Einführung
Im Juni 1944 ergab sich ein junger Soldat aus Asien während der Invasion der Alliierten in der Normandie amerikanischen Fallschirmjägern. Die glaubten zuerst, er sei Japaner, tatsächlich aber stammte er aus Korea. Sein Name war Yang Kyungjong.
1938 hatten die Japaner ihn mit achtzehn Jahren zu ihrer Kwantung-Armee eingezogen, die in der Mandschurei stationiert war. Ein Jahr später nahm ihn die Rote Armee nach der Schlacht am Chalchin Gol gefangen und schickte ihn in ein Arbeitslager. Im kritischen Jahr 1942 reihten ihn die sowjetischen Militärbehörden wie Tausende andere Gefangene in ihre Streitkräfte ein. Anfang 1943 wurde er in der Schlacht bei Charkow in der Ukraine von der deutschen Wehrmacht gefangen genommen. Die steckte ihn in eine deutsche Uniform und schickte ihn 1944 mit einem Ostbataillon nach Frankreich, wo er offenbar auf der Halbinsel Cotentin an einem Ort, den die Alliierten »Utah Beach« nannten, den Atlantikwall verstärken helfen sollte. Nach einiger Zeit, die er in einem Gefangenenlager in Großbritannien zubrachte, gelangte er in die USA, wo er seine Vergangenheit für sich behielt. Er ließ sich in Illinois nieder, wo er 1992 verstarb.
In einem Krieg, der über 60 Millionen Menschen das Leben kostete und den ganzen Erdball erfasste, hatte dieser unfreiwillige Veteran der Armeen Japans, der Sowjetunion und Deutschlands ziemlich viel Glück. Und doch ist Yang Kyungjong geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie hilflos die meisten gewöhnlichen Sterblichen den übermächtigen Gewalten der Geschichte ausgeliefert waren.
Europa stolperte nicht in diesen Krieg am 1. September 1939. Gewisse Historiker sehen die »Urkatastrophe« im Ersten Weltkrieg und sprechen von einem »Dreißigjährigen Krieg« von 1914 bis 1945.1 Andere meinen, der »lange Krieg«, der mit dem Putsch der Bolschewiki 1917 begann, habe sich als »Europäischer Bürgerkrieg« bis 1945 fortgesetzt oder gar bis zum Untergang des Kommunismus im Jahre 1989 angehalten.2
Die Geschichte lässt sich jedoch nicht in solche Schemata pressen. Sir Michael Howard argumentiert überzeugend, Hitlers Angriffe gegen Frankreich und Großbritannien im Jahr 1940 seien in vieler Hinsicht eine Fortsetzung des Ersten Weltkriegs gewesen. Auch Gerhard Weinberg erklärt kategorisch, der Krieg, der 1939 mit Hitlers Einmarsch in Polen begann, sei als der Beginn seines Kampfes um das Hauptziel »Lebensraum« im Osten anzusehen. Das mag zutreffen, aber die Revolutionen und Bürgerkriege zwischen 1917 und 1939 haben das Bild kompliziert. So hat zum Beispiel die Linke stets leidenschaftlich die Auffassung vertreten, der Zweite Weltkrieg habe mit dem Spanischen Bürgerkrieg begonnen, während die Rechte behauptet, er sei der Auftakt zu einem Dritten Weltkrieg zwischen dem Kommunismus und der »westlichen Zivilisation« gewesen. Zugleich neigen westliche Historiker dazu, den Japanisch-Chinesischen Krieg von 1937 bis 1945 und dessen Verschmelzung mit dem Weltkrieg zu ignorieren. So mancher Geschichtswissenschaftler aus Asien meint hingegen, der Zweite Weltkrieg habe bereits mit der japanischen Besetzung der Mandschurei im Jahr 1931 begonnen.3
Über all das lässt sich trefflich streiten, denn der Zweite Weltkrieg stellt eindeutig ein ganzes Knäuel von Konflikten dar. Zumeist handelte es sich um solche zwischen einzelnen Staaten, die jedoch von der internationalen Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts durchdrungen und in vielen Fällen sogar dominiert wurden. Daher müssen einige der Umstände näher beleuchtet werden, die zu diesem grausamsten und verheerendsten Gemetzel seit Menschengedenken geführt haben.
Nach den schrecklichen Ereignissen des Ersten Weltkriegs waren Frankreich und Großbritannien, die Hauptsieger in Europa, erschöpft und fest entschlossen, etwas Ähnliches dürfe sich nicht wiederholen. Amerika suchte nach seinem wesentlichen Beitrag zum Sieg über das deutsche Kaiserreich einen möglichst großen Abstand zu der in seinen Augen korrupten, sündhaften Alten Welt zu gewinnen. Mitteleuropa, zerstückelt durch die neuen Grenzen von Versailles, hatte mit der Demütigung und dem Elend der Niederlage fertig zu werden. Die stolzen Offiziere der k.u.k. Armee Österreich-Ungarns, denen man den Schneid abgekauft hatte, mussten ihre Operettenuniformen gegen die abgetragene Kluft der Arbeitslosen eintauschen und fühlten sich als die Prügelknaben der Nation. Die Verbitterung der meisten deutschen Offiziere und Soldaten über die Niederlage verstärkte sich dadurch, dass ihre Armeen bis Juli 1918 nie geschlagen worden waren, was den plötzlichen Zusammenbruch im Land umso unerklärlicher und unheimlicher machte. Nach ihrer Auffassung gingen die Meutereien und Revolten in Deutschland vom Herbst 1918, die schließlich zur Abdankung des Kaisers führten, allein auf das Konto jüdischer Bolschewiken. In der Tat hatten linke Agitatoren dabei eine Rolle gespielt, und die bekanntesten Führer der deutschen Revolution von 1918/19 waren Juden. Aber die Hauptursachen der Unruhen waren Kriegsmüdigkeit und Hunger gewesen. Die böswillige Verschwörungstheorie der deutschen Rechten, die Dolchstoßlegende, war typisch für deren zwanghaften Drang, Ursache und Wirkung zu vertauschen.
Die Hyperinflation von 1922/23 untergrub die Selbstgewissheit und Rechtschaffenheit der deutschen Bourgeoisie. Die Verbitterung über die erlittene nationale und persönliche Schmach schürte dumpfe Wut. Deutsche Nationalisten träumten von dem Tag, da man die Schande des Versailler Diktats tilgen werde. In den 20er-Jahren wurde das Leben in Deutschland – vor allem aufgrund massiver amerikanischer Kredite – allmählich besser. Aber die Weltwirtschaftskrise, die mit dem Börsenkrach an der Wall Street von 1929 ausbrach, traf Deutschland noch härter, als Großbritannien und andere Staaten im September 1931 den Goldstandard aufgaben. Die Furcht vor einer weiteren Welle der Hyperinflation veranlasste die Regierung Brüning, die Bindung der Reichsmark an den Goldpreis aufrechtzuerhalten, was zu deren Überbewertung führte. Da die amerikanischen Kredite inzwischen ausgelaufen waren und der Protektionismus Deutschland von seinen Exportmärkten abschnitt, kam Massenarbeitslosigkeit auf. Damit stiegen die Chancen für Demagogen, die radikale Lösungen anboten.
Die Krise des Kapitalismus hatte den Niedergang der liberalen Demokratie beschleunigt, die in vielen Ländern Europas durch die Aufsplitterung der Wählerstimmen aufgrund des Verhältniswahlrechts an Wirkung verlor. Die meisten parlamentarischen Systeme, die nach dem Zusammenbruch der drei kontinentalen Großreiche im Jahr 1918 entstanden waren, wurden hinweggefegt, weil sie sich als unfähig erwiesen, mit den Konflikten in der Gesellschaft fertig zu werden. Ethnische Minderheiten, die im Rahmen der alten Imperien relativ friedlich zusammengelebt hatten, wurden nun durch Doktrinen von nationaler Reinheit bedroht.
Die noch frische Erinnerung an die Russische Revolution und die gewaltsamen Zerstörungen der Bürgerkriege in Ungarn, Finnland, den baltischen Ländern und auch in Deutschland selbst trieben den Prozess der politischen Polarisierung voran. Der Teufelskreis von Furcht und Hass drohte aufrührerische Rhetorik in selbsterfüllende Prophezeiungen münden zu lassen, wie die Entwicklung in Spanien bald zeigen sollte. Manichäische Alternativen können den auf Kompromissen beruhenden demokratischen Zusammenhalt einer Gesellschaft zerstören. In diesem neuen, von kollektivistischen Ideen geprägten Zeitalter hielten die Intellektuellen der Linken und der Rechten, aber auch verbitterte ehemalige Soldaten des Ersten Weltkriegs gewaltsame Lösungen für eine höchst heroische Alternative. Angesichts des finanziellen Desasters erschien der autoritäre Staat nun im größten Teil Europas als natürliche, zeitgemäße Ordnung, als eine Antwort auf das Chaos des politischen Lagerkampfes.
Im September 1930 sprang der Stimmenanteil der Nationalsozialistischen Partei in Deutschland von 2,5 auf 18,3 Prozent. Die konservative Rechte, die wenig von Demokratie hielt, zerstörte im Grunde genommen die Weimarer Republik und öffnete damit Hitler die Tür. In verhängnisvoller Unterschätzung von dessen Skrupellosigkeit glaubte sie, sie könne ihn als populistische Marionette nutzen, um ihre Vorstellung von Deutschland durchzusetzen. Aber im Unterschied zu ihr wusste Hitler genau, was er wollte. Als er am 30. Januar 1933 deutscher Reichskanzler wurde, ging er unverzüglich daran, jegliche potenzielle Opposition zu eliminieren.
Für die späteren Opfer war es tragisch, dass eine kritische Masse der deutschen Bevölkerung in ihrem Streben nach Ordnung und Respekt nur allzu bereit war, dem gewissenlosesten Verbrecher der Geschichte Gefolgschaft zu leisten. Hitler gelang es, deren niederste Instinkte – Feindseligkeit, Intoleranz und Arroganz – anzusprechen, vor allem aber das gefährliche Gefühl rassischer Überlegenheit. Jeder Rest rechtsstaatlichen Denkens wurde von Hitlers Auffassung hinweggefegt, das Rechtswesen habe der neuen Ordnung zu dienen. Öffentliche Institutionen wie Gerichte, Universitäten, Streitkräfte und die Presse katzbuckelten vor dem neuen Regime. Dessen Gegner jeglicher Couleur sahen sich hoffnungslos isoliert und als Verräter an der neuen Idee des Vaterlands gebrandmarkt – nicht nur durch das Regime selbst, sondern auch durch alle seine Gefolgsleute. Anders als Stalins NKWD blieb die Gestapo überraschend inaktiv. Die meisten Verhaftungen, die sie vornahm, erfolgten aufgrund von Denunziationen durch deutsche Mitbürger.4
Das Offizierskorps, das bisher so viel Wert auf seine Politikferne gelegt hatte,...