Wozu führt es, wenn Coolness der Traurigkeit den Rang abläuft?
Ein Gespräch mit Arnold Retzer
Arnold Retzer
Priv.-Doz. Dr. med. Dipl.-Psych., Gründer und Leiter des Systemischen Instituts Heidelberg (SIH), Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Privatdozent für Psychotherapie an der Universität Heidelberg, Lehrtherapeut, Supervisor und lehrender Coach.
Foto: Süleyman Kayaalp
Bücher:
- Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012.
- Lob der Vernunftehe. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2009.
- Systemische Paartherapie. Stuttgart: Klett-Cotta, 2004.
- Passagen: Systemische Erkundungen. Stuttgart: Klett-Cotta, 2002.
AS: Wie würden Sie Traurigkeit von Melancholie, Trauer und Depression unterscheiden?
AR: Das ist nicht einfach. Was ich deutlich unterscheiden kann, ist Depres sion auf der einen, Trauer und Traurigkeit auf der anderen Seite. Das sind für mich, populär ausgedrückt, zwei verschiedene Gläser Bier, die nichts miteinander zu tun haben. Depression heißt für mich gerade die Abwesenheit oder besser die Vermeidung von Trauer. Trauer oder Traurigkeit ist Depres sions-Prophylaxe oder, wenn man so will, die Therapie der Depression. Von daher gibt es da eine klare Unterscheidung.
Die Unterscheidung zwischen Trauer und Traurigkeit fällt mir schwer. Wenn ich danach frage, welche Bedingungen gegeben sein müssen, um ein bestimmtes Gefühl, einen bestimmten Gefühlszustand zu produzieren, dann sehe ich bei der Trauer und der Traurigkeit eigentlich die gleichen Bedingungen. In beiden Fällen wird eine Erwartung enttäuscht.
AS: In meinem Verständnis beklagt man in der Trauer einen bestimmten Verlust. Der ist benennbar. Bei der Traurigkeit ist es hingegen so, dass man oft gar nicht so genau weiß, warum man traurig geworden ist.
AR: Das kann bei der Trauer genauso sein. Metaphorisch ausgedrückt muss man erst die Leichenschau vorgenommen haben, um sich selbst davon überzeugen zu können, dass etwas unwiederbringlich verloren gegangen ist. Es ist nicht leicht, sich der Realität der Leichenschau zu stellen. Ich glaube nicht, dass der Unterschied daran festzumachen ist, dass man bei der Trauer weiß, warum man trauert, und in der Traurigkeit nicht. Beides vermittelt nicht unmittelbar die Erkenntnis, worum es genau geht.
AS: Sehen Sie denn keinen Unterschied, wenn jemand zu Ihnen sagt: „Ich trauere” oder: „Ich bin traurig”?
AR: Ich bin sehr skeptisch in Bezug auf eine objektive Beschreibung innerer Zustände von außen. Ich würde mich eher erkundigen, welche Bedeutung, möglicherweise auch, welches Erleben der Betreffende mit den Begriffen Trauer oder Traurigkeit verbindet, wie er seinen Zustand beschreibt oder erklärt, wie er diese Begriffe gebraucht.
AS: Allgemein scheint es mir aber so, dass Trauer gesellschaftlich akzeptiert ist und daneben die Traurigkeit eher ein Schattendasein fristet. Einer meiner Gesprächspartner zur Traurigkeit meint auf diesem Hintergrund, dass man für die Traurigkeit geradezu ein gutes Wort einlegen müsse. Können Sie nachvollziehen, was er damit meint?
AR: Er meint wohl, dass die Traurigkeit im Moment eher stiefmütterlich behandelt wird und man sich für ihr Existenzrecht einsetzen sollte. Ich kann das gut verstehen, aber ich teile seine Ansicht nicht.
AS: Warum nicht?
AR: Die Traurigkeit hat es nicht nötig, verteidigt zu werden, oder gar, dass man um ihr Existenzrecht kämpft. Sie ist einfach da, unabhängig davon, ob man sie verteidigt oder nicht. Es stellen sich doch vielmehr solche Fragen: Wie wird die Traurigkeit bewertet? Was für ein Ansehen hat sie? Welche Bedeutung gibt man der Traurigkeit? Solange Menschen leben, können sie es nicht vermeiden, traurig zu sein oder Trauer zu empfinden.
AS: In Ihrem Buch Miese Stimmung wenden Sie sich anhand vieler Beispiele gegen die Daueroptimierung von Körper und Geist, die Sie heutzutage kon statieren. Sagen Sie nun, dass es darauf ankommt, wie wir die Traurigkeit bewerten, dann zeigen Ihre Beobachtungen, dass sie aktuell keinen guten Stand hat. Der Erfolg und Applaus gehört den Menschen, die permanent Zuversicht und Optimismus ausstrahlen. Menschen, die ihrer Traurigkeit Ausdruck geben, geraten in einer solchen Umgebung meist unter die Räder. Traurigkeit hat eine schlechte Presse.
AR: Ja, das sehe ich so.
AS: Gestehen wir uns dann auf diesem Hintergrund die Traurigkeit viel weniger zu, weil sich vielleicht gleich die Angst beimischt: „O Gott, ich funktioniere nicht so, wie ich eigentlich sollte“?
AR: Genau. Das passiert häufig dann, wenn wir Scham oder Schuld empfinden – vorausgesetzt, dass uns andere dabei erwischen, wie wir Traurigkeit kommunizieren oder öffentlich machen. Die Traurigkeit ist aber so oder so vorhanden. Ihr schlechter Ruf hat jedoch zur Folge, dass man sich vorsehen muss, den traurigen Zustand sozusagen kundzutun und zu riskieren, dass andere einen dabei sehen. Man muss dann darauf achten, sich beim Traurigsein nicht erwischen zu lassen.
AS: Was macht es denn mit einem, wenn man seine Traurigkeit immerzu verbergen muss?
AR: Man wird noch trauriger.
AS: Sie sagten vorhin, dass empfundene Traurigkeit und Trauer einen daran hindern, depressiv zu werden. Wie haben Sie das genau gemeint?
AR: Zugespitzt formuliert würde ich sagen: Der Depressive hofft noch, dass sich eine Erwartung, die er hat, auch erfüllt und so bestätigt, dass noch nicht alles verloren ist. Die Trauer des Trauernden ist dagegen ein Eingeständnis, dass etwas unwiederbringlich verloren ist. Die Leiche ist die Realität, und die zu akzeptieren ist das Eingeständnis, dass Weiterleben nicht stattfindet. Anders formuliert heißt das, dass der Trauernde den toten Gaul akzeptieren muss und ihm nichts anderes übrig bleibt als abzusteigen. Beides gehört zur Trauer: die Erkenntnis und das Absteigen. Der Depressive aber reitet den toten Gaul weiter und hofft, dass durch das Reiten von toten Gäulen eine Reanimation derselben stattfindet.
AS: So gesehen rutschen die Menschen in eine Depression, die sich falschen Hoffnungen hingeben. Was geschieht mit den Traurigen und den Trauernden?
AR: Die geben die Hoffnung auf, haben in Bezug auf die enttäuschten Erwartungen keine Hoffnung mehr. Hoffnungslosigkeit ist eine ungeheuer hilfreiche und gleichzeitig eine der unterschätztesten Ressourcen für ein gelingendes Leben.
AS: Das ist eine wirklich spezielle Sicht. Sind wir nicht angehalten, die Hoffnung niemals aufzugeben?
AR: Ja, aber mit welchen möglichen Folgen? Die Hoffnung ermöglicht oder nötigt uns dazu, mit Vollgas an die Wand zu fahren. Im Kasino erfahren wir, wie es ist und wie es funktioniert, dass sich der Spieler bankrott hofft. Denn die Hoffnung hat die fatale Eigenschaft, immer dann, wenn sie enttäuscht wird, noch mehr Hoffnung zu generieren. Der Verbrauch von Hoffnung steigert sie geradezu. Damit erhöht sich gleichzeitig die von der Hoffnung angetriebene Geschwindigkeit, weiter dem Abgrund oder der Wand entgegenzufahren.
AS: Das wäre eine plausible Erklärung dafür, warum heutzutage so viele Menschen eine Depressionsdiagnose bekommen.
AR: Absolut. Wir sind ständig und überall aufgefordert, dauergrinsend und hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen. „Yes we can – wir schaffen das.” Was dabei unter den Tisch fällt und eigentlich auch verboten ist, habe ich als resi gnative Reife bezeichnet. Damit meine ich das Abdanken von Hoffnung und von Vorstellungen, die sich als untauglich, schädlich oder überlebt erwiesen haben. Das heißt, dass man der Leiche ins Auge schauen muss, um sich davon zu überzeugen, dass da nichts mehr wird. So lassen sich der Trauerprozess oder die Traurigkeit anregen.
Worum trauert man? Man trauert immer um sich selbst, also um eine bestimmte eigene Vorstellung, die man von sich, von anderen oder von der Welt hat. Wir trauern nicht um Personen, sondern wir trauern um unsere Erwartungen und Vorstellungen, die wir mit bestimmten Personen verbinden. Sterben Vater oder Mutter, dann trauert man eigentlich nicht um Vater oder Mutter, sondern um die eigene Rolle als Kind und um nicht mehr realisierbare Erwartungen. Die Erwartung, dass Vater und Mutter auf Ewigkeit bei mir sind, die hat sich nicht bestätigt.
AS: In unseren Gefühlen und Gedanken sind wir bekanntlich nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Wertungen, die sie begleiten. Bei uns ist die gute Stimmung die richtige, und alles Niedergedrückte und Gedämpfte wirkt schnell einmal falsch. Das prägt doch unseren Umgang mit diesen ungeliebten Gefühlen.
AR: Und das bedeutet, dass die miese Stimmung im Zusammenhang mit Traurigkeit und Trauer denunziert wird: Da ist jemand affektiv nicht auf der Höhe, er fühlt falsch, pathologisch, er ist ein Spielverderber oder was auch immer. Insofern verstehe ich das Anliegen, ein gutes Wort für die Traurigkeit einlegen zu wollen. Die Denunziation dieses affektiven Zustandes ist weit verbreitet. Die unvermeidlichen Empfindungen von Trauer und Traurigkeit sind eingewoben in eine gesellschaftliche Entwertung.
AS: Um zu verstehen, warum diese überschatteten Gefühle so denunziert werden, weisen Sie unter anderem auf die Besonderheiten unserer heutigen Erfolgsgesellschaft hin. Erfolg wird nicht mehr per se an Leistung geknüpft. Heute können Personen, die sich entsprechend in der Öffentlichkeit produzieren und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, hochgradig erfolgreich sein. Dafür müssen sie...