Bezugsmuster von HipHop-Kultur – Interne Dynamik und Kontext
1. Zur Verwendung des Kulturbegriffs
»Die Klagen über das unbestimmte Feld ›Kultur‹ sind so weitgespannt und einschlägig wie die Versuche seiner Systematisierung schwierig« (Steenblock 2004: 10). Um den folgenden Ausführungen von HipHop-Kultur bezüglich ihrer internen Dynamik wie auch im Hinblick auf ihren gesellschaftlichen Kontext ein begriffliches Fundament zu schaffen, dient der folgende Abschnitt zur Formulierung eines begrifflichen Grundverständnisses von Popkultur im Allgemeinen und HipHop-Kultur als spezifischer Ausprägung im Besonderen. So fokussiert die im Folgenden zu entwickelnde Perspektive nicht etwa die spezifischen substanziellen Ausprägungen kultureller Formen, sondern die grundlegenden Wirkungsmechanismen, die in einem bestimmten raumzeitlichen Zusammenhang konstitutiv für die Manifestation24 bestimmter kultureller Erscheinungen und Entwicklungen sind. Der in diesem Rahmen verwandte Begriff von Kultur soll unter Hinzuziehung ausgewählter (kultur-)soziologischer Positionen formuliert werden:
Im Harper Collins Dictionary of Sociology wird Kultur definiert als »the human creation and use of symbols and artefacts. Culture may be taken as constituting the way of life of an entire society, and this will include codes of manners, dress, language, rituals, norms of behaviour, and systems of believe.” (Jary/Jary 1991: 101). Sie entsteht und wirkt demnach als handlungsrelevantes soziales Erbe, bestehend aus Symbolen (z.B. Normen, Sprache, Wissen) und Artefakten (z.B. Technik, Kleidung).25 Im Anschluss an Pries (2008) soll diesen beiden Komponenten mit den sozialen Praktiken ein weiterer Aspekt hinzugefügt werden. Hierunter versteht Pries die »tätige Auseinandersetzung der Menschen mit anderen Menschen, mit der Natur und reflektierend mit sich selbst«.26 Nach Tenbruck (1996: 107) wirkt Kultur für die Akteure außerdem als Kontinuum handlungsstrukturierender Deutungsmuster: »Sie umfasst dann jene Überzeugungen, Verständnisse, Weltbilder, Ideen und Ideologien, die das soziale Handeln beeinflussen, weil sie entweder aktiv geteilt oder passiv respektiert werden.« Wie schon Cassierer (1990: 49) bemerkt, sind es genau diese sinnstiftenden Bezugsmomente, die der Kulturanalyse für das Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse eine so zentrale Bedeutung einräumen: »Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.« Nimmt man die sich hieraus ableitende Aufgabenstellung ernst, ist Kultursoziologie – mit Reckwitz (2010: 180) formuliert – »keine bloße Bindestrichsoziologie […], die sich mit einer abgekapselten Sphäre der Kultur im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Sphären beschäftigt, sondern eine Querschnittsperspektive, die alles Soziale und Gesellschaftliche als Kulturelles, das heißt als Sinnhaftes, als abhängig von kontingenten kulturellen Codes und Sinnhorizonten wahrnimmt.« Grundannahme einer kultursoziologischen Untersuchung im hier explizierten Sinne ist es nun, dass es die sinnstiftende Kraft symbolischer Ordnungen ist, die es Individuen erlaubt, gesellschaftliche Strukturen in ihrer Prägekraft wahrzunehmen. Mit Soeffner (2004: 72) bieten solche Ordnungssysteme für Akteure Verhaltensicherheit »allerdings im befriedenden ebenso wie im destruktiven Sinne und im Modus suggerierter Unmittelbarkeit. Sie überhöhen das alltägliche Sinnverständnis und verleihen ihm hintergründige Bedeutsamkeit. Sie sind tragende Elemente einer irreflexiven, oft zweifelhaften Moral, die, sofern sie sich vollständig von der reflexiven Vernunft ablöst, ihre eigene unkontrollierbare Legitimation konstituiert.« Vergegenwärtigt man sich nun den sinnstiftenden Charakter, den symbolische Formen innerhalb der und für die Gesellschaft besitzen, wird auch deren unmittelbar politische Bedeutung erkennbar: Soziale Ordnung ruht demnach »auf elementareren Bedingungen als bloß auf der machtbewehrten Durchsetzung oder rationalen Begründung von Normen Sie kann nur dann und in dem Maße entstehen, in dem es gelingt, über fraglos geltende Voraussetzungen eine sinnhafte Verbindung zwischen Handlungen glaubhaft herzustellen« (Giesen 2004: 73f).
Einen wegweisenden Vorschlag zur Systematisierung einer dem hier dargelegten Kulturverständnis entsprechenden Gesellschaftsanalyse haben unlängst auch Nina Degele und Gabriele Winker (2008, 2009) unterbreitet, die symbolische Repräsentationen als sinnhaft zwischen Struktur- und Handlungsebene vermittelnde Instanzen charakterisieren. So erfahren etwa ArbeitnehmerInnen wirtschaftliche Ordnung nicht etwa grenznutzentheoretisch oder als abstraktes Akkumulationsprinzip sondern im Wege kultureller Sinnbilder. Während sich der Anreiz, wenig zu arbeiten, aus den positiv konnotierten Möglichkeiten ergibt, die sich Akteuren zur Gestaltung ihrer freien Zeit bieten, vermitteln symbolisch vermittelte Institutionen wie der Titel des ›Mitarbeiter des Monats‹ gegenteilige Signale. Die Voraussetzungen und Implikationen von Arbeitsorganisation unter kapitalistischen (oder auch subsistenz- oder planwirtschaftlichen, etc.) Bedingungen werden für Einzelne erfahrbar über die symbolischen Formen ihrer kulturellen Repräsentation.27 Vor dem Hintergrund menschlicher Handlungskapazitäten und Interpretationsspielräume (Joas 1994) lässt sich darüber hinaus schließen, dass kulturelle Repräsentationen wie Diskurse und symbolische Formen daher nicht als objektive ›Dinge an sich‹ existieren, sondern in ihrer Wirkungsweise vielmehr davon abhängig sind, wie Menschen mit ihnen umgehen (vgl. Krotz 2008: 131). Entsprechend erkennen Soeffner und Raab (2004: 564) mit ihrer Betonung des »Doppelcharakters« kultureller Formen, die sich zwischen tradierter Fixierung auf der einen und einer prinzipiellen Anpassungs- und Entwicklungsoffenheit auf der anderen Seite auszeichnen, an, dass die sinnstiftende Kraft kultureller Formen immer auch an die Interpretationsleistung der wahrnehmenden Akteure gebunden ist. Der sich wiederum hieraus ergebende ›umkämpfte Charakter‹ gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion lässt sich schließlich im Anschluss an Andreas Wimmer (1996) konstatieren. Dieser versteht Kultur als »einen offenen und instabilen Prozess des Aushandelns von Bedeutungen […], der bei einer Kompromiss-bildung zur Abschließung sozialer Gruppen führt« (1996: 407).
Wie aktuelle Debatten wie der sog. Kopftuchstreit, die Kontroverse um homosexuelle Lebensgemeinschaften oder auch die Frage nach der kulturellen oder naturgesetzlichen Herkunft des zeitgenössischen Klimawandels zeigen, lassen sich Aushandlungen innerhalb des Feldes der Kultur demnach auch als repräsentationspolitische Kämpfe um Deutungsmacht verstehen. Bevor dieser Sichtweise weiter unten auf die Frage nach der Bedeutung von Gangstarapimages im Rahmen politischer Aushandlungen in der deutschen Gesellschaft nachgegangen werden kann, wird die (Re-)Produktionsweise solcher Bedeutungsweise im Feld der Populärkultur im folgenden Abschnitt zu diskutieren sein.
2. Spezifikation: Was ist Popkultur?
Während ihre sinnstiftende Dimension als generelles Charakteristikum von Kultur angesehen werden kann, welches in Gehaltsabrechnungen, Putzmittelwerbung oder der Weihnachtsgans zu Tage tritt, indem nicht nur spezifische Werte symbolisiert, sondern auch traditionelle Rituale abgesichert werden, kann das Feld der sog. populären Kultur (Hecken 2006) als in dieser Hinsicht – wenn auch nicht klar abgrenzbare – so insgesamt doch außerordentlich bedeutsame Subsphäre gesellschaftlicher Bildwelten angesehen werden. Während erste Assoziationen mit dem Begriff Popkultur zwar auf den (mehr oder weniger) abwechslungsreichen Kosmos der unterhaltungsindustriellen Symbolproduktion im sog. ›Show-Business‹ verweisen mögen, sind sich Pop-Theoretiker (überblickshaft siehe Hecken 2009) darüber einig, dass ›das Populäre‹ an Stelle eines Abgrenzbaren gesellschaftlichen Bereichs stattdessen eine spezifische Konnotation kultureller Phänomene (i.e. Symbole, Artefakte, Praktiken) bezeichnet.
Begriffsgeschichtlich liegt der Ursprung von Pop in den 1950er Jahren. So verortet Büsser seine Entstehung im Zusammenhang mit der bildenden Kunst, wo er verwendet wurde, um ein Genre mit dem Namen Pop-Art zu bezeichnen, das sich von der sogenannten abstrakten ...