukraine verschleppt haben.
Da es kaum noch intakte Fahrzeuge gibt, flieht Heck auf einem Fahrrad. Es gelingt ihm tatsächlich, aus dem belagerten Berlin herauszukommen und sich unbemerkt bis nach Leipzig durchzuschlagen. Sein Ziel ist der dortige Zoo und das Haus des Direktors Karl Max Schneider.
Schneider ist ziemlich verwundert, als er seine Tür öffnet und sieht, wer da vor seinem Haus steht. Ohne sich lange zu erklären, sagt Heck zu ihm: »Ich fordere Sie als Kollegen auf, mich eine Nacht bei sich aufzunehmen.«
Schneider, ein Mann von 58 Jahren, hat als Leutnant im Ersten Weltkrieg gedient und dabei seinen linken Unterschenkel verloren. Ein alter Sozialdemokrat, der erst 1938 auf Druck von oben in die NSDAP eingetreten ist. Mit skeptischem Blick mustert er den fünf Jahre jüngeren Heck von oben bis unten, greift dann langsam in seine Hosentasche und zieht einen Schlüsselbund heraus: »Hier ist der Schlüssel zu meiner Wohnung, aber ich werde die Nacht nicht mit Ihnen unter einem Dach verbringen. Wenn ich morgen um sechs Uhr wiederkomme, sind Sie weg.« Schneider geht fort, um bei Bekannten zu übernachten. Als er am nächsten Tag zurückkehrt, ist Heck verschwunden. Er wird es für längere Zeit bleiben.
Rings um den Berliner Zoo sind die Häuser zerbombt, Rauch liegt über der Stadt. Als das dumpfe Geräusch der Explosionen verstummt und der Qualm verzogen ist, sind auf dem Zoogelände nur noch Trümmer übrig. Wie stumme Wächter thronen zwei steinerne Elefanten am Eingang Budapester Straße. Das Portal ist zerstört, nur ein schmaler brüchiger First balanciert zwischen den beiden zerschossenen Säulen. Das Antilopenhaus, einst im maurischen Stil erbaut, ist nur mehr ein Schutthaufen, aus dem zwei Minarette und ein Schornstein herausragen. Die Maulwurfshügel sind schon lange verwaist. Ein junges Pferd sucht zwischen aufgeschütteten Ziegeln nach einem Hauch von Grün. Ein ausgemergelter Wolf blickt von seiner Freianlage hungrig herüber, zu schwach, um dem Pferd nachzujagen.
Nachdem sich Direktor Lutz Heck kurz vor dem drohenden Untergang abgesetzt hat, kümmert sich Katharina Heinroth im Luftschutzbunker des Zoos sowohl um ihren Mann, der mittlerweile im Sterben liegt, als auch um die übrigen verletzten Anwohner und Zooangestellten. Sie hat ein weißes Tuch mit einem roten Kreuz darauf an die Bunkertür gehängt und hofft, dass sie dadurch vor Kampfhandlungen verschont bleiben. Noch vom Krankenbett aus gibt Oskar ihr Anweisungen, wie sie Schusswunden behandeln und Verbände anlegen muss. Wenige Stunden später dringen die ersten Rotarmisten in den Zoo ein. Oskar Heinroth ist mit seinen Kräften am Ende und bittet seine Frau um einen letzten Gefallen. »Die Giftkapseln«, flüstert er, »hol sie mir bitte, ich will nicht mehr.« Doch die Kapseln befinden sich in einer Schublade in Oskars Arbeitszimmer in der zerstörten Wohnung. Wie soll sie da nun hingelangen? Überall wimmelt es von Soldaten, und außerdem will sie ihren Mann auf keinen Fall hier allein zurücklassen. Also versucht sie, ihn zu beruhigen: »Wir werden das schon irgendwie durchstehen«, sagt sie sanft zu ihm. Er seufzt nur enttäuscht.
Am nächsten Morgen treiben die Soldaten die Menschen aus dem Luftschutzkeller. Katharina Heinroth schleppt ihren schwerkranken Mann in einen ruhigen und trockenen Winkel im Untergeschoss des Aquariums. Doch auch hier bleiben sie nicht lange unbehelligt. Täglich ziehen wechselnde Trupps von Soldaten durch das zerstörte Gemäuer, auf der Suche nach Essbarem, Alkohol oder auch nur einer Gelegenheit, um den Deutschen zu zeigen, wer jetzt das Sagen hat. Männer, die nicht gehorchen, sich anbiedern oder versuchen, ihre Frauen zu beschützen, werden erschossen – die Frauen anschließend vergewaltigt. Mehrmals wechselt Heinroth mit ihrem Mann von einer Etage der Ruine in eine andere. Immer wieder werden sie aufgespürt. »Raboti, raboti!«, rufen die Soldaten, als sie Katharina Heinroth sehen; sie bekommt sofort zu spüren, dass es ihnen nicht ums Arbeiten geht. Die Männer halten sie fest und vergewaltigen sie.
Nach dem zweiten Mal schafft sie es endlich, ihren Mann aus dem Aquarium zu bringen. Da sie ihn kaum allein stützen kann, legt sie ihn in eine Schubkarre und macht sich auf die Suche nach einem Unterschlupf. Die meisten Keller in der Umgebung sind jedoch überfüllt, alle paar Tage müssen sie weiterziehen.
Erst nachdem die sowjetischen Truppen den Zoo verlassen haben, kehrt Katharina Heinroth dorthin zurück und richtet in ihrer alten Wohnung ein Zimmer notdürftig her. Dann holt sie ihren Mann mithilfe zweier Tierpfleger aus dem bisherigen Versteck zurück nach Hause.
Am 31. Mai 1945 stirbt Oskar Heinroth. Katharina Heinroth ist nun völlig auf sich allein gestellt. Aus zerbombten Türen lässt sie vom Zootischler einen Sarg zimmern und ihren Mann im Krematorium einäschern. Erst Wochen später, am 15. August, kann sie ihn auf dem Zoogelände beisetzen.
Irgendwie muss es dennoch weitergehen, und so erinnert sich Katharina Heinroth wieder an den Leitspruch ihres Breslauer Doktorvaters: »Tu was, dann wird dir besser.« Daran hat sie sich immer gehalten, und es hat ihr geholfen, über Schicksalsschläge und düstere Phasen in ihrem Leben hinwegzukommen. Mit der restlichen Belegschaft des Zoos macht sie sich daran, das Chaos zu beseitigen. Bei den Aufräumarbeiten finden sie 82 Leichen in den Trümmern und Gräben. Sie werden, wie die verendeten Tiere zuvor, in Massengräbern beerdigt.
Nur 91 Tiere haben den Krieg überlebt. Darunter sind ein Rentier, ein seltener Japanischer Schwarzschnabelstorch, ein Schuhschnabel – ein grau gefiederter, kranichgroßer Vogel aus den Nilsümpfen, dessen Schnabelform an einen Holzschuh erinnert – sowie der Elefantenbulle »Siam« und das junge Flusspferd »Knautschke«. In den letzten Kriegstagen haben Bomben das Außenbecken des Flusspferdhauses zerstört und seine Mutter dabei so schwer verletzt, dass sie verendet ist. Die Tierpfleger übergießen »Knautschke« mehrmals am Tag mit Wasser, damit seine Haut nicht austrocknet. Einige andere Tiere verschwinden bald darauf – mitgenommen und geschlachtet von hungrigen Berlinern. Die übrigen Tiere bekommen provisorische Gehege; der Schuhschnabel wird in einem der wenigen unbeschädigten Badezimmer des Zoos untergebracht. Mit der Giraffe »Rieke« aus Wien kehrt nur eines der während des Krieges evakuierten Tiere später nach Berlin zurück.
Nach Hecks Verschwinden ist der Zoo nun führungslos. Zuerst versucht der ehemalige Geschäftsdirektor Hans Ammon, die Leitung zu übernehmen, wird aber von einem früheren Chauffeur des Zoos als Parteimitglied enttarnt und vom Hof gejagt. Dieser Chauffeur wiederum hat sich von der sowjetischen Kommandantur als Leiter der Aufräumarbeiten einsetzen lassen und organisiert erst einmal 200 Trümmerfrauen. So kann der provisorisch hergerichtete Zoo bereits am 1. Juli 1945 wieder eröffnet werden. Einige Wochen später taucht jedoch ein weiterer Mann auf, ein ehemaliger Aushilfskellner des Zoorestaurants, der behauptet, mit der Führung des Zoos beauftragt worden zu sein. Da weder Telefon noch Post funktionieren, wissen die Besatzer nichts davon. Wochenlang schallen die Streitereien der beiden »Direktoren« durch den Zoo, die sich wie Gutsherren benehmen. Katharina Heinroth schicken sie zu den anderen Trümmerfrauen, allenfalls darf sie ein paar Gehegeschilder anfertigen.
Als die sowjetische Besatzungsmacht vom Führungschaos erfährt, beauftragt sie den neu gegründeten Großberliner Magistrat damit, endlich für klare Verhältnisse zu sorgen. Bald darauf erhält Katharina Heinroth vom Magistrat eine schriftliche Einladung, dass sie am 3. August ins Alte Stadthaus...