Spiel mehr Spiele
von Richard Garfield
In einem Paralleluniversum gibt es einen Richard Garfield, der Magic: The Gathering erfunden und sich dann auf seinen Lorbeeren ausgeruht hat. Das ist ein ziemlich seltsames Universum, denn der Richard Garfield, den ich in den letzten Jahrzehnten kennengelernt habe, hat vom Ausruhen keine Ahnung. Richard ist andauernd und auf professionelle Weise dabei, die Bestie namens Game Design zu piksen, um zu sehen, was sie aufbrüllen und was sie schnurren lässt. Ein wichtiges Element dabei ist der Wille, alles zu spielen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Hier schreibt er zum Thema Spielrecherche.
Leute, die Spiele entwickeln wollen, sollten Spiele spielen. Jede Menge davon.
Es gibt Designer, die nicht die Spiele anderer spielen, weil sie befürchten, dass deren Konzepte in ihre Designs einsickern. Sie glauben an Design im luftleeren Raum. Stell dir eine Welt vor, in der Steven Spielberg keine Filme gesehen hat, Stephen King nichts gelesen hat und Stephen Hawking von niemand anderem naturwissenschaftliche Erkenntnisse übernahm. Glaubst du, dass sie dadurch besser geworden wären? Ich glaube, in dieser Welt würden wir nicht mal ihre Namen kennen.
Isaac Newton sagte, dass er nur deshalb weiter sehen könne, weil er auf den Schultern von Riesen stünde, und tatsächlich gibt es keinen kulturellen Fortschritt im Vakuum – ob nun in der Kunst oder den Naturwissenschaften. Warum sollten Spiele anders sein?
Es mag ein paar erfolgreiche Designer geben, die bewusst äußere Einflüsse von sich fern halten, um nicht „kontaminiert“ zu werden. Ich glaube, wenn sie die wundervollen Traditionen der Spiele und die Werke ihrer Mitstreiter umarmen und darauf aufbauen würden, wären sie noch besser. Ihre Entscheidung stellt ihr persönliches Designtalent heraus, doch auf Kosten der Qualität ihrer Spiele.
„Gut“, sagst du. „Ich entwerfe Brettspiele, also werde ich Brettspiele spielen.“ Dazu sage ich: „Das reicht nicht!“ Du solltest Brettspiele, Kartenspiele, elektronische Spiele, Sportspiele, Arcade-Spiele, Rollenspiele, Miniaturenspiele, Strategiespiele, mathematische Spiele, Partyspiele, Puzzlespiele und Casinospiele spielen. Du solltest dir Gameshows, Sportereignisse und Spielmeisterschaften ansehen.
Gutes Design kann Ideen aus allen Spielen beziehen.
Um die Wichtigkeit sehr unterschiedlicher Spiele zu erkennen, reicht ein Blick auf die Rollenspiele. Der Großvater der Rollenspiele ist Dungeons & Dragons. Seine Entwickler, Gary Gygax und Dave Arneson, konnten keine Rollenspiele spielen – sie existierten nicht. Sie waren Konfliktsimulations- und Miniaturenspielenthusiasten und diese Wurzeln beeinflussen viele Rollenspiele. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele heutige Rollenspieler noch nie eine KoSim gespielt haben, geschweige denn das regelmäßig als Hobby betreiben. Die Wurzeln großartiger Spiele liegen oft an überraschenden Orten und manchmal so weit entfernt, dass Spieler zufällig nie dahinter kämen. Deine Spiele werden besser, wenn du Inspiration aus vielen unterschiedlichen Bereichen ziehen kannst.
Wenn du ein beliebtes Spiel nicht magst, finde heraus, warum andere Leute es mögen. Spiele mit diesen Leuten, beobachte sie und verstehe, dass sie nichts „falsch“ machen, wenn sie das Spiel mögen. Ein angenehmer Nebeneffekt, wenn du die Vorliebe für ein Spiel verstehst, ist, dass du es selbst schätzen und vielleicht sogar lieben lernst – was dein eigenes Leben bereichern wird.
Nimm zum Beispiel Monopoly, ein Spiel, das moderne Designer unglaublich gern hassen. Nach modernen Maßstäben ist daran so viel falsch, dass viele Designer seinen Erfolg einfach bloß Zufallseffekten der Geschichte zuschreiben. Ein paar der Beobachtungen, die du anstellen kannst, wenn du das Spiel mit Fans und einem offenen Geist spielst:
- Spieler mögen den Aufbauaspekt des Spiels. Monopoly war eins der ersten Spiele, die Spielern das Ansammeln und Vergrößern von Ressourcen erlaubten, was es interessant für Aufbauspieler macht.
- Spieler hängen sich stärker in Spiele, aus denen sie herausfliegen können. Wenn du nicht um Geld spielst, was sind deine Einsätze? Genau wie Geld Würze in ein Spiel bringt, tut es die Möglichkeit des vorzeitigen Ausscheidens. Modernes Spieldesign gewichtet Spielereliminierung so negativ, dass es die Vorzüge aus dem Blick verliert.
- Spieler sind an den Zügen der Mitspieler interessiert. In vielen Würfeln-und-Ziehen-Spielen passiert das einzig Interessante im eigenen Zug. Beim Spiel mit drei anderen Spielern ist also nur 25% der Spielzeit interessant. In Monopoly passieren die besten Dinge in den Zügen der anderen.
Lektionen wie diese stecken in allen beliebten Spielen, sogar in denen, die wir nicht mögen oder für „schlecht“ halten. Benutze die Erklärung „Die Spieler wissen’s nicht besser“ so selten wie möglich.
Auch unbeliebte Spiele eignen sich, um von ihnen zu lernen – warum mögen Liebhaber dieser Spiele sie trotz der Eigenschaften, die sie für andere unpopulär machen? Kannst du die guten Eigenschaften in dein Design übernehmen und die Dinge, die andere Spieler vertrieben haben, weglassen?
Eins meiner liebsten Spiele, Titan, mag in diese Kategorie fallen. Warum hat das Spiel Fans, obwohl die Spieldauer unvorhersehbar, meist aber sehr lange ist, man ausscheiden kann und Spieler oftmals eine halbe Stunde oder länger gar nichts zu tun haben? Das Gefühl, etwas individuell Verschiedenes aufzubauen, ist stark bei Titan – das könnte ein Grund sein. Aber meine liebste Eigenschaft des Spieles ist, dass es eine starke Interaktionskomponente gibt, ohne dass es auf „alle gegen den Sieger“ hinausläuft. Die meisten modernen Designs haben entweder weniger Interaktion oder sind wesentlich politischer in der Frage, wie Spieler entscheiden und mit wem sie in Konflikt treten. Vielleicht sind auch einige der negativen Charakteristika, wie das Ausscheiden von Spielern, nicht so schlecht, wie man glaubt.
Ab welchem Punkt solltest du dir Sorgen machen, dass du zu nah an einem anderen Design dran bist? Das ist oft eine schwere Frage, aber wenn die Spieler tatsächlich etwas aus deinem Spiel mitnehmen können, das nicht im anderen zu finden ist, bist du wahrscheinlich auf der sicheren Seite. Wenn du dir ein beliebiges Design anschaust, wirkt es so, als wäre kein Einzelteil daran originell, aber das bedeutet nicht, dass alle Designs kopiert sind. Eine Mahlzeit ist mehr als ihre Bestandteile. Ein Musikstück ist mehr als eine Ansammlung von Noten. Wichtig ist die Art, wie ein Entwickler ganzheitlich Designelemente kombiniert.
Anfängerdesigner übertreiben es tatsächlich oft mit den Innovationen. Eines der wunderbarsten Dinge bei Spielen ist, wie viel diese einem Spieler geben können – ein gutes Spiel kann ein Leben lang Vergnügen bereiten. Aber neue Spiele sind auch schwer zu lernen, was es in Kombination schwierig macht, Leute dazu zu bringen, neue Spiele auszuprobieren. Etwas Innovation ist sicher hilfreich – das erweckt das Interesse der Spieler – aber zu viel macht ein Spiel schwer zu erlernen. Jeder ungewöhnliche Baustein, jede Abweichung vom Standard ist nicht nur eine Möglichkeit, Interesse zu wecken, sondern auch eine Möglichkeit, zu verwirren und damit eine Einstiegshürde zu schaffen. Ein Designer sollte die Verantwortung dafür übernehmen, dass jede wichtige Abweichung von der Norm die Zeit des Spielers, die er zum Lernen braucht, auch wert ist. Wenn ein Designer diese Norm nicht kennt, kann er auch nicht bestimmen, wie weit er von ihr abweicht und ob die Abweichung lohnenswert ist.
Großartige Spiele werden oftmals als viel innovativer eingeschätzt, als sie es sind. Betrachte die Reputation einer Firma wie Blizzard. Blizzard macht ausgezeichnete Spiele, aber die Firma perfektioniert eher schon Vorhandenes, als Innovation um jeden Preis zu betreiben. Starcraft und World of Warcraft werden von einer großen Fangemeinde geschätzt, aber sie sind kaum so innovativ wie das erste Echtzeitstrategiespiel (Dune 2) oder wie frühere graphische MMORPGs wie Ultima Online oder Everquest.
Als Designer solltest du deine Einflüsse verstehen und auch als Quelle nennen, wie ich finde. Sie zu verstehen macht dich zu einem besseren Designer und sie zu nennen verbessert die Designerszene auf mehrere Arten. Designer, die ihre eigenen Fähigkeiten verbessern wollen, verstehen mehr und suchen nach ihren eigenen Inspirationen. Entwickler, die keinen Erfolg mit ihrem Design als Ganzem hatten, bekommen zumindest die Anerkennung unter Kollegen für einige ihrer Ideen. Zudem schaffen diese Verbindungen die Bausteine, aus denen wir ein historisches Verständnis für Spiele aufbauen können. Spiele vor 1900 sind notorisch schlecht dokumentiert – und selbst heute befinden wir uns nicht mal in der Nähe der Dokumentations- und Kritiklandschaft, die zum Beispiel Literatur oder Musik hat. Deine Einflüsse zu verstehen und zu teilen, ist vermutlich die größte Hilfe, die du beisteuern kannst, wenn du nicht gerade ein Spielehistoriker für uns werden möchtest.
Ein Beispiel, wie sich diese Einflüsse auswirken können, kann man an meinem Spiel King of Tokyo sehen. Das Spiel baut auf den Mechaniken von Kniffel auf. Ich dachte an Kniffel, weil ich das Catan-Würfelspiel gespielt habe und beeindruckt von der Spielumgebung war, die Klaus Teuber hier aufbaute. Ich glaube nicht, dass ich direkt vom Catan-Würfelspiel beeinflusst wurde, aber ohne es wäre ich vielleicht nie zu Kniffel zurückgekehrt und hätte mich nie gefragt, wie man dieses Spiel interaktiver machen könnte. Die Stimmung in King of Tokyo ist inspiriert vom Brettspiel The Creature That Ate Sheboygan...