I. Einleitung
Hubertus von Morr1: „Ich habe bei der Tagung, die wir an der Universität Luxemburg hatten, gesagt, dass ich den Eindruck habe, dass das Deutsche hier in Luxemburg zurückgeht. Daraufhin hat mir Charles Berg in seinem Beitrag geantwortet und das fand ich sehr prägend:
„Das Deutsche in Luxemburg ist wie ein Eisberg. Der größte Teil ist unter Wasser.“
Das fand ich sehr gut. Das können Sie in der Arbeit verwenden. Das ist eine sehr geistreiche Bemerkung. […] Ja, es ist mehr da, als der oberflächliche Besucher so glaubt. Wenn hier die Busse ankommen und die Touristen gehen in die Stadt, dann treffen die da erst mal auf Französisch. Das nehmen die nicht wahr. Also das scheint mir die Lage sehr gut zu beschreiben. Ich habe ihm dann geantwortet, dass im Zeichen des Klimawandels Eisberge schmelzen.“ [lacht]
F.S.: „Daran habe ich jetzt auch gedacht.“
Die Eisberg-Metapher vereint zwei Aspekte, die die vorliegende Arbeit von Anfang an begleiteten: die vielfach unsichtbare Stellung der deutschen Sprache in Luxemburg und der oft geäußerte Eindruck, dass ihre Bedeutung im Land abnehme.
Aus Sicht der Gesetzgebung ist Luxemburg heute ein dreisprachiges Land. Am 24. Februar 1984 wurde in der loi sur le régime des langues festgeschrieben, dass das Lëtzebuergesche die Nationalsprache der Luxemburger ist. Die Sprache, die im Bewusstsein ihrer Sprecher längst National- und Muttersprache war, wurde damit auch offiziell über die beiden anderen Landessprachen erhoben. In Artikel II. des Gesetzes wurde die französische Sprache zur rechtsetzenden Sprache erklärt. Erst der dritte Artikel erwähnte ein Vorkommen der deutschen Sprache in Luxemburg. Es wurde vermerkt, dass Französisch, Deutsch und Luxemburgisch als Verwaltungs- und Gerichtssprachen im Land zugelassen sind. Der kommunikative Wert, welcher die deutsche Sprache hat, wurde damit anerkannt – mehr aber auch nicht (Kapitel VIII).
Gilles (2009: 197) konstatierte, dass es sich als besonders schwer gestalte die Rolle des Deutschen im Ensemble der luxemburgischen Mehrsprachigkeit zu erfassen. Jene Unsichtbarkeit, die das Vorkommen der deutschen Sprache in Luxemburg kennzeichnet, ist nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges politisch so gewollt. Die Zwangsangliederung des Landes an das Deutsche Reich und die damit verbundene Zwangsgermanisierung haben das Verhältnis zur Sprache nachhaltig verändert. In der politischen Außendarstellung nutzt Luxemburg seither weitestgehend die französische Sprache. Innerhalb der Bevölkerung werden die sprachgenealogischen Verbindungen zwischen der luxemburgischen und der deutschen Sprache gedanklich gelockert. Dass die Luxemburger die eigene Mundart einst als Onst Däitsch (Unser Deutsch) bezeichneten, wird aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen (Kapitel II, VIII). So erfüllt die deutsche Sprache seither vor allem rezeptive Funktionen im Land. Sie gilt als beliebte Mediensprache, ist die Alphabetisierungssprache in der öffentlichen Grundschule und eine der Bildungssprachen (Kapitel V, IX, X).
Die Aufgaben, die alle drei Landessprachen übernehmen, wurden nach dem Krieg neu geordnet. Wissenschaftliche Arbeiten, die versucht haben diese mehrsprachige Situation zu erklären, vor allem Hoffmann (1979) und Berg (1993), haben zumeist bei der domänenspezifischen Verteilung der Sprachen angesetzt, indem sie, vor dem Hintergrund des soziolinguistischen Diglossie-Konzeptes und der Kategorie der Domäne, darlegten, in welchem Bereich der Gesellschaft welche Sprache (Deutsch, Französisch oder Luxemburgisch) vorwiegend verwendet werde (Kapitel II). Beide Forschungsarbeiten beschränkten sich jedoch auf die Beschreibung des Sprachverhaltens der gebürtigen Luxemburger. Diese forschungspraktische Eingrenzung der Untersuchungsgruppe sollte eine Analyse der Sprachensituation in Luxemburg gegenwärtig nicht mehr vornehmen. Die hier vorgenommene Analyse zur Sprachensituation in Luxemburg wendet sich aus gutem Grund dezidiert von einer solchen Eingrenzung ab. Im Land leben mittlerweile 172 Nationalitäten (vgl. Statec 2014a). Der Zuwandereranteil liegt bei 45,9 % (vgl. Statec 2015: 10). Tagsüber bevölkern zusätzliche 168700 Grenzpendler aus dem deutschen, französischen und belgischen Sprachraum den 563000-Einwohner-Staat (vgl. ebd. 10; 13). Sie alle kommunizieren im Land in einer oder mehreren Sprachen. Ihr Wissen über den domänenadäquaten Sprachgebrauch und ihr Sprachverhalten sind je nach Sprachbiographie und Dauer ihres Aufenthalts verschieden ausgeprägt. Es gibt Zuwanderer und Grenzgänger, die alle drei Landessprachen erwerben und diese situations-/domänenadäquat einsetzen, andere die nur eine der drei ausbauen, in ihrer Herkunftssprache oder einer anderen Fremdsprache den Alltag in Luxemburg bestreiten. Die demographische Entwicklung hat die Position der französischen Sprache im Land gestärkt, denn ein Großteil der Zuwanderer entscheidet sich, aufgrund einer romanischen Erstsprache, dafür, die französische Sprache in Luxemburg zu verwenden. Statistiken zufolge ist sie die am meisten gesprochene Sprache im Land (vgl. Fehlen 2013a: 63). Als Integrationssprache, die das Potenzial hat die Gesellschaft zusammenzuhalten, wird allerdings mehrheitlich die luxemburgische Sprache geschätzt (Kapitel VI). Ein zunehmendes Interesse am Erwerb des Luxemburgischen als Fremdsprache und ihr Einsatz in Domänen, die ehedem der französischen und der deutschen Sprache vorbehalten waren, lassen vermehrt den Eindruck aufkommen, als ‚schmelze’ die Bedeutung der deutschen Sprache langsam dahin. Es wird mitunter angenommen, dass ihre Funktionen zunehmend von den beiden anderen Sprachen übernommen werden.
Die Arbeit setzt sich zum Ziel, das Sprachverhalten in ausgewählten Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens darzulegen und herauszufinden, welche Position die einzelnen Sprachen jeweils einnehmen. Die traditionelle Aufgabenverteilung an die drei Landessprachen ist im Begriff sich zu verändern. Die Arbeit wird deshalb von der Forschungsfrage geleitet, wie die dominierende, luxemburgische, Sprachgruppe auf die Hinfälligkeit ihrer Sprachverhaltensmuster reagiert und inwieweit sie sich von diesen löst bzw. zu lösen beginnt. Das von der luxemburgischen Sprachgruppe erworbene Sprachwissen und Sprachverhalten wird im theoretischen Teil der Arbeit mit dem Begriff des Mentalitätenwissens umrissen (Kapitel III).
Bislang liegt noch keine Monographie vor, die sich dezidiert der deutschen Sprache in Luxemburg zuwendet. Es existieren einzig wissenschaftliche Aufsätze, u.a. von Ammon (2015: 224–232), Kühn (2005, 2010), Newton (1987), Schmitz (2009) und Sieburg (u.a. 2009, 2012, 2013), die sich der Thematik ausschnitthaft widmen. Eine eigenständige und dringend erforderliche Untersuchung muss die Bewertungen, die über die deutsche Sprache kursieren, die Funktionen und Positionen, die diese in Luxemburg einnimmt, stets im Kontext der Mehrsprachigkeit betrachten. Eine Arbeit über die deutsche Sprache in Luxemburg ist zugleich eine Untersuchung über den Stellenwert der französischen, der luxemburgischen, der portugiesischen und der anderen Sprachen, die im Land gebraucht werden.
Die Arbeit versteht sich als diskursanalytische Untersuchung. Sie re-konstituiert ein Formationssystem, das als Diskurs über die deutsche Sprache in Luxemburg definiert werden kann und sich auf den Zeitraum von 1983 bis 2015 konzentriert. Der Diskursbegriff nach Foucault, wie er in der Linguistik verwendet wird, ist geeignet, um die Ansammlung von Sprachwissen in der Gesellschaft und eine sich zugleich zeigende Sprachpraxis zu untersuchen. Die Fragestellung der Arbeit erforderte die Zusammenstellung eines umfangreichen Untersuchungskorpus, das Einblicke in die verschiedenen Teilbereiche der Gesellschaft eröffnet. Es setzt sich aus einem Pressekorpus, aus von mir geführten Gesprächen mit Experten aus der luxemburgischen Öffentlichkeit, aber auch aus Statistiken, Schreibproben von Schülern, administrativen Schreiben, Buchbestsellerlisten, Werbeanzeigen und vielen weiteren „Zeichen des Flusses von Wissen durch die Zeit“ (Jäger/Jäger 2007; Jäger 2012) zusammen, die in Kapitel IV, mit der methodischen Verfahrensweise der Arbeit, ausführlich dargelegt werden.
Ein Blick auf die Gliederung deutet an, dass sich der empirische Teil der Arbeit, der die Kapitel V bis XI umfasst, in verschiedene Themenbereiche aufteilt, die oft, aber nicht immer, mit der soziolinguistischen Kategorie der (Gesellschafts-)Domäne oder der soziologischen Kategorie des sozialen Feldes2 übereinstimmen. Kapitel V behandelt den Bildungsdiskurs in Luxemburg. Die Schule ist der Ort, an dem alle Gesellschafts- und Sprachgruppen des Landes aufeinandertreffen und zugleich ein Ort, an dem die deutsche Sprache eine bedeutende Stellung einnimmt. Der Stellenwert der Schulsprache ‚Deutsch’ und die Didaktik des Deutschunterrichts in Luxemburg werden in...