Wie in den vorherigen Kapiteln bereits beschrieben wurde, besteht die Möglichkeit Twitter als politisches Kommunikationsmittel von reziproker Natur zu instrumentalisieren. Durch das interaktive Potential können Politiker dadurch mit Bürgern, Journalisten oder auch anderen politischen Akteuren öffentlich kommunizieren. Wie aber nutzen Politiker in Deutschland den Microblogging-Dienst bisher? Dieses Kapitel wird den Stand der Forschung zusammentragen und aufgrund der besseren Vergleichbarkeit zwischen der Nutzung Twitters im politischen Alltag und der Nutzung zu Wahlkampfzeiten unterscheiden. Dabei können Studien viele verschiedene Aspekte umfassen, die zusammengefasst dargestellt sind:
Die inhaltsanalytische Untersuchung von Partei- und Politiker-Angeboten im WWW sowohl in wissenschaftlichen Studien als auch durch verschiedene politikbezogene Organisationen (z.B. politik-digital.de) hat eine vergleichsweise lange Tradition. Zu den zentralen Bewertungskriterien solcher Webangebote zählen in der Regel die Aktualität und Vielfalt der Inhalte (Person, Programm, Service etc.), die Interaktivität sowie Usability-Kriterien wie Lesbarkeit der Texte, Visualisierung und Navigationsstruktur. Auch die Art der Selbstdarstellung, aus welcher Rückschlüsse auf die Kommunikationsmotive von Politikern gezogen werden können, wurde untersucht (Emmer/Bräuer 2010: 321)
Andreas Jungherr differenziert unterschiedliche Nutzungsarten von Twitter im politischen Kontext und stellt diese als Idealtypen dar: Twittern als Lifecasting beschreibt das Veröffentlichen von Kurznachrichten über Beschäftigungen des täglichen Lebens, beispielsweise einer Geburtstagsfeier oder das Ausführen des eigenen Hundes. Es handelt sich dabei um Statusmeldungen an einen „virtuellen Wahlkreis“ (Jungherr 2009: 18), dessen kommunikativer Erfolg für eine größere Bürgernähe aber angezweifelt wird, da die Grenze zwischen politischer Inszenierung und Abbilden der Realität ohne Intention fließend ist. Berichten Politiker oder politische Institutionen über arbeitsbezogene Entwicklungen oder Ereignisse, die beispielsweise durch eine Verlinkung auf einen Zeitungsartikel ergänzt werden, spricht Jungherr vom Mindcasting. Twitter kann darüber hinaus zum Community Building genutzt werden, wenn Follower von einer interessierten Gruppe zu aktiven Unterstützern der Politik transformiert werden sollen. Auch als Quelle für aktives Crowdsourcing kann der Kurznachrichten instrumentalisiert werden, wenn die Anhängerschaft eines twitternden Politikers mobilisiert wird an Veranstaltungen teilzunehmen, sich konkret im Wahlkampf zu engagieren oder an Umfragen teilzunehmen. Diese „Schnittstelle zwischen Online-Kommuniktion und kollektiver Handlung“ (ebd.: 19) beschreibt eine der zentralen Funktionen von Social-Media-Auftritten von Politikern: das Aktivieren von für den politischen Erfolg notwendigen Offline-Aktivitäten durch beispielsweise Twitter (vgl. ebd.: 17ff.).
Auch Siri und Seßler unterscheiden die Twitternutzung, in diesem Fall die Twitternutzung deutscher Bundestagsmitglieder im politischen Alltag durch einen Methodenmix aus deskriptiv-statistischen sowie qualitativ-interpretativen Verfahren. Vier Idealtypen konnten sie dabei in der qualitativen Studie identifizieren: Zum einen veröffentlichen die Politiker „strictly to the role“ nur Kurznachrichten, die ihr Amt als gewählter Repräsentant in den Mittelpunkt stellen. Die Tweets, die inhaltlich einer sehr kurzen Variante von Pressemitteilungen entsprechen, werden sehr förmlich verfasst. Beispiele für Themen sind Ankündigungen für Termine, Informationen über Wahlen oder aktuelle politische Debatten. Die Tweets weise keinen individuellen Stil auf und könnten somit auch von anderen Fraktionsmitgliedern verfasst worden sein. Die zweite Gruppe „Twittern zur Prozesstransparenz“ beschreibt die Instrumentalisierung Twitters für „eine Art Liveberichterstattung aus dem Politikeralltag“ (Siri/Seßler 2013: 35) mit To-Do-Listen, Terminkalendern oder Ähnlichem. Einen Blick in das private Umfeld erlauben die Politiker der Gruppe „unverfänglich menschlich“. Aktuelle Themen, die eine breite Bevölkerungsschicht interessieren, werden angesprochen und für den Beginn von Diskussionen genutzt. Ganz ohne Distanz zwischen dem twitternden Politiker und dem Follower besteht in der Gruppe „publicly private“. Diese Abgeordneten veröffentlichen selbst privateste Momente und geben Auskunft über Gefühle und Stimmungen (vgl. Sir/Seßler 2013: 28ff.). Diese beiden zuletzt erwähnten Typen können durchaus mit Jungherrs Gruppe der Lifecasting-Politiker verglichen werden.[13]
Neben dem politischen Alltag stehen vor allem der Wahlkampf und dessen Beziehung zur politischen Online-Kommunikation im Mittelpunkt aktueller Forschung. Dabei wurden bisher vor allem die digitalen Aktivitäten der relevanten Parteien oder aussichtsreichsten Spitzenkandidaten mittels quantitativen Daten oder Befragungen untersucht, dessen Ursprung oftmals konkrete Kampagnen vor einem Wahltermin waren, was generelle Aussagen über Wahlkämpfe deutlich erschwert. Das große Interesse an der Forschung mit Wahlkämpfen liegt begründet in der Relevanz dieser „Kommunikationsereignisse, in denen sich die Interaktion zwischen Parteien und Wahlern verdichtet“ (Klingemann/Voltmer 1998: 396). Die in diesem Kapitel vorgestellten Studien weisen mehr oder weniger eine gewisse Kongruenz mit dem Forschungsvorhaben der vorliegenden Masterarbeit auf. Aufgrund des wachsenden Interesses an diesem Thema hätten noch viele weitere Ergebnisse anderer Studien vorgestellt werden können. Um eine Vergleichbarkeit mit der hier relevanten Forschungsfrage herzustellen, wurden nur ähnliche Studien selektiert[14].
Thimm et al. identifizieren funktionale Twitterstrategien und isolieren vier unterschiedliche Strategietypen auf Basis von zwei Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg. Zum einen kann Twitter zur Veranstaltungswerbung genutzt werden, indem Politiker auf eigene Wahlkampfevents hinweisen. Zweitens werden politische Parolen und Wahlaufforderungen veröffentlicht, die die Follower beziehungsweise potenziellen Wähler mit mobilisierenden Kommentaren auf die anstehende Landtagswahl einstimmen und von der Stimmabgabe überzeugen möchten. Negativbewertungen des politischen Gegners finden Thimm et al. ebenfalls. Viertens wird Twitter auch als interner Kommunikationskanal unterschiedlichster Organisationen genutzt – als Paradebeispiel identifizieren die Wissenschaftler dabei die Aktivitäten der Piratenpartei (vgl. Thimm et al. 2012a). Alles in allem wird kurz und prägnant resümiert, dass es „einerseits um die Profilierung eigener Positionen, andererseits um die Abwertung des politischen Gegners“ geht (Thimm et al. 2012a).
Wie sich Bundespolitiker im Wahlkampf auf Twitter verhalten, haben auch Dusch et al. in Bezug auf den Bundestagswahlkampf 2013 untersucht. In ihrer Stichprobe mit mehreren Bundestagsabgeordneten jeder Fraktion wurde das Twitter-Analyse-Tool Twitonomy genutzt, um über die Programmierschnittstelle quantitative Daten zu sammeln. Die Ergebnisse zeichnen ein ambivalentes Bild der Nutzung Twitters: Zum einen instrumentalisieren die Politiker den Kurznachrichtendienst effektiv zur Verbreitung von Veranstaltungshinweisen. Darüber hinaus werden vor allem Wahlkampfinhalte verbreitet. Im Vergleich zum Twitter-Wahlkampf in den USA stellt die Studie fest, dass sich beide Nutzungsarten elementar voneinander unterscheiden: „Während in den USA von einem Musterbeispiel für Internetkampagnen gesprochen wird, ist eine einheitliche Kampagnenführung für die politischen Akteure in Deutschland nicht zu beobachten“ (Dusch et al. 2015: 292). Da es hierzulande vor allem Akteure wie Journalisten und andere Politiker seien, die Twitter intensiv nutzen, ist eine aktive und direkte Kommunikation zwischen Politiker und potenziellem Wähler nicht erkennbar (vgl. ebd.).
Wie Medienorganisationen, Bürger und vor allem Politiker im Bundestagswahlkampf 2013 das soziale Netzwerk Twitter nutzten, haben Bader et al. in ihrer im Jahr 2015 veröffentlichten Studie dargestellt. Durch eine quantitative Inhaltsanalyse der Tweets unterschiedlicher Akteursgruppen wurde festgestellt, dass interaktive Aktivitäten vor allem innerhalb und weniger zwischen den Gruppen zu lokalisieren sind. Politiker, Medien und Bürger nutzen den Kurznachrichtendienst demnach eher für einen Austausch unter sich. Mit Blick auf die politischen Akteure ist zu erkennen, dass diese Twitter zuallererst zur positiven Selbstdarstellung verwenden, da „Politiker im Bundestagswahlkampf 2013 auf Twitter meist sich selbst oder ihre eigene Partei bewertet haben“ (Bader et al. 2015: 15). Auffällig ist, dass Politiker von Parteien des linken Spektrums besser bewertet wurden als konservative. Diese Fokussierung auf den aktiven Wahlkampf bei Twitter lässt sich auch durch eine Vielzahl von emotionalen Apellen oder explizite Aussagen über politische Positionen zu gegenwärtigen Diskussionsthemen nachweisen (vgl. ebd).
In ihrem Abschlussbericht hat ein Team der Universität St. Gallen die Motive und das Nutzungsverhalten von Landes- und Bundespolitikern im Wahlkampf untersucht. Dazu wurden die Mitglieder des Deutschen Bundestages sowie die Abgeordneten der 16 deutschen Länderparlamente in einer...